Schwarzer Kokon. Matthias Kluger

Schwarzer Kokon - Matthias Kluger


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unter.

      Dann Stille.

      Alle Blicke waren gebannt zu jener Stelle gerichtet, an der ein lebloser, toter Körper lag. Noch immer währende Sekunden der Stille. Doch plötzlich, zum Entsetzen aller, streckte die Tote einen Arm mit weit auseinandergespreizten Fingern in die Höhe, danach ein zuckender, sich aufrappelnder Körper. Aba bäumte sich zu ihrer vollen Größe, ihr durchdringender grüner Blick auf Baine gerichtet, dessen Trommelfelle brannten.

      Erneut grollte die Botschaft aus Aba: »Damn dit al, damn dit al!«

      Baine stolperte fassungslos nach hinten. Bevor die Umstehenden vollends begriffen, was soeben geschehen war, begann Aba schwerelos über dem Boden zu schweben. Ihr ganzer Körper hing wie eine Marionette, deren Fäden man losgelassen hatte. Hell schimmerndes Licht strahlte aus ihrer Brust, an jener Stelle, wo die Kugel sie durchbohrt hatte. Klare, weiße Leuchtkraft überstrahlte den ganzen Platz wie Scheinwerfer das Amphitheater – die Zuschauer des übernatürlichen Schauspiels blendend. Noch flirrte ihr Körper lichterfüllt in der Luft, als es plötzlich aufhörte zu regnen.

      Totenstille zur Einleitung des letzten Aktes.

      Das leise Zwitschern der Sperlinge, eine komponierte Symphonie. Aus der hell erleuchteten Brust Abas heraus gebar es einen Sperling, der fröhlich singend, flatternd tanzte. Es folgten weitere und stimmten ihre Instrumente mit ein. Wie Engelsgesang zwitscherten Hunderte Sperlinge ihr Lied, flirrende Flügelschläge umhüllten Abas Körper wie eine sanfte Frühlingsbrise. Nach und nach trugen sie das Licht in den Kosmos, bis auch der letzte Sperling seinen goldenen Lichtschimmer hinauf, durch dunkle Wolken hindurch, mit sich nahm. Dann folgten Dunkelheit und völlige Stille, wie kurz vor dem tosenden Applaus des Publikums, deren Herzen die Emotionen des gerade Aufgeführten noch genießen.

      Veronika liefen kalte Tränen über die Wangen.

      Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis Sam zwar benommen, doch langsamen Schrittes sich zu der Stelle vorwagte, an der Aba soeben noch gelegen hatte. Er suchte nach ihr, doch der Platz war leer. So, wie sie aus der Nacht gekommen – aus dem Nichts –, so verschwand sie in einem gleißenden Lichtermeer.

       First Street, NE, einen Block östlich des Capitols, 2001

      Frank Brown saß im Büro von Richter Rudolph, welches sich im ersten Stock des Supreme Courts, dem Obersten Gericht der Vereinigten Staaten, befand. Bereits vor einer Stunde hatte er das fünfstöckige, über 28 Meter hohe Gebäude aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, das aus reinem Marmor bestand, betreten. Seine braune, lederne Aktentasche durchleuchtet, durchschritt er die Sicherheitszone, gefilzt von Metalldetektoren. Nun wartete er schon über dreißig Minuten, was bei Richter Rudolph keine Seltenheit darstellte. Er grübelte, ob der Richter ihn aus Absicht warten ließ, um deutlich zu machen, welch wichtiges Amt er bekleidete.

      Endlich ging die Türe auf und würdevoll, doch mit sportlichem Elan begrüßte Richter Rudolph beim Eintreten seinen Gast: »Hallo, Senator Brown. Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ.«

      Nachdem sie sich freundlich die Hände geschüttelt hatten, nahmen beide in einer Sitzecke auf abgewetzten Ledersesseln Platz. Es folgte eine gegenseitige kurze Musterung in der Art, als ob sie gleich sagen wollten: ›Hey, alter Knabe, fit schaust du heute aus. Gut gevögelt?‹

      Senator Brown ergriff zuerst das Wort: »Richter Rudolph, Sie ahnen, warum ich hier bin?«

      »Geht es um Jeff Sanders?«

      »Genau, Jeff Sanders.«

      »Den schwarzen Jeff Sanders, der sich einer Polizeifestnahme entzog und einen Officer der USCP mit gezieltem Stich in den Hals förmlich hingerichtet hat?«

      Brown missfiel dieses Frage- und Antwortspiel. »Richter Rudolph, wir stehen als Senat vor der gleichen Frage wie Sie. Können wir die Verhängung der Todesstrafe verantworten?«

      Samuel Rudolph schlug seine Beine übereinander und lehnte sich entspannt im Sessel zurück. »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Senator? Ist es aus Ihrer Sicht nicht mehr eine Frage Ihrer Wählerstimmen? Wenn ja, dann würde ich mich an Ihrer Stelle für die Todesstrafe aussprechen. Kommen Sie allerdings aus tief ethischen Beweggründen, so sollten Sie sich die Frage stellen, ob Sie nicht bei den Demokraten besser aufgestellt wären.«

      Rudolphs angriffslustiges Verhalten verwirrte, beleidigte Brown und er stellte sich insgeheim die Frage, was der Richter hiermit bezwecken wollte. »Weder noch«, entgegnete er. »Für mich sind es in diesem Fall rein sachliche Gründe, die mich erwogen haben, das Gespräch mit Ihnen zu suchen.« Was nicht der Wahrheit entsprach.

      »Ihnen sind die Beweisvideos bekannt?« Browns Stirn schlug Falten.

      »Sicher doch, und in der Tat stellen diese ein gewisses Problem dar, wenn nicht moralisch, so könnten sie doch einen anderen Eindruck als den tatsächlichen Tathergang vermitteln. Senator Brown, entschuldigen Sie, wenn ich eben etwas barsch war. Doch hier geht es nicht um die Frage, ein zutiefst verwurzeltes Recht des guten amerikanischen Bürgers auszuhebeln. Das Recht der Sicherheit auf unseren Straßen, das Recht, das jedes einzelne Kind, jede Frau und jeder Mann in diesem Staat vor Ungemach schützen soll. Wissen Sie eigentlich, wie lange dieses Recht auf Todesstrafe schon besteht? Seit 1608, in den britischen Kolonien Nordamerikas. Ein naturgewolltes Gesetz, ohne dieses wir nicht das wären, was wir heute sind. Ein freier Staat mit zu schützenden Bürgern.«

      Brown kam die Rede einstudiert vor und er fragte sich, wie oft der Richter diese schon vorgetragen hatte.

      »Aber auf Ihre Frage zurückkommend. Ja, ich kenne diese Videos und sie machen die Entscheidung sehr kompliziert. Hier geht es nicht allein um die Todesstrafe. Hier geht es um Farbig und Weiß. Wir haben bereits genug Probleme mit angeblichen Übergriffen auf die schwarze Minderheit. Haben Sie schon mal versucht, sich wirklich intensiv in die Rolle eines US-Cops zu versetzen? Jede Fahrzeugkontrolle, jeder Zugriff auf einen Schwarzen könnte der letzte sein.«

      »Genau wie jeder Zugriff auf einen Weißen«, erwiderte Brown.

      »Aber das steht doch in unserem Fall gar nicht zur Debatte! Hier geht es um einen Farbigen, der einen US-Marshal niedergestochen hat. Wenn ich richtig informiert bin, mit kleinen Kindern und Frau, die er hinterlässt. Sie wollen meine Meinung wissen, wenn Sie hier zur Türe hinausgehen? Ich sage sie Ihnen: Wir müssen uns an das Gesetz halten. Das Gesetz schreibt eindeutig die Todesstrafe vor, wenn die Beweislast als erdrückend anerkannt wird. Zumindest in unserem Bundesstaat, und daran muss und werde ich mich als Vertreter der Gesetzgebung halten müssen. Meine persönliche Auffassung ist hier hinten angestellt. Doch sehen Sie, ich kann die Beweise des Berufungsantrags nicht unter den Teppich kehren. Die Videos belegen eindeutig, dass hier aus Notwehr gehandelt wurde.«

      Rudolph hatte es geschafft und Brown verblüfft. Die ganze Zeit vermittelte der Richter den Eindruck, er würde dem Antrag, Jeff Sanders hinzurichten, stattgeben. Stattdessen hing nun die Aussage klar im Raum, dass dieser, entgegen seiner persönlichen Überzeugung, die Videos als Beweis zur Berufung zulassen würde.

      Stephen fuhr direkt von der Uni nach Hause und parkte seinen knallroten Ford Mustang Cabrio, Baujahr 1968, in der Tiefgarage. Noch wusste er nichts von der Schlägerei seines Bruders, auch nicht, dass dieser hinter Gittern der United States Capitol Police einsaß. »Mom«, rief er, als er durch die Aufzugstür, die direkt in die Wohnung führte, eintrat. In der Küche erblickte er den wunderschönen Kuchen mit vielen Kerzen darauf. Er zählte nach – es waren siebzehn. Nochmals rief er seine Mutter, als er zu seinem Zimmer lief.

      »Hier, Stephen, ich bin im Schlafzimmer.«

      »Hey, Mom, ein toller Kuchen. Ich zieh mich nur schnell um und fahr dann gleich zu Susan. Kann heute spät werden.«

      »Warte kurz«, bat seine Mutter und legte einen Stapel Kleider, den sie für die


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