Ausbeutung - made in Germany. Frank Mehler
Dann geht er schnell in Richtung Toilette.
Und nun? frage ich den, der nicht da ist. Ich schnappe mir einen Besen und kehre solange um die Presse herum. Etwas später taucht endlich der Einrichter auf.
»Dein Kollege schon da?«, fragt er.
»Ja, er ist auf dem Klo«, sage ich.
»Gut. Ich werde die Presse jetzt für das Tiefziehen umbauen. Die Palette mit den Blechen steht hier aber im Weg, die muss am besten dort rüber.«
Ich schnappe mir den nächsten Hubwagen und er holt sich einen elektrisch betriebenen Hubwagen (die so genannte Ameise). Er nimmt verschiedene Einstellungen an der Presse vor, während ich ihm über die Schulter schaue. Ich schaue zur Uhr, sehe andere kommen und die Frühschicht bereits gehen, und dann sehe ich den Kollegen wiederkommen.
»Na, fit und munter heute?«, fragt der Einrichter ihn, obwohl es inzwischen fast 1400 Uhr ist.
»Geht so«, lautet die Antwort des Kollegen. Jedoch sagt sein Gesicht so ziemlich alles aus.
»Ach, übrigens, du hast jetzt Feierabend«, erinnert der Einrichter mich.
»Okay. Dann bis morgen«, sage ich und schnappe mir Rucksack und Jacke.
Obwohl gleichzeitig sehr viele aus der Frühschicht gehen, gehe ich gewissermaßen allein. Ich drängle mich den anderen nicht auf, und sie wissen vermutlich, dass ich einer von den Neuen bin, und trotzdem bin ich ganz guter Dinge. Diese Schicht war immerhin besser als die letzte Schicht, denke ich.
Das A und O des Beschneidens: Ich lege das Werkstück präzise ein und drücke: Wumm! macht die Presse. Ich greife das Tablett und löse es vom Werkzeug, drehe das Tablett und setze dann neu an. Wumm! macht wieder die Presse. Ich kann das beschnittene Tablett auf den Tisch zu den anderen legen. Dort staple ich exakt in 10er Türmen, und wenn ich dann fünfzig zusammen habe, staple ich sie alle in die große Gitterbox. Ich soll immer gut aufpassen, dass das Tablett korrekt auf der Form des Werkzeuges sitzt. Die überstehenden Ränder, die ich abschneide, fallen dabei direkt unter den Bodenaufbau vom Werkzeug. Ich muss sie spätestens nach siebzig Beschneidungen entsorgen. Das heißt im eigentlichen Sinne, das hochwertige Material in die entsprechende Wertstofftonne werfen. Es wird später für neue Bleche recycelt. Dabei trage ich dicke Handschuhe, denn die Tablettränder sind nach dem Beschneiden teilweise sehr scharfkantig. Doch im Großen und Ganzen komme ich gut voran. Ich hatte es mir anfangs schlimmer vorgestellt. Das einzige Problem – egal ob mit Gehörschutz oder Ohrstöpsel – ist, dass es ständig laut wummert.
Tack! – tack! macht die Finn-Power-Stanzmaschine gleich um die Ecke. Tack, tack – tack, tack, tack! Ich denke dabei immer an Finnland, wenn ich den Namen auf der Maschine lese. Eine Frau arbeitet daran – eine etwas ältere Dame mit Brille. Ich kenne sie natürlich nicht. Ansonsten bin ich in meiner Ecke überwiegend für mich allein. Ich, der Auftrag und die riesige Presse. Von Zeit zu Zeit wird neues Material an Blechen geliefert. Manchmal laufen irgendwelche Leute vorbei, manchmal auch, den Äußerlichkeiten nach, ein Chef. Ich bin ganz gut im Rennen, denke ich.
Nun ist es bereits fünf vor zwei und es sieht fast so aus, als ob mich heute keiner ablösen will. Doch dann kommt der Einrichter schnellen Schrittes dahergelaufen.
»Sag mal, dein Kollege hat wohl heute keine Lust, oder wie?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Eigentlich müsste er schon längst hier sein …« Sein Blick wandert zu den gestapelten Blechen. »Na ja, wie weit bist du so?«
»Ich bin so weit durch.«
»Gut. Dann ist jetzt Längsseiten beschneiden dran, zumindest theoretisch.« Er geht kurz nach hinten und spricht mit jemand anderem. Wenig später kommt er mit dem Hubwagen zurück und schaut zur Uhr. »Mist!«, sagt er. »Wenn du jetzt keine Leihkraft wärst, könntest du heute auch eine Doppelschicht fahren. Aber du darfst ja nur höchstens zehn Stunden am Stück arbeiten.« Er fährt die Presse hoch und löst das Werkzeug vom Werkzeugtisch. »Sag mal, hast du vielleicht eine Telefonnummer von deinem Kumpel?«
»Seine Nummer? Ich kenne den doch gar nicht privat«, sage ich erstaunt, warum er mich das fragt.
»Na, ich dachte immer ihr seid Kollegen und kommt von derselben Firma. Zumindest steht das so in der Personalkartei für Leihkräfte geschrieben.«
»Das mag ja sein. Ich kenne den trotzdem nicht, und auch bei früheren Einsätzen habe ich den noch nie gesehen.«
Verständnislos schüttelt er den Kopf, dann bockt er das Werkzeug auf den Hubwagen.
Dass er ein Problem hat, ist mir klar. Nur kann ich ihm dabei nicht helfen. Ich darf ihm nicht einmal laut Leihvertrag und Arbeitszeitgesetz helfen.
»Willst du nicht Feierabend machen?«, fragt er und schaut wieder zur Uhr.
»Oh ja, das hätte ich fast vergessen.«
Ich greife nach Rucksack und Jacke und denke mir meinen Teil.
Die Arbeit ist liegen geblieben: Ich lege den Hauptschalter um, schalte das Arbeitslicht ein, das Licht über der Werkbank und greife mir gleich die nebenstehende Leiter. Ich muss den Wasserhahn oben an der Wand aufdrehen. Den darf ich niemals vergessen, wurde mir eingeschärft, denn es geht hier um eine wassergekühlte Hydraulik-Presse, und wenn die kein Wasserzulauf bekommt, dann läuft sie heiß. Die Wasseruhr dreht sich und ich kann sogar ein leichtes Rauschen in der Leitung vernehmen. Ich steige wieder ab und erst jetzt schalte ich an der Vorderfront die Presse ein.
Arbeitstechnisch ist nichts weiter passiert. Alles ist so liegen geblieben, wie ich gestern Nachmittag gegangen bin. Lediglich der Einrichter hatte noch das neue Werkzeug mittig auf dem Arbeitstisch installiert und fest verankert. Längsseiten beschneiden scheint an der Reihe zu sein, weshalb ich mir eine leere Gitterbox rüberziehe. Ich sage mir: Im Grunde müssten es fast dieselben Arbeitsschritte wie gestern sein, nur eben, dass ich das Werkstück zum korrekten Beschneiden dieses Mal quer einsetzen muss.
Den Ablagetisch platziere ich gleich neben der Presse und hole mir noch einige Baumwoll-Lappen, da etliche Tabletts ziemlich ölig aussehen. Beim Tiefziehen wird stets Spezialöl verwendet, damit das Blech unter dem Stempeldruck nicht reißt – das Metall besser in die Ecken (im Fachjargon) fließen kann. Einige Tabletts reißen dennoch. Es zeigt, dass eben keine Maschine 100%ig perfekt arbeiten kann.
Nach zirka 30 Tabletts taucht plötzlich der Einrichter auf. »Ah, du bist ja schon dabei!«, sagt er erfreut. »Hast gut mitgedacht. Dein Kollege kommt ja nun nicht mehr …«
»Ach so!«, sage ich erstaunt. »Ich denke, der kommt aus der Metallbranche …?«
»Weißt du, manche erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Wie auch immer, eure Firma will uns jetzt einen Ersatzmann schicken. Du machst erst mal den Auftrag weiter, und dann werden wir sehen. Hast du auch oben das Wasser angedreht?«
»Ja, habe ich.«
»Okay. Dann bis später …«
Ich bin wieder allein – ich mit meiner Maschine. Irgendwie ist im Zuschnitt so ziemlich jeder separat mit seinem Arbeitsgerät beschäftigt. Man ist akustisch und gedanklich ohnehin isoliert – im Grunde kein Wunder bei der Lautstärke.
Das mit der Tablettfertigung ist eine handfeste und vermutlich auch lukrative Sache – ich habe gehört, die Tabletts wären für die Medizinbranche bestimmt. Benutzte Skalpelle, Scheren und medizinische Klammern werden darauf gelegt, um sie dann später im Sterilisationsofen keimfrei zu neutralisieren. Und jetzt erinnere ich mich wieder, ich habe solche Tabletts im Krankenhaus schon einmal gesehen.
So gegen Vormittag kommt der Produktionsleiter schnellen Schrittes auf mich zu und tippt sich dabei ans Ohr – das Kommunikationszeichen.
Ich nehme die Ohrstöpsel raus und bin voll auf Empfang.
Er schreit dennoch: »Schon mitgekriegt? Eure Zeitkarten hängen drüben gleich