Die Farbe der Leere. Cynthia Webb

Die Farbe der Leere - Cynthia Webb


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eher nach dreißig aussah, war Katherines und Annies Vorgesetzte. In einer Etagenwohnung in Washington Heights zog sie ihre zwei Nichten groß. Von deren leiblicher Mutter, Dianes Schwester, war nur bekannt, dass sie in Detroit auf der Straße lebte. Einen Vater oder Väter gab es nicht.

      Diane und Katherine hatten dem zarten Geschöpf namens Annie zunächst Vorbehalte entgegengebracht. Doch sie fügte sich nahtlos in die kollegiale Freundschaft der beiden älteren Frauen. Von ihrem Privatleben wussten sie nur, dass sie nach einer Kommilitonenehe geschieden war. Da sie nicht darüber sprach, gingen sowohl Katherine als auch Diane davon aus, dass es schlimm gewesen war.

      Auf Dianes Spruch hin bemerkte Annie nachdenklich: »Vor gar nicht langer Zeit setzten die meisten meiner Freundinnen alles daran, bloß nicht schwanger zu werden. Und jetzt kommt es mir vor, als ob fast alle, die ich kenne, verzweifelt versuchen, einen Braten in die Röhre zu kriegen.«

      Katherine nickte. Die Epidemie der Fortpflanzungsbesessenheit grassierte auch unter Frauen ihres Alters. Sie selbst hatte nie über ihre Ehe gesprochen, als sie noch mit Barry zusammengelebt hatte, und sah keinen Grund, jetzt damit anzufangen.

      Annie fuhr fort: »Sie essen nur noch Körnerfutter und biodynamisches Gemüse …«

      »Das ist schon der erste Fehler«, warf Diane ein.

      »… und machen Fruchtbarkeitstherapien und empfangen trotzdem nicht, wohingegen …« Sie brach ab, und Katherine und Diane warfen sich einen kurzen Blick zu.

      »Wohingegen die Beklagten bei einer Diät aus Chips, Pepsi und Crack jedes Jahr ein Baby werfen«, beendete Diane den Satz für Annie. Die wurde rot, ein fleckiges Rosa, das vom Unterkiefer aufwärts wanderte und die Wangen überzog. Wenn es darum ging, Witze über das Elend zu reißen, das sie tagtäglich zu sehen bekamen, war Annie immer noch zartbesaitet, was Katherine und Diane nachhaltig amüsierte.

      Katherine wischte mit der billigen dünnen ­Papierserviette vergeblich an ihren schmierigen Händen herum. »Was ich gern mal wüsste: Warum ist die Abbrecherquote bei der Suchtakupunktur bloß so hoch? Da spritzen sie sich jahrelang in wer weiß wie schmuddligen Löchern wer weiß was in die Venen, und jetzt, ganz plötzlich, haben sie auf einmal Angst vor Nadeln?«

      Dann gab Katherine die Geschichte von Mrs. Jones und den Handschellen zum Besten, und erwartungsgemäß fand Diane sie zum Brüllen komisch. Als das Gelächter der Frauen nachließ, fügte sie noch hinzu: »Das nächste Mal trifft sie auf ein Kind voller Zigarettenverbrennungen und beschlagnahmt die Kippen«, und Diane und Katherine prusteten wieder los.

      Katherine hatte Annie am Ende ihrer ersten Woche gesagt: »Wenn du eine Zeitlang mit verwahrlosten und missbrauchten Kindern zu tun hast, machst du entweder schlimme Witze darüber oder du drehst durch.« Bisher hatte Annie weder das eine noch das andere getan.

      Die Mittagszeit neigte sich dem Ende zu, die Menge sickerte allmählich nach draußen. Katherine musste zurück ins Büro, doch sie blieb noch sitzen und trank den lausigen Kaffee, bitter im Mund wie geschmolzener Stahl. Sie gingen nicht mehr so oft zum Essen raus wie früher – dies war ein rares Vergnügen. Seit sie bei jeder Rückkehr ins Gebäude durch die Metall­detektoren mussten, schien der Weg zum Mittagessen oft nicht den Aufwand wert.

      Eine Gruppe von Männern in Anzügen passierte ihre Sitzecke auf dem Weg nach draußen. Diane streckte den Arm aus und legte einem von ihnen ihre lange schmale Hand auf den Arm (sie sollte wirklich Klavier spielen mit diesen Fingern, dachte Katherine). »Dan! Dan Mendrinos. Wie geht’s dir, Junge?«

      Der große dünne Mann mit dem traurigen Gesicht und den tiefen Furchen um den Mund blickte mit leichtem Lächeln auf Diane herunter. Einer aus der Heerschar von Dianes Freunden, nahm Katherine an.

      Graziös rutschte Diane auf der Bank ein Stück weiter, ohne die Hand vom Arm des Mannes zu nehmen, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich neben sie zu setzen.

      »Das da rechts ist Annie O’Connor. Zur Linken siehst du ­Katherine McDonald, von der ich dir erzählt habe. Ladys, dies ist …«

      »Dan Mendrinos«, sagte Katherine, »wir haben es gehört.«

      Diane überging die Unterbrechung gnädig. »Ich war im Begriff, euch zu erklären, dass er ermittelnder Staatsanwalt ist.« Der in Dianes Stimme mitschwingende Unterton einer wichtigen Verlautbarung weckte Katherines Argwohn. In den Monaten seit Katherines Trennung von ihrem Mann hatte Diane schon mehrfach Andeutungen gemacht, dass es Zeit sei, sich auf etwas Neues einzulassen. Katherine hatte diese Andeutungen geflissentlich überhört.

      »Schön«, sagte sie und blickte demonstrativ auf ihre Uhr, »ich sollte wirklich machen, dass ich wieder an die Arbeit komme.«

      Das war wahr. Sie hatte ein Kind als Zeugen zu befragen, ehe sie sich um ihre Anklageerhebungen kümmern konnte. Es kam nicht jeden Tag vor, dass sie vor dem Gerichtstermin Gelegenheit erhielt, mit einem Zeugen zu sprechen. In diesem Fall wurde das Kind zu einer psychologischen Begutachtung vorgeführt, die sein gerichtlich bestellter Vormund arrangiert hatte, und Katherine würde es möglich sein, mit dem Jungen zu reden.

      »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie rasch zu Mendrinos, warf ein paar Scheine auf den Tisch, um ihren Teil der Rechnung zu decken, und eilte zur Tür hinaus.

      Mendrinos sah Diane an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass sie von dem Auftrag nicht gerade begeistert ist?«

      Diane lachte. »Ich hab ihr noch gar nichts davon erzählt, also ist sie nicht deshalb weggerannt. Ich rede heute Nachmittag mit ihr, sie wird dich dann anrufen. Mach dir keine Sorgen. Ich sag dir doch, sie ist die Richtige.« Diane berührte Annies Arm. »Erinner mich daran, dass ich ihr nachher noch was erzählen muss. Ich glaube, ich hab heute Morgen unten im Warteraum ihren Mann, ihren Exmann, gesehen.«

      »Hat er nach ihr gesucht?«

      Diane zuckte die Achseln. »Er weiß, wo ihr Büro ist, und im Übrigen auch, wo meins ist. Er hätte eine Nachricht dalassen können, wenn er das gewollt hätte.«

      »Dann muss er hier einen Fall haben.«

      Diane zog ein Gesicht. »Sehr unwahrscheinlich. Barry Worth in der Bronx? Am Familiengericht? Er macht in Fusionen und Übernahmen, bei einer großen Kanzlei in der Nähe der Wall Street.« Sie dachte einen Moment nach. »Vielleicht war er es auch gar nicht. Diese weißen Jungs in Anzügen. Für mich sehen die alle ziemlich gleich aus.«

      Ihre Absicht war, Mendrinos zum Lachen zu bringen, aber der hörte sie gar nicht. Er sah durchs Fenster zu, wie Katherine die Sheridan Avenue überquerte. Die Schnittkante ihre glatten braunen Haare schwang knapp über dem weißen Kragen ihrer schlichten Hemdbluse. Sie trug ein graues Jackett, Hosen und flache Schuhe. Er sah ihr nach, bis sie im Eingang des Familien­gerichts verschwand, wo die Tür sich hinter ihr schloss und sie seinem Blick entzog.

      Wenn man nur lange genug für die Stadt arbeitet, dachte sie, als sie sich in dem Büro umsah, das sie mit Annie im siebten Stock des Familiengerichtsgebäudes teilte, kriegt man obendrein auch noch das hier:ein schäbiges, fensterloses Kabuff mit zwei Metallschreibtischen, bestückt mit je einem vorsintflutlich anmutenden Rechner, dazu Akten auf jeder waagerechten Fläche einschließlich des Fußbodens, einen zerschrammten Aktenschrank und einen rostenden Papierkorb.

      Sie rief: »Herein!«, als sie das Klopfen an der Tür hörte. Eine große, runde Frau, den großen, runden Körper in ein mit sanften Farben bedrucktes Kleid gehüllt, betrat den Raum mit einem ziemlich kleinen Jungen an ihrer Seite. Katherine begrüßte das Kind und wies die Fallbetreuerin an, im Flur zu warten. Die Frau nickte und fragte dann rasch: »Haben Sie das mit Jonathan Thomson gehört?«

      Erschrocken betrachtete Katherine die Frau genauer. Jetzt erinnerte sie sich: Sie war die für Jonathan zuständige Fall­betreuerin gewesen. An ihren Namen konnte sie sich nicht erinnern. Sie sah tagtäglich viel zu viele Fallbetreuer.

      »Ich bin Julia Williams.«

      »Ja, natürlich, ich erinnere mich«,


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