Die Farbe der Leere. Cynthia Webb

Die Farbe der Leere - Cynthia Webb


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Katherine, das tut mir so leid. Ich hab gar nicht mitgekriegt … Ich hab die Namen der Opfer gar nicht registriert, obwohl ich sie gehört habe. Wie schrecklich.« In den Winkeln ihrer großen dunklen Augen glitzerten Tränen, vergrößert durch die Gläser ihrer Katzenaugenbrille.

      Annie kam zur Tür herein, aber keine der beiden sah sie an. Achselzuckend ging sie hinter ihren Schreibtisch und setzte sich.

      Diane hatte sich schon wieder im Griff, nur ihre Stimme klang ungewöhnlich leise und angespannt. »Ich weiß nicht, Schätzchen … vermutlich solltest du das dann lieber nicht übernehmen. Besser, jemand macht das, der ihn nicht so gut kannte wie du.«

      Katherines Kiefermuskeln spannten sich, und ihr Blick begann zu funkeln. »Wenn du mir den Auftrag entziehst, kündige ich.«

      Überraschung weitete Dianes Augen, und sie war einen Augenblick still, als müsse sie etwas abwägen. »Ich scheiß auf dich. Wenn mir wirklich an dir läge, müsste ich dringend dafür sein, dass du kündigst.«

      Annie hatte ihre Vorgesetzte noch nie so reden hören und blickte verdattert von einer zu anderen.

      Katherine lachte.

      »Ich hab ihm gesagt, du rufst ihn an, bevor du heute Schluss machst. Zeig ihm, wie wir uns überschlagen vor Bereitwilligkeit, mit der Staatsanwaltschaft zu kooperieren. Aber … sag mir noch eins. Bevor du von diesem Auftrag wusstest, was hast du dir davon versprochen, mit dem Staatsanwalt plaudern zu dürfen?«

      »Ich weiß nicht, was das jetzt zur Sache tut.«

      Annie konnte nicht recht entscheiden, ob dieser Wortwechsel Ernst oder Spaß war.

      »Hör mal zu, Mädchen. Dieser Spezialauftrag stellt mein Urteilsvermögen auf den Prüfstand. Ich hab nicht vor, für den Rest meines Lebens dieses gottverlassene Bronx-Ressort hier am Ende der Welt zu leiten. Also riskiere ich nicht dir zuliebe meinen guten Ruf, solange du nicht offen zu mir bist. Rede Klartext mit mir.«

      Katherine sah Diane ausdruckslos an. »Meine persönliche Involviertheit wird die Arbeit nicht beeinträchtigen.«

      Diane sah sie fordernd an. Das reichte ihr nicht.

      »Diane …« Katherine brach ab, dann fuhr sie in einem Ton fort, der ihrer gewohnten Stimme wesentlich näher war: »Du bist diejenige, die mir beigebracht hat, nichts von alldem hier persönlich zu nehmen. Und du hattest recht. Ich hätte Jonathan gar nicht erst so nah an mich heranlassen sollen.«

      Diane unterbrach sie scharf: »Das hab ich nie gesagt.«

      Katherine zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Ich werde diesen Fehler nie wieder machen. Aber Jonathan ist tot. Er ist tot, und ich will einfach wissen, was passiert ist. Sieh mal, ich hab mich seiner angenommen, wie man sich einem Projekt verpflichtet oder so, und dann habe ich ihn hängenlassen. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich war wütend auf ihn, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und er wusste, dass ich von ihm enttäuscht war. Ich hab ihn fallenlassen. Ich schulde ihm noch was.«

      Diane antwortete nicht. Die Stille zog sich in die Länge, und schließlich fand Annie, dass sie etwas sagen musste. »Du kannst dir doch nicht die Schuld daran geben.«

      »Ach nein?«

      Dianes Stimme war leise. »Guter Gott, er wurde ermordet. Das hat doch nichts mit dir zu tun.«

      »Da hat sie recht«, beharrte Annie. »Er wurde ermordet. Mord ist keine vorhersehbare Konsequenz von ein paar ausgefallenen Besuchen.«

      Nichts in Katherines Gesichtsausdruck änderte sich. »Wie auch immer. Dann ist es eben nicht meine Schuld. Jedenfalls hat es keinen Einfluss auf meine Befähigung, Mendrinos zu unterstützen.«

      »Kind …« In Dianes Augen standen wieder Tränen. »Ach, vergiss es. Die Mädchen warten mit dem Abendessen auf mich, und heute ist Mittwoch, also geh ich zum Gottesdienst. Und ich sag dir was, ich werd ein Gebet für dich sprechen, und eins für Jonathan. Gott segne seine arme kleine Seele.«

      Katherine wartete, bis Diane zur Tür hinaus war, und murmelte dann: »Was immer das bringen soll.«

      »Sie geht in die Kirche?«, fragte Annie.

      »Ja, das braucht sie wohl.« Katherine schüttelte den Kopf. »Sie hat’s mir mal erzählt, bevor sie hinging. Sie hatte da diesen Fall. Der Name des Kindes war Farrely. – Egal, vergiss es. Mich nervt es, dass sie hinrennt und zu Gott betet, der sich leider zu fein war, um Jonathan zu retten. Verdammt, ich begreife nicht, wie man zu einem Gott beten kann, der zulässt, dass dreizehnjährige Mädchen cracksüchtige Babys zur Welt bringen. Und den ganzen anderen Scheiß da.« Sie schwenkte die Hand in Richtung der Aktenberge auf ihrem Tisch, dann griff sie, ohne auf eine Antwort zu warten, zum Telefon.

      »Katherine, sag mir, dass du nicht glaubst, es wäre deine Schuld.«

      Katherine hielt inne, den Hörer in der Hand. »Natürlich nicht.« Sie tippte eine Nummer ein. Bevor sie die letzte Zahl drückte und den Hörer ans Ohr legte, sagte sie: »Frag Diane gelegentlich mal nach dem Farrely-Fall.«

      Aber Annie war sich ziemlich sicher, dass sie das lieber nicht wissen wollte.

      Fast fünfzehn Jahre lang war Katherine an jedem Werktagsmorgen mit der Linie D nordwärts gefahren. Und zwar in einem nahezu leeren U-Bahn-Wagen, weil sie gegen den Strom der Pendler schwamm, die stadteinwärts nach Manhattan unterwegs waren. Auf dem Heimweg saß sie dann wieder in einem leeren Waggon, während die Züge, die zurück in die Bronx fuhren, aus allen Nähten platzten. (»Das hätte dir eine Warnung sein müssen«, hatte Diane erklärt, als Katherine ihr das erste Mal von ihrem Lachs-schwimmt-gegen-den-Strom-Erlebnis erzählte. »Wenn alle anderen in Gegenrichtung streben, solltest du denken: Ich tu hier bestimmt was ganz Blödes.«)

      Vor gut drei Monaten hatte sie Barry verlassen, das gemeinsame Apartment aufgegeben und ihm auch gleich den gesamten gemeinsamen Freundeskreis überlassen. Die besagten Freunde waren davon, dass sie aus Manhattan wegzog, weit mehr überrascht als davon, dass sie Barry verließ. Sie hegten die unerschütterliche Überzeugung, dass ›die Bronx‹ als Kürzel stand für ausgebrannte Wohnblocks voller verwilderter Jugendlicher, die sich drohend an den Straßenecken zusammenrotten, während im Innern der schäbigen verfallenden Gebäude alles haust, was man sich unter der ekelhaften, verkommenen und zutiefst bösen Kehrseite der Zivilisation vorstellt. Ausnahmen bildeten allenfalls das Yankee-Stadion und der Botanische Garten.

      Katherine aber war nach Riverdale gezogen, in ein ruhiges, baumreiches Randviertel der Bronx mit teuren Häuschen, ­netten Apartmentkomplexen und ausgedehnten Grünanlagen am Ufer des Hudson.

      Barrys Attitüde wohlmeinender Toleranz gegenüber ihrem Beruf brachte sie auf. Schlimmer noch, alle ihre Freunde teilten seinen Standpunkt.

      Er hatte über die Jahre immer wieder Bemerkungen fallen lassen, wie gut alles wäre, wenn sie es bewerkstelligen könnte, sich ans Gericht von Manhattan versetzen zu lassen. Aber in all den Jahren war so eine Versetzung nie zustande gekommen. Was sie nicht weiter wunderte, sie hatte sie nämlich nie beantragt.

      Später klammerte er sich an die Hoffnung, sie würde in die Verwaltung des Zentralbüros Downtown befördert. Sie war doch so besessen von ihrer Arbeit. Die Sahne setzt sich immer oben ab, pflegte er zu sagen.

      Auch dazu kam es nicht. Barry verstand das nicht, fragte sie jedoch niemals direkt nach dem Grund.

      Katherine zollte seiner großzügigen Haltung keineswegs die gebührende Anerkennung. Vielmehr entwickelte sie im Laufe der Jahre einen abartigen Stolz auf den unvorteilhaften Nimbus ihrer Arbeit und auch der Gegend, wo sie ihr nachging. Und während sich Abendessen unter Freunden an Cocktailpartys reihten, fand Katherine es von Jahr zu Jahr schwerer, Interesse zu heucheln, wenn es um die Jobs ihrer gemeinsamen Bekannten ging. Die meisten schienen nichts anderes zu tun, als Vermögen von einem Reichen zum anderen zu transferieren.

      Jahrelang hörte sie zu, wie sie über Beförderungen diskutierten, über Einrichtungsstile,


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