Schwarzer Kokon. Matthias Kluger
Haskins war der Erste, der die Situation erfasste. Keine Ahnung, was genau geschehen war. Wurde sie von Mr. Baine bestraft, gezüchtigt? In diesem Moment war dies auch egal. Die Sklavin hatte das Herrenhaus unerlaubt verlassen.
Zola zitterte, hob ihren Rock und deutete ungeniert auf ihre Scham. Ihre Geste war derart schockierend, dass Tumelo Übelkeit beschlich, als er begriff, was Zola zugestoßen war. In ihm entbrannte der Hass des betrogenen Liebhabers, der er nie war, aber gerne gewesen wäre.
»Mr. Haskins, was wir tun? Zola sonst sterben«, entfuhr es Tumelo aufgeregt.
Zola, trotz ihrer Qualen bewundernswert gefasst, brach nun in Tränen aus. Keine Tränen der Angst oder gar Scham, sondern funkensprühender Hass, entfesselte Wut. Tief, ihren glasigen Blick in die Augen von Sam Haskins bohrend, zischte Zola: »Ich werde töten Mr. Baine.«
Sam wusste, dass es nie so weit kommen würde, wenn sie hier in der Hütte blieben. »Packt eure Sachen, wir müssen raus hier, bevor Mr. Baine kommt.«
Da sie nichts hatten, was man packen konnte, halfen sie Zola hoch und von Tumelo gestützt standen sie am Ausgang der Hütte.
Es schien zu spät.
In einer Entfernung von etwa achtzig Metern sah Sam drei Personen vom Herrenhaus her kommen. »Schnell, da sind sie.«
Sam deutete in Richtung des angrenzenden Waldes, in dessen Areal auch der ›Schlund‹ seinen Platz hatte. Das angrenzende Buschwerk würde ihnen erst einmal Deckung geben, denn der direkte Weg zum Ashley River bot ihnen auf ganzer Strecke keinen Sichtschutz.
In der Hoffnung, nicht von den drei näher Rückenden entdeckt zu werden, huschten sie blitzschnell und geduckt hinter Abas Hütte. Von dort aus ging es, die weiteren eng stehenden Hütten als Deckung, circa hundert Meter weiter, bis sie den dicht bewucherten Rand des Areals erreichten. Allen war bewusst, dass sie als Fliehende und Fluchthelfer in Lebensgefahr waren. Nur eine Minute später und sie wären entdeckt worden.
Hinter dem Gebüsch sackte Zola erneut in sich zusammen. Zu mächtig waren die Ereignisse der letzten Stunden und sie fühlte sich elend.
Sam und Tumelo schoben Zweige eines Steppenläuferstrauchs zur Seite und beobachteten, wie Mr. Baine, von zwei Negern eskortiert, sowohl vor als auch in der Hütte suchte, in der sie selbst noch vor wenigen Minuten standen. Mr. Baine blickte um sich. Schon dachte Sam, dass Baines Blick in Richtung der Sträucher verweilte.
Nachdem einer der Farbigen im Inneren der Hütte verschwunden war, um sogleich wieder herauszukommen, machten sich die drei zu Sams Erleichterung auf den Weg zu den Baumwollfeldern.
»Sie werden Aba auf den Feldern suchen«, sagte Sam. »Wir haben nicht viel Zeit. Schnell, wir müssen zum Fluss.«
Der Ashley River stellte die einzige Möglichkeit dar, zu entkommen, jedoch auch das größte Hindernis. Das gesamte Ufergelände war gut bewacht, um diejenigen abzuschrecken, die eine Flucht aus der Leibeigenschaft planten. Die Wachen waren mit Gewehren bewaffnet und Sam wusste, dass sie Mr. Baine hörig waren und seinen Schießbefehl ohne Rücksicht ausführen würden. Sam fasste unter Zolas Beine und Schulter und führte die Gruppe durch das Dickicht. Er stolperte mehrfach, da das Wurzelwerk den Boden uneben machte. Schweiß lief ihm in die Augen.
Nach einer guten Stunde, unterbrochen durch eine kurze Pause, in der Tumelo Zola übernahm, hatten sie es geschafft. Sie spürten die höhere Luftfeuchtigkeit und konnten durch das Gestrüpp hindurch das Ufer erkennen. Sam schlich voraus, dann duckte er sich ruckartig. Die anderen taten es ihm gleich. Vor ihnen, etwa fünfzig Schritte entfernt, patrouillierte eine Wache, ihnen den Rücken zugekehrt.
Sam dachte nach. Was, wenn er zum Schwarzen gehen und ihn durch ein Gespräch ablenken würde? Er hatte schon des Öfteren mit den Wachen geplaudert, wenn er an einem freien Sonntag mit seinem ›Kahn‹ auf den Fluss hinausfuhr, um Barsche zu angeln. Sicher, er war bekannt unter ihnen, doch würden sie misstrauisch werden, da es in der Woche war? Früher oder später hätte Mr. Baine davon erfahren und eins und eins zusammengezählt. Nein, sie mussten sich weiter rechts der Felder halten, um eine Lücke zwischen den Spähern zu finden.
Ihm kam seine kleine Barke in den Sinn. Sie würde sich für eine Flucht eignen, doch lag diese genau in entgegengesetzter Richtung, fest vertäut, mit Gestrüpp verdeckt am Ufer.
Leise schlich die kleine Gruppe flussaufwärts durch das Geäst, bis Sam den nächsten, ebenfalls bewaffneten Posten erspähte. Beide Wachen waren keine zweihundert Meter voneinander postiert, was es unmöglich machte, unentdeckt zum Ufer zu gelangen. Nur im Schutz der Dunkelheit würde das beinah aussichtslose Unterfangen vielleicht doch gelingen.
Sam wandte sich an Tumelo: »Wir müssen zurück und die Nacht abwarten. Mr. Baine darf nicht erfahren, dass wir hier waren.« Und an Aba und Zola gerichtet: »Geht weiter zurück ins Dickicht, ruht euch aus und kommt, wenn es dunkel wird. Tumelo und ich werden auch da sein. Versteckt euch so lange im Buschwerk.«
Dann rannten Sam und Tumelo los. Sie mussten wieder zur Stelle sein, bevor Baine zum Herrenhaus zurückkam. Während sie hetzten, drehten sich Sams Gedanken um Mr. Baine. Was, wenn er einen Suchtrupp nach den beiden zusammenstellt? Die Chancen von Aba und Zola waren minimal.
Das Imperium
Washington D. C.
Fredrik Haskins, alleiniger Inhaber der Haskins Warenhaus Corporation, deren imposante Kaufhallen in allen großen Städten der USA zu finden sind. Insgesamt arbeiten mehr als 12.000 Mitarbeiter in über 200 Filialen für die Haskins Warenhaus Corporation. Während die Verkaufsstätten in den beliebtesten und somit teuersten Einkaufsstraßen sehr gut platziert sind, befindet sich die Zentrale, mit riesigen Lagerhallen, außerhalb von Washington im circa dreißig Meilen entfernten Maryland.
Jedes Kind kennt den edlen Schriftzug Haskins Corp. in blauschwarz geschwungener Schrift auf gelbem Hintergrund. Alle Warenhäuser tragen die gleiche Handschrift und sind allesamt gleich konzipiert. Über mehrere Stockwerke verteilt werden Kleidung, Haushaltswaren sowie Lebensmittel angeboten. Sowohl der Mann als auch die handwerklich begabte Frau findet über mehrere Etagen hinweg einfach alles, was das Herz von ›Bob dem Baumeister‹ begehrt. Von der kleinsten Schraube bis hin zu großen Werkzeugmaschinen. Handel mit Baumaterial und Werkzeugen ist der historische Grundstock des über Generationen hinweg entstandenen Firmenimperiums.
Im obersten Geschoss hat man den Eindruck, unter freiem Himmel einzukaufen. Alle Außenwände als auch Teile des Daches sind verglast. Riesige Aufzüge mit getönten Scheiben transportieren einen Kunden schnell bis in die oberste Etage, will man es vermeiden, die oft mit Menschen dicht gedrängten Rolltreppen zu benutzen. Im Dachgeschoss angekommen, steht man inmitten der Lebensmittel- und Feinkostabteilung. Separate Feinkosttheken laden ein, köstlich zubereitete Speisen zu genießen.
Das Konzept – welches Fredriks erste Amtshandlung nach Übernahme der Firmenleitung war –, einzukaufen und gleichzeitig die Mittagspause bei einem Glas Wein gemütlich plaudernd verbringen zu können, war bestens aufgegangen.
Bereits mit 29 Jahren übernahm Fredrik das Firmenimperium von seinem Vater Valentin Haskins. Fredrik hatte ebenfalls, wie derzeit seine beiden Söhne Stephen und Marc, an der Georgetown University studiert, um als einer der Besten seines Jahrgangs abzuschließen. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Europa, wovon er über ein Jahr in Deutschland verbrachte, kam er früher als geplant zurück. Valentin Haskins erlitt zu dieser Zeit, im Alter von erst 72 Jahren, einen Schlaganfall und war seit diesem Schicksalsschlag halbseitig gelähmt.
Schnell verschaffte sich Fredrik durch seine direkte, ebenso bestimmende Art Respekt bei seinen führenden Angestellten. Eine einzige Kündigung war notwendig, um den Rest der Mannschaft in Hab-Acht-Stellung zu bringen. Sein sehr eloquentes wie auch älter wirkendes Auftreten, gepaart mit erfolgreichen Entscheidungen, war ausschlaggebend, rasch als angesehener Nachfolger seines Vaters akzeptiert zu werden.
Die Art zu reden, seine ganze Erscheinung, darüber hinaus die Mitgliedschaft