Die Farbe der Leere. Cynthia Webb

Die Farbe der Leere - Cynthia Webb


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ein einziger Mensch hatte bemerkt, dass diese Kinder wiederholt vergewaltigt wurden und, wenn man Jose ansah, unterernährt und vernachlässigt waren. Sie hatten ein Recht auf Katherines volle Aufmerksamkeit für die kurzen Momente, in denen ihr Leben in ihrer Hand lag.

      Es war leicht für sie, sich in ihren Fällen zu verlieren. Barry hatte sich nie ausdrücklich darüber beklagt. Stattdessen hatte er seine Kommentare dazu als Besorgnis um ihr Wohlbefinden gestaltet. Sie sei zu talentiert für so einen undankbaren Tretmühlenjob. Wenn sie glaubte, gutherzige Seele, die sie war, dass sie zum Wohle der Menschheit ihre Karriere opfern müsste, sehr schön. Aber sie schuldete es sich selbst, das alles hinter sich zu lassen, wenn sie das Büro verließ. Sie sei emotio­nal niemals anwesend, hatte er einmal gesagt. Was immer das bedeuten mag, hatte sie gedacht, aber nicht laut gesagt.

      Die Geschichte, die Jose erzählte, hatte er bereits einer langen Reihe von Fremden vorgetragen. Angefangen mit dem Sozialarbeiter, der dem ersten Verdacht auf Missbrauch nachgegangen war, dann den ermittelnden Polizeibeamten. Er musste sie vor dem Missbrauchsermittler der Staatsanwaltschaft wiederholen, vor seiner Anwältin und dem Psychologen, den er heute Morgen getroffen hatte. Katherine war nur ein Glied mehr in dieser Kette, und dies war auf lange, lange Sicht bei weitem nicht das letzte Mal, dass er seine schmutzige kleine Geschichte würde ausbreiten müssen.

      Zu der Zeit, als Annie mit noch intaktem Idealismus im Büro anfing, hatte Katherine längst aufgehört zu glauben, sie könnte das Leben dieser Kinder irgendwie verbessern. Sie erkannte in Annie ihr vergangenes Selbst – bevor sie hatte erkennen müssen, dass ihr Eingreifen oft noch mehr Leid verursachte als die Missstände, die sie beheben wollte. Wenn du den Job nur lange genug machst, endet eines Tages ein Kind tot oder verstümmelt, und du wirst nie sicher sein, dass es nicht deine Schuld war.

      Es war Diane zu verdanken, dass Katherine die ersten Jahre durchgehalten hatte. Die beiden waren die einzig Übriggebliebenen aus jenen Tagen. Alle anderen hatten sich längst davongemacht und irgendetwas anderem zugewandt – egal was. Andere hatten ihre Plätze eingenommen und waren wieder gegangen, frei nach dem Rotationsprinzip. Ein Mensch kann das nur eine begrenzte Zeit aushalten, sagten sie. Katherine war jetzt fünfzehn Jahre da, Diane noch länger.

      Einer der Grundsätze, die Diane ihr beigebracht hatte, bestand darin, nicht zu fragen, was nach dem Abschluss eines Falls aus den Beteiligten wurde. Das war nicht mehr ihr Pro­blem, und sie hatte genug Probleme.

      Sie war nicht hier, um die Kinder glücklich zu machen, sondern um das Richtige zu tun. Diane hatte einmal gesagt, es gab Anwälte, die glaubten, sie könnten mit dieser Arbeit die Wunden ihrer eigenen Kindheit schließen. »Sei keine von denen, das funktioniert nicht.«

      »Denk nie, dass diese Kinder dich lieben werden«, hatte ­Diane gesagt. »Denk nie, dass sie dir dankbar sein werden.«

      Katherine folgte Dianes Ratschlägen weitgehend. Sie nahm nicht an, dass diese Kinder überhaupt über sie nachdachten, von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Ihr Dasein war erfüllt vom Auftreten ständig wechselnder Darsteller, die als Fall­betreuer, Heimvorsteher oder Pflegeeltern in ihr Leben traten, sie selbst spielte darin weniger als eine Nebenrolle.

      Sie trichterte Jose nochmals ein: Alles, was er zu tun hatte, war, die Wahrheit zu sagen. Sie sagte ihm nicht, dass alles gut würde. Realistisch betrachtet war er angesichts seines Starts ins Leben schon erledigt. Das Einzige, was sie noch für ihn tun konnte, war, ihn wenigstens nicht zu belügen.

      Katherine begleitete Jose zurück zu Ms. Williams, die im Fallbetreuerraum auf einem Metalltisch voller Fastfoodverpackungsmüll Papierkram erledigte. Falls irgendjemand diesen verlorenen Jungen trösten konnte, dachte Katherine, dann am ehesten noch Ms. Williams mit ihrem großen mütterlichen Busen.

      Zurück in ihrem Büro hievte sie sich die Akten ihrer neuen Fälle unter den Arm, um damit nach unten zu gehen, und hielt plötzlich einen Augenblick inne.

      Sie war für einen Mord verantwortlich. Das hatte sie im selben Moment begriffen, als sie von Jonathans Tod erfuhr. Aber damit würde sie sich später auseinandersetzen.

      Sie ging nach unten, um ihre neuen Anklageschriften einzureichen, und probte im Stillen, was sie dem Ermittlungsrichter sagen würde, wenn er fragte, warum Ms. Jones als Vertreterin des Amts für Kindeswohl das unglückselige Kind nicht gerettet hatte. Sie stellte sich vor, wie sie zum Richter sagte: »Nun ja, Euer Ehren, sie hat immerhin die Handschellen beschlagnahmt.«

      Als Katherine ins Büro zurückkam, war Annie verschwunden, dafür saß Diane neben ihrem Schreibtisch, blätterte im Law Journal und knabberte Junkfood aus Annies Geheimvorräten.

      »Wie könnt ihr in diesem Chaos nur irgendwas finden?«, fragte sie rhetorisch und wedelte mit einem Käsechip über die Schreibtische. Unter den Bergen von Akten und Anträgen war unmöglich zu erkennen, wo ein Schreibtisch endete und der andere begann.

      Katherine zuckte die Achseln. »Wenn ich die Anträge draußen liegen lasse, kann ich wenigstens so tun, als hätte ich eine Chance, vor dem Gerichtstermin den Fall vorzubereiten.«

      »Kommt das oft vor?«

      Katherine überhörte das. »Wo steckt Annie?«

      »Beantragt irgendeine Vertagung.«

      »So spät noch?«, fragte Katherine.

      Diane zuckte die Achseln. »Sie steht vor Bowers.«

      »Ach so.«

      Der Terminkalender des Gerichts war bekanntlich notorisch überfüllt, und Richter Bowers kam mit seinen Verhandlungen fast nie bis Feierabend durch. Dann musste er Downtown anrufen und eine Genehmigung für die Bezahlung der Überstunden der Gerichtsdiener, des Schreibpersonals und der übrigen Justizbeamten einholen. (»Downtown« hieß für alle Abteilungen des Gerichts das Zentralbüro in Manhattan. ­Diane verglich ihre Situation in der Bronx gern mit einem kleinen Außenposten einer abgelegenen Provinz des Römischen Reichs.) Jedes Vorkommen von Überstunden musste im Bericht des Richters verzeichnet werden und war ein Schandmal für ihn oder für sie. Bowers holte mit schöner Regelmäßigkeit Überstundengenehmigungen ein, folglich gingen alle davon aus, dass er sich nicht um Wiedereinstellung zu bemühen gedachte, wenn seine laufende Amtsperiode endete.

      »Komm, iss auch was«, drängte Diane.

      Widerstrebend nahm Katherine eine Handvoll trockener Kekse entgegen und fragte betont beiläufig, ohne Diane anzusehen: »Der Staatsanwalt, dieser Mendrinos …«

      Diane lächelte und öffnete schon den Mund, um zu antworten, doch Katherine schnitt ihr das Wort ab.

      »Wenn ich will, dass du mir einen Kerl suchst, dann sag ich’s dir. Ich will es nicht.«

      »Schätzchen, ich weiß nicht, wie du darauf kommst, ich würde unsere Freundschaft riskieren, um dich mit jemandem zu verkuppeln. Hör gut zu. Die Welt dreht sich nämlich nicht bloß um dich. Heut Morgen bekam ich einen Anruf von Downtown. Wir sind aufgefordert, in einem Mordfall mit dem Büro der Staatsanwaltschaft zu kooperieren. Ein Serienmörder bringt Teenager um, und der letzte stand unter der Obhut unserer Behörde – er lebte in einem ACS-betreuten Gruppenheim. Ich bin angewiesen, jemanden von unserem Büro abzustellen, der mit dem Staatsanwalt die Akten durchgeht. Gott steh mir bei, aber ich dachte da spontan an dich. Dann stellt sich heraus, der zuständige Staatsanwalt ist Dan, den ich seit Ewigkeiten kenne. Heute Vormittag hab ich mit ihm telefoniert und von dir erzählt. Als ich ihn in der Mittagspause sah, schien es naheliegend, dich gleich vorzustellen.«

      Katherine schlug die Hände zusammen. »Ich fürchte, ich hab mich vorhin wie eine Zicke aufgeführt.«

      »Das kannst du wohl sagen.«

      »Das passt mir eigentlich gut.« Katherines Stimme klang, als dächte sie schon an etwas anderes. »Ich wollte dich sowieso bitten – da du beim Mittagessen so vertraut mit Mendrinos schienst –, ihn mal zu fragen, wer in dem Serienmörderfall der ermittelnde Staatsanwalt ist. Jonathan Thomson … er war das letzte Opfer. Ich hoffte, du könntest – mir


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