Schwarzer Kokon. Matthias Kluger
»Ich habe den Fluss abgesucht«, schrie Sam und sein Ton wurde fordernd, während er den Kahn zu einem Drittel auf Sand setzte. »Ich bin mir sicher, dort hinten am Ufer Schatten gesehen zu haben.« Er deutete flussabwärts. »Es waren zwei Gestalten, die ohne Fackeln unterwegs waren. Sie können nicht weit sein! Ihr müsst dort suchen.«
Die Wachen sahen sich etwas unsicher an, dennoch folgten sie seiner Anweisung. Immerhin kam sie von Mr. Haskins, einem Weißen.
Sie waren keine zwanzig Meter entfernt flussabwärts, als Tumelo, der aus sicherem Versteck heraus die Szene beobachtet hatte, gefolgt von den Fliehenden angeschlichen kam. Sam rief laut durch den peitschenden Regen, an Zola und Aba gewandt: »Rudert so weit, wie es geht, ans andere Ufer und lasst euch dann flussabwärts treiben. Jetzt seid ihr auf euch gestellt.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, geschah es! In dem Moment, als Zola ins Boot stieg, traten zwei Wachen aus dem Unterholz und eilten auf die Flüchtigen zu. Tumelo warf geistesgegenwärtig den Proviantbeutel zu Zola ins Boot, stieß es ins Wasser, drehte sich dann blitzschnell zu Sam und schlug unvermittelt mit seiner Faust zu. Von der Wucht des überraschenden Schlages getroffen, fiel Sam in den matschigen Ufersand. Aba verpasste die Chance, ins Boot zu springen, und ging mit erhobenen Fäusten schreiend auf den vermeintlichen Verräter Tumelo los. Dieser packte Aba, riss sie nieder, warf sich auf sie und flüsterte in ihr Ohr: »Es tut mir leid. Vertraue mir.«
Dann schrie er laut: »Ich habe sie, ich habe sie!«
Abas Verhaftung
Schüsse fielen.
Die beiden Wachen feuerten in Richtung des Bootes. Sam rappelte sich auf und warf sich dazwischen: »Hört auf zu schießen, ihr Idioten! Glaubt ihr, da irgendjemanden zu treffen? Da ist niemand im Boot! Wir haben sie!« Hektisch deutete er auf Aba, die noch immer unter Tumelo lag.
Durch die Schüsse alarmiert, hetzten umgehend vier weitere Wachen auf die Gruppe zu. Tumelo blieb regungslos liegen, während er leise zu weinen begann.
Trotz des Fausthiebes von Tumelo, der noch an seinem Kiefer pochte, behielt Sam einen klaren Kopf. »Packt das Miststück, das mich niedergeschlagen hat, und bringt es in den ›Schlund‹.«
Die Wachen staunten sichtlich verwirrt. Einer von ihnen ergriff als Erster das Wort: »Mr. Baine haben befohlen zu erschießen.«
»Und ich sage euch, bringt sie in den ›Schlund‹, die anderen suchen weiter. Nur so haben wir eine Chance, die Zweite zu finden! Solange die Mutter noch lebt, wird die Tochter nicht abhauen. Los jetzt!«
Sam war so bestimmend, dass keiner es wagte, ihm zu widersprechen. Zwei der Wächter zerrten Aba unsanft in die Höhe, verschwanden mit ihr in der Dunkelheit, während Sam und Tumelo Abas Silhouette nachsahen, die sich stolpernd im Vorhang des Regens auflöste. Dann wandte sich der Blick beider Männer aufs Wasser. Vom Boot war nichts mehr zu sehen.
Der Fluch
Eine Stunde später saß Aba durchnässt und schlammbedeckt, scheinbar hilflos, im ›Schlund‹. Ein schweres Vorhängeschloss an der Türe verhinderte jeden weiteren Fluchtversuch. Sie hatte ihre Tochter verloren! Wieder spürte sie den Zorn in sich aufsteigen. Dunkles Grollen und stärker werdende Donnerschläge hüllten sie ein. Regen prasselte ihr ins Gesicht, als sie sich langsam erhob. Wie bei einem Hurrikan, den ›Schlund‹ in dessen Auge, wirbelten fluoreszierende Wellen um den Käfig. Ohrenbetäubendes Tosen umgab Aba. Wie ein Wesen der Unterwelt, beide vom Morast bedeckten Arme in den Himmel gestreckt, schrie sie aus tiefster Seele heraus: »Zooooolaaaaa.«
Der Schrei Abas explodierte in den Nachthimmel, füllte die pechschwarzen Gewitterwolken, begleitet von einem Feuerwerk an Blitzen, die vom Himmel gespien kamen. »Zooooolaaaaa« erzitterte über die gesamte vierhundert Hektar große Plantage und hallte wie das Orgelspiel in einer Kathedrale.
Abas Augen begannen grün zu glühen und sie durchschritt wie ein Wesen aus einem anderen Universum die Gitterstäbe ihres Gefängnisses, so als wären diese nicht existent. Wie in Trance bewegte sie sich an verängstigt zurückweichenden Wachen vorbei, die es nicht wagten, diesem vom Schlamm bedeckten Wesen mit seinen glühenden grünen Augen entgegenzutreten.
Baine stand indes noch immer auf der Veranda und wartete auf Nachricht der erhofften Erschießung von Zola und deren Mutter. Ein unnatürlich hallender Schrei durchdrang das Regenmeer, während der Name Zolas gleich einem Donner vom Himmel vibrierte, begleitet von unzähligen Blitzen, die sekundenlang den Nachthimmel erhellten und ein gespenstisches Spiel aus Licht und Schatten erzeugten.
Über seinen Rücken lief ein eiskalter Schauer, derweil Zolas Name sich in seine Brust brannte. Etwas Unnatürliches war im Gange und eine Welle der Furcht durchflutete seinen Körper. Schaudernd griff Baine mit eiskalt gewordenen Fingern nach seiner Steinschlossbüchse, die neben ihm an einem Pfosten lehnte. Der sintflutartige Regen verhinderte wie ein Vorhang zu erkennen, was unterhalb der Veranda vor sich ging. Angsterfüllt, die Waffe im Anschlag, blickte er in die Nacht und verspürte in seinem tiefsten Inneren, dass aus dem Jäger der Gejagte wurde.
Sam und Tumelo waren gerade an den Stallungen angekommen, als sie der Schrei durch die Nacht überraschte. Sie sahen einander kurz an, dann rannten sie weiter zum Herrenhaus.
Veronika stand am Fenster ihres Schlafzimmers. Jos lag schlafend in seiner Wiege. Die leblosen Fensterscheiben vibrierten, als Zolas Name wie Donner gegen sie hallten. Veronika konnte nichts erkennen, ahnte jedoch, dass unterhalb auf der Veranda Clexton stand.
Wieder zuckten grelle Blitze am Himmel, verwandelten die stürmische Landschaft in ein riesiges, bewegtes Schattentheater. Baine konnte durch den Sturm hindurch weder hören noch genau sehen, was außerhalb der Veranda vor sich ging. Er spürte die drohende Gefahr, die im Anzug war, als er glaubte, etwas zu erkennen. Aus dem aufgeweichten Boden erhob sich eine dunkle Erscheinung. Baine erblickte vage Umrisse einer gebeugten Gestalt, langsamen Schrittes auf die Veranda zukommend.
Als ob himmlische Mächte ihren Zorn bekundeten, erhellte sich der Himmel unheilvoll durch die Entladung von Billionen von Watt. Wie riesige Blutadern durchzog eine Welle von Blitzen sekundenlang den nächtlichen Himmel, gefolgt von krachenden Donnerschlägen. Was folgte, war eisige Dunkelheit. Einzig das Prasseln des Regens war zu hören. Clexton verharrte, ahnend, dass direkt vor ihm jemand – etwas stand. Äußerlich zu Stein erstarrt, ließ sein Herzschlag die Adern pulsieren, roter Lebenssaft pochte über den Hals hinauf in seine Ohren.
Die Stimme, die jetzt zu ihm sprach, ließ augenblicklich sein Blut gefrieren. Es war nicht die Stimme eines Menschen, vielmehr die einer Gottheit, die ihre Gebote ins Land zu senden schien. Dunkel, hallend, mächtig.
»Vervloek jy en jou nageslag!« –›Verflucht bist du und deine Nachkommen!‹
»Jou kuit geslagte ons lyding weet!« –›Generationen deiner Brut sollen unser Leid erfahren!‹
Die Worte drangen bis in Baines Gedärme vor und außerstande, sich zu bewegen, konnte er nichts erkennen, lediglich Worte, die in einer unnatürlichen Tonart das Dunkel durchzogen.
Tumelo ergriff aus der Angst heraus Sams Oberarm. Beide standen seitlich der Veranda, während Tumelo, unfähig, das Geschehene zu begreifen, der Einzige war, der in diesem Augenblick zumindest den Sinn der Worte verstand.
Plötzlich hallte es wieder aus dem Nichts: »Damn dit al, damn dit al!« –›Verflucht ihr alle, verflucht ihr alle!‹
Immer stärker werdendes goldenes Licht umrahmte wie eine Aura die Gestalt von Aba, die hocherhobenen Hauptes direkt vor der Veranda stand. Gleißend grüne Augen starrten bannend direkt auf Baine. Wieder schrie Aba ihren Fluch. Drohend, von Schwingungen des Lichtes begleitet, erhob sie ihre ausgestreckte Hand, deutete auf den Verfluchten.
Wie aus einem Traum erwacht, riss Baine angsterfüllt seine Flinte in die Luft. Aba, schreiend, beide Arme gen Himmel gereckt, war nun ein perfektes Ziel. Der