Die Farbe der Leere. Cynthia Webb

Die Farbe der Leere - Cynthia Webb


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      Katherine hatte zu solchen Gesprächen nichts beizutragen, aber sie hatte die Macht, diese Konversationen zum Stillstand zu bringen, indem sie sagte: »Ich arbeite in der Bronx«, und auf die unausweichliche Reaktion wartete.

      »Ich kann nicht glauben, dass du sie jeden Tag dahin lässt«, hatte einer von Barrys Partnern einmal gesagt. »Bitte sag nicht, du lässt sie mit der U-Bahn fahren.«

      Jetzt parkte Katherine ihren zerbeulten kleinen Honda quer zu der Reihe von Eichen gegenüber dem Komplex aus ein- und zweistöckigen Apartments, in dem sie nun wohnte. Das kastenartige Bauwerk bestand aus vier geraden Apartmentfronten, die einen begrünten Innenhof einschlossen. Die Privilegierten, die hier ein ›Townhouse‹ bewohnten, hatten zum Innenhof hin gelegene Veranden mit gläsernen Schiebetüren.

      Zu jeder Haustür gehörte ein winziger Vorhof, manche davon waren mit runden Grilldomen bestückt. An einer Hauswand lehnte ein kleines rosa Fahrrad, an dessen Lenker rosa und weiße Wimpel im Wind flatterten.

      Katherines unmittelbare Nachbarin Jodi ließ immer ihr Schlafzimmerfenster offen, damit ihre fette Katze in den Hof konnte. Katherine selbst ließ oft ihre Haustür unabgeschlossen, wenn sie nur kurz wegging.

      Rosensträucher, die ein früherer Bewohner gepflanzt hatte, säumten ihre Eingangstür. Die dornigen Zweige hatten keine Blätter mehr, aber an der äußersten Spitze eines bedrohlich aussehenden Astes hing eine vertrocknete braune Rosenblüte. Die Gegenwart der Rosenbüsche, das einzig bedeutsame, wenn auch karge Anzeichen von Leben in ihrem Garten, irritierte Katherine. Ihre Existenz verlangte nach Betätigung. Aber sie sah sich nicht als jemand, der düngte, Unkraut jätete oder Äste beschnitt. Die Rosen würden sich allein durchs Leben schlagen müssen.

      Sie schloss ihre Tür auf, was von wildem Kratzen auf der anderen Seite begleitet wurde. Sowie die Tür aufging, sprang die schwarzweiße, lockenfellige Hündin sie an. Katherine platzierte die Post, die sie aus dem Briefkasten mitgebracht hatte, auf dem Bord in ihrem kleinen Flur, bevor sie sich bückte und den Hund hinter den Ohren kraulte. Diese Geste kam ihr inzwischen nicht mehr so gekünstelt vor. Anfangs hatte sie sich dabei immer gefühlt, als spiele sie jemanden, der einen Hund hat.

      Ein Hund war wesentlich anspruchsvoller als Rosensträucher, und sie hatte sich diese Bürde nicht aus freien Stücken auferlegt. Jodi von nebenan hatte Miss Bennett (damals noch unbenannt) mit einem übel verletzten Bein auf der Straße gefunden. Katherine konnte es Jodi nicht abschlagen, sie mit dem Hund zum Tierarzt zu fahren. Sie half den beiden auch ins Wartezimmer, wo der Hund in eine Decke gewickelt auf Jodis Schoß lag.

      Dann fuhr Katherine wieder nach Hause und bildete sich ein, ihr Teil des Abenteuers sei vorüber. Aber am nächsten Morgen rief Jodi an, um sie über den Zustand des Hundes zu unterrichten. Sie ging davon aus, dass Katherine in gleicher Weise Anteil nahm wie sie selbst. Der Tierarzt hatte das verletzte Bein für unrettbar erklärt. Katherine bekundete ihr Mitgefühl, aber im Vergleich zu dem, was sie täglich bei der Arbeit sah, schien ihr ein Hund, der ein Bein einbüßte, kein so bedeutendes Drama.

      Nach ein paar Tagen brachte Jodi den Hund mit nach Hause. In Jodis Wohnzimmer wurde ein Hunde-Rehabilitationszen­trum errichtet. Sie rief in Tierheimen an, schaltete Anzeigen in Zeitungen und pflasterte Laternenpfähle mit Flyern. Katherine bestärkte Jodi darin, dass es einen Halter geben musste. Doch niemand meldete sich.

      Newsprint, Jodis total verzogene Katze, war außerordentlich beleidigt über die Anwesenheit des verkrüppelten Hundes. ­Katherine fand Newsprint ziemlich nutzlos, aber in dieser Frage teilte sie ihren Standpunkt. Allerdings fand sie, dass die Katze doch zu weit ging, als sie einen Guerillakrieg gegen den armen Hund begann.

      Katherine ließ sich also darauf ein, den Hund ›vorübergehend‹ zu nehmen. Jeden Tag in der Mittagspause lauschten Annie und Diane den Aktualisierungen dieser Fortsetzungsgeschichte und amüsierten sich köstlich, was Katherine noch mehr in Rage brachte.

      Drei Wochen gingen ins Land. Jodi schickte ihren Anrufbeantworter ans Telefon und rief nie zurück. Katherine gab sich alle Mühe, ihr ›zufällig‹ über den Weg zu laufen. Wann immer es ihr gelang, Jodi irgendwo zu stellen, verlangte sie Auskunft über den Stand der Suche nach dem Besitzer des Hundes, doch Jodi war stets zu beschäftigt für ein längeres Gespräch.

      Allmählich akzeptierte Katherine, was Diane und Annie schon lange als unvermeidlich erkannt hatten. Sie taufte ihren Dauergast Miss Bennett. Wenn sie schon ein Haustier haben musste, konnte es ebenso gut ein dreibeiniger Hund sein.

      Mittlerweile hatten Frau und Hund eine Feierabendroutine entwickelt. Auch jetzt folgte Miss Bennett Katherine in ihr Schlafzimmer und beobachtete erwartungsvoll, wie sie sich umzog. Jeans, Pullover und eine dicke Jacke.

      Zurück im Flur, nahm Katherine die Leine vom Haken neben der Tür und blätterte kurz die Post durch, die übliche Ansammlung von Rechnungen und ein weißer, unadressierter und unfrankierter Umschlag. Sie hatte in letzter Zeit schon zweimal ähnliche Umschläge erhalten, beides Spendenaufrufe für Wohltätigkeitsveranstaltungen in der Nachbarschaft: eine zugunsten von Arthritisleidenden, die andere für Herz­patienten.

      Ungeduldig stieß Miss Bennett mit der Nase gegen Katherines Bein. Sie legte die Post weg und öffnete die Tür.

      Direkt davor stand Brian Campbell. Er wohnte in einem der zweistöckigen Reihenhäuser auf der anderen Seite des Innenhofs, ihr fast direkt gegenüber. Was immer Brian tat, einschließlich warten, tat er mit geradezu schmerzhafter Ungeschicklichkeit. Katherine hatte den Verdacht, es würde einem Außerirdischen leichter fallen, einen normalen Teenager vorzutäuschen, als Brian.

      Als sie ihn das erste Mal vor ihrer Tür antraf, war sie ihm mit höflicher Wachsamkeit begegnet. Doch am nächsten Abend war er wieder da, mit Hundekuchen in der Tasche. Der Hund freute sich schon auf Brians Besuch, und Katherine beschloss, den beiden ihren Spaß zu lassen. Seit sie umgezogen war, hatte sie keinen Besuch gehabt und auch niemanden besucht, und manchmal beschlich sie das Gefühl, sie liefe Gefahr, zur Einsiedlerin zu werden.

      Brian war die ersten Male recht still gewesen, offenkundig zu schüchtern, um eine Erwachsene anzusprechen, und Katherine kam das sehr gelegen. In müßigem Gerede war sie noch nie gut gewesen. Doch zu ihrem Verdruss öffnete er sich im Laufe der Zeit und stimmte den Klagegesang eines Sechzehnjährigen an. Nichts davon war ungewöhnlich oder interessant. Seine Lehrer waren zu streng, die Schule zu hart, seine Eltern verstanden ihn nicht.

      Der arme Brian besaß nichts von dem, was auch immer es war, das Jonathan umweht hatte. Brian konnte einen höchstens an die Schmerzen, die Überempfindlichkeit und die gnadenlose Ungeschicklichkeit der eigenen Pubertät erinnern.

      Neben ihren allabendlichen Spaziergängen mit Brian traf sie ihn gelegentlich auch auf der Straße, wenn er mit seiner Familie unterwegs war. Dann war ihm die Zunge angebunden, und er wirkte noch linkischer als sonst. Nach mehreren gescheiterten Versuchen schaffte er es schließlich, sie seinen Eltern vorzustellen. Mr. und Mrs. Campbell schienen ganz anständige Leute zu sein, vielleicht etwas distanziert und gefühlsgebremst. Sie erinnerten sie ein bisschen an ihre eigenen Eltern. Sie hätte eine beträchtliche Summe gewettet, dass Mr. und Mrs. Campbell sich beklagten, ihr Sohn würde ihnen nie etwas erzählen.

      Eines Nachts schleppte Katherine einen schweren Wäschekorb in den Waschkeller und stieß dort auf Mrs. Campbell, die an einem langen wackligen Metalltisch in der Mitte des Raums stand und einen Berg Wäsche faltete. In der Intimität des warmen, feuchten Raums, mit dem Gestampfe der Waschmaschinen und Trockner im Hintergrund, kam Brians Mutter ein wenig aus sich heraus. Sie wirkte einsam, hungrig nach jemandem, mit dem sie sprechen konnte, und offener als in Gegenwart ihres Mannes. Sie gestand, dass sie sich Sorgen um ihren sensiblen Sohn machte. Er sei immer ein lebhaftes Kind gewesen, wenn auch ein bisschen … hier suchte sie eine Weile nach einem Wort … zart.

      Während seiner frühen Kindheit hatten Mutter und Sohn eine sehr enge Beziehung gehabt, wie sie hervorhob. Aber je näher die Pubertät rückte, desto mehr hatte sich das geändert. Seine Noten waren auf gerade noch ausreichend abgerutscht. Er schien am Schulstoff kein Interesse mehr zu haben. Er schien auch nicht viele Freunde zu haben. Die meiste Zeit


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