Die Farbe der Leere. Cynthia Webb

Die Farbe der Leere - Cynthia Webb


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      »Er ist großartig. Er ist …«

      Brian ging rückwärts vor ihr, rang nach Worten und gestikulierte mit den Händen. Er stolperte über irgendetwas, schlug beinahe lang hin und fing sich gerade noch ab, so dass er auf dem Hintern landete. Miss Bennett bellte und sprang an ihm hoch, glücklich über dieses neue Spiel.

      Brian lachte. Es war das erste Mal, dass sie ihn lachen hörte. Dann kraulte er Miss Bennett hinter ihrem Schlappohr und rappelte sich vom Boden auf.

      »Na schön«, sagte Katherine nach einer Weile. »Das ist gut. Ihr habt einander, um zu reden.«

      Sein Gesicht verdüsterte sich wieder. »So oft kann ich ihn nicht sehen.«

      »Geht er nicht auf deine Schule?«

      Er schüttelte den Kopf. »Und wir müssen vorsichtig sein.«

      »Ich weiß«, sagte sie. Seit jeher verliebten sich Teenager gegen die Wünsche ihrer Eltern, lange vor Romeo und Julia, und in all dieser Zeit waren Eltern offensichtlich nicht klüger geworden. Begreifen sie denn gar nichts? Wenn es etwas gibt, das aufregender ist als die erste Liebe, dann ist es eine verbotene erste Liebe.

      »Es müsste doch irgendeine Anlaufstelle für schwule Jugendliche an deiner Schule geben.«

      Brian schnaubte verächtlich.

      »Schon gut, entschuldige. Aber irgendwo in der Gemeinde muss es einen Treff für schwule Kids geben. Ich meine, wir sind hier in New York City!« Sein verständnisloser Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass diese Worte für ihn nicht dieselbe Bedeutung hatten wie für sie. Wo sie aufgewachsen war, war New York City ein Synonym für Zügellosigkeit und Sittenverfall, für alles Unmoralische und Unerwünschte. »Vielleicht kann ich für dich eine Gruppe oder so was ausfindig machen. Du brauchst unbedingt jemanden, mit dem du reden kannst.« Statt mit mir, fügte sie in Gedanken hinzu.

      »Ja, das hat Rob auch gesagt.«

      »Rob hat recht.«

      »Ich weiß nicht. Ich glaube, ich kann so was nicht.«

      »Es schadet ja wohl nicht, ein paar Telefonnummern zu haben, falls du sie brauchst.«

      »Ich muss vorsichtig sein. Niemand darf was merken. Wenn doch, kann ich ihn nicht mehr sehen.«

      Ihr gefiel die Richtung nicht, in die das führte. Ein Minderjähriger, der in der Erziehungsgewalt seiner Eltern zu Hause lebte. Es stand ihr nicht zu, sich da einzumischen.

      »Denken Sie, ich bin pervers? Oder haben Sie keine Pro­bleme mit mir und Rob?«

      Er wusste längst, dass sie ihn nicht für pervers hielt. Also schön, dachte sie, wenn er es noch mal hören muss, sage ich es eben noch mal. Ich erteile dieser Beziehung den Segen einer Gay Pride-Stickerbesitzerin. »Nein, Brian, ich glaube nicht, dass du pervers bist.« Sie zögerte einen Augenblick, dann dachte sie: Wer A sagt … »Hör mal, Brian, muss ich mit dir über Safer Sex reden?«

      Sie waren wieder bei ihrem Hauseingang angekommen, und im Schein der Lampe über ihrer Tür sah sie, dass er knallrot wurde.

      »M-m, danke, nein. Rob ist bei so was wirklich vorsichtig.«

      Gott sei Dank. Sie fühlte sich sehr alt. Wenigstens blieb es ihr erspart, Nachhilfestunden mit Demo-Bananen und Kondomen zu erteilen.

      Zu guter Letzt blieb nur noch eins, was sie ihm sagen konnte. »Die meisten Leute, die zu kennen sich lohnt, hatten eine harte Zeit in der Schule. Dann geht man irgendwann raus in die Welt und wird man selbst. Du musst nur noch eine Weile durchhalten. Es kommt schon alles in Ordnung.«

      Sie hätte nach dem ersten Satz aufhören sollen. Sie hatte ihre eigene Regel gebrochen: Sie hatte einem Kind versprochen, was nicht zu halten war.

      »Im Ernst?«, fragte er. »Hatten Sie auch eine harte Zeit in der Schule?«

      »Es war die Hölle«, sagte sie und dachte: Und das ist noch krass untertrieben. »Ich muss jetzt rein, Brian. Pass einfach gut auf dich auf, okay?«

      Er blieb auf dem Gehweg stehen und sah zu, wie sie ihre Tür aufschloss. Miss Bennett bellte ihm noch einmal zu und zerrte Katherine dann nach drinnen.

      Sie zog ihre Jacke aus und füllte Wasser und Futter in Miss Bennetts Näpfe. Anschließend stellte sie sich an den kleinen Arbeitstresen in der Küche und widmete sich ihrer Post. Öffnete die unvermeidlichen Rechnungen, eine nach der anderen, bis sie zu dem letzten Brief kam, der unfrankierte und, wie sie jetzt bemerkte, auch unverschlossene weiße Umschlag. Das Blatt darin war einmal gefaltet. Als sie es aufklappte und sah, was es war, war ihr erster Gedanke: Nein, das kann nicht für mich sein, mir passieren solche Sachen nicht. Die Botschaft bestand aus einzelnen Buchstaben, die offensichtlich aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten waren.

      Noch ehe sie zu lesen begann, empfand sie spontane Erleichterung. Das konnte ja nur ein Witz sein. Oder ein Versehen. Es konnte unmöglich für sie bestimmt sein. Die ungleichen Buchstaben verkündeten: »Ich habe es Ihretwegen getan.«

      Ich habe es Ihretwegen getan.

      Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie noch einmal an Botschaften aus dem Jenseits. So sehr vermisse ich Jonathan, dachte sie. Wie ich es bereue, dass ich in den Wochen vor seinem Tod nicht mit ihm geredet habe. Aber Jonathan ist fort … ­wohin? Vermutlich ins Leichenschauhaus. Und nun war es zu spät. Sie konnte nicht mehr ändern, was geschehen war. Was sie für Seth getan und nicht getan hatte, und später für Jonathan. Sie hatte denselben Fehler erneut gemacht.

      Aber diese Botschaft kam natürlich nicht von Seth oder ­Jonathan. Sie kam von einer verrückten Person, einem Durchgeknallten. Oder einem der dämlichen Kinder aus der Nachbarschaft. Oder Brian schickte ihr eine obskure Nachricht, von der sein lustgetrübter Verstand annahm, sie könnte sie verstehen. Höchstwahrscheinlich bedeutete es jedoch einfach gar nichts. Es war nicht mal für sie bestimmt. Sie erlebte nichts dergleichen. Erlebte eigentlich gar nichts. Andere Leute erlebten etwas, sie nicht.

      Vielleicht wäre es aufrichtiger zu sagen, dass sie nichts unternahm. Sie hatte keine Familie. Sie sah sich lediglich an, wie andere aus ihren Familien einen Trümmerhaufen machten.

      Sogar ihre Ehe hatte sich irgendwie ohne ihr Zutun abgespielt. Das Apartment, die Partys, die Abendessen. Alles war so glatt gelaufen, Barry hatte wahrscheinlich überhaupt nicht gemerkt, dass sie gar nicht mitmarschierte.

      Sie warf den Brief in den Müll.

      Sie hatte vergessen, etwas zu essen. Im Licht des Kühlschranks thronte zwischen den ansonsten leeren Fächern ein einsamer, leicht verschrumpelter Apfel. Sie nahm ihn heraus und biss in die schlaffe weiche Haut. Durch das Fenster in ihrer Küche konnte sie über den flachen grünen Innenhof auf die Rückseite des Campbell’schen Reihenhauses gucken.

      Sie hatte es nie betreten, aber sie wusste, die Townhouse-Apartments waren alle gleich: zwei Schlafzimmer oben, eins unten. Die Campbells hatten ihre Gardinen und Jalousien noch nicht zur Nacht geschlossen. Brigit, Brians Schwester, saß an ihrem Schreibtisch. Mr. und Mrs. Campbell saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, sie konnte die Silhouetten ihrer Hinterköpfe vor dem blauen Schein ausmachen. Während sie hinschaute, ging in Brians Zimmer das Licht an. Sie sah, wie er den Raum durchquerte und die Jalousien schloss, dann warf sie das Apfelkernhaus in den Mülleimer.

      In ihrem Schlafzimmer zog sie sich eine Bürste durch die glatten braunen Haare und flocht sie schnell zu einem kurzen Zopf. Sie schnappte sich ihre Jacke, die sie auf einen Stapel ungeöffneter Umzugskartons gleich bei der Tür geworfen hatte, und ging.

      Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie sich entschied, das Auto zu nehmen. Doch sie hatte ihre Zeit zu knapp bemessen, also fischte sie die Autoschlüssel aus der Tasche und ging rüber zum Parkplatz. Die Straßenbeleuchtung und die Lichter des Gebäudes verhinderten auch in einer mondlosen Nacht die ­totale Dunkelheit, aber unter den Ästen der Bäume standen die Autos in tiefem Schatten.

      Sie schob gerade den Schlüssel ins Türschloss, als sie aus dem Augenwinkel irgendein kleineres


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