Die Farbe der Leere. Cynthia Webb

Die Farbe der Leere - Cynthia Webb


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den Anstand besaß, beim Erscheinen eines Menschen zu flüchten. Unwillkürlich trat sie mit dem Fuß zu und verschätzte sich in der Entfernung. Der sture Nager bewegte sich nicht mal, als ihr Schuh ihn berührte. Der Tritt traf mit einem stumpfen Aufprall, und sie empfand Widerwillen bis in die Knochen. Sie hatte ein totes Tier getreten.

      Und es war keine Ratte. Sie trat näher. Definitiv keine Ratte. Eigentlich konnte sie nur feststellen, dass es aufgeschlitzt war. Wegen der Verstümmelung, dem vielen Blut und der Dunkelheit konnte sie nicht sicher sein, aber sie befürchtete, dass es sich um Jodis fette schwarzweiße Katze handelte.

      Sie fühlte sich benommen. Sie hatte nicht direkt Angst. Sie war noch nie sonderlich schreckhaft gewesen. Es war einfach die Konfrontation mit etwas, das niemand gern sah. Dem Tod.

      Was war hierfür verantwortlich?

      Ein Koyote war im Park gesehen worden. Sie selbst hatte ein paar Waschbären erspäht. Würde ein Waschbär eine Katze umbringen? Sie wusste es nicht. Sie kannte keine Hunde in der Nachbarschaft, die gefährlich genug aussahen, um so etwas zu tun, aber das war natürlich auch eine Möglichkeit. Arme Jodi. Obwohl der Gedanke, die gestörte Newsprint hätte am Ende einen Hund zu viel getriezt, auch was von höherer Gerechtigkeit hatte.

      Sie kam zehn Minuten zu spät in Peter’s Pub an, weil sie sich noch die Zeit genommen hatte, den Hausmeister Mr. Donnelly aufzusuchen und ihm den Vorfall zu melden. Der ältere Mann war ängstlich darum besorgt, Katherine zu überzeugen, dass er der Situation gewachsen war. Er würde alles sauber machen und Jodi Bescheid sagen, und morgen würde er allen eine Notiz zustellen, die sie davor warnte, ihre Haustiere frei herumlaufen zu lassen. »Das ist auch gegen die Vorschriften«, verkündete er ernst, dabei wussten sie beide, dass er immer ein Auge zudrückte, weil er zum einen tierlieb und zum anderen mehr als nachlässig war.

      Der Pub war fast leer. An der Bar hingen ein paar Männer in der typischen Haltung von Leuten, die schon eine Weile auf einem Barhocker ausharrten und dies auch noch längere Zeit vorhatten. Mendrinos saß an einem der wenigen Tische, die Tür im Blick, ein Bier vor sich.

      Er stand auf, als sie hereinkam. Sie war aufs Neue überrascht, wie dünn er war. Und wirklich sehr groß, das hatte fast etwas Komisches bei jemandem, der so gar kein Athlet war.

      »Danke, dass Sie extra den Weg auf sich genommen haben«, sagte sie. Bei ihrem Telefonat am Nachmittag hatte er auf einem Treffpunkt in der Nähe ihrer Wohnung bestanden. Er werde ziemlich spät noch im Büro zu tun haben und wolle nicht, dass sie so lange im Gericht auf ihn warten musste. Wobei er stillschweigend davon ausging, dass sie das selbstverständlich getan hätte. Und tatsächlich, das hätte sie. Aber Mendrinos hatte keine Ahnung, dass die Arbeitskultur beim ACS normalerweise nicht die endlosen Überstunden und die ständige Verfügbarkeit voraussetzte, die der Job eines Staatsanwalts mit sich brachte.

      »Ist mir ein Vergnügen. Nehmen Sie doch Platz. Ich bestelle Ihnen ein Bier.« Seine Stimme war ruhig und höflich, dabei sehr selbstsicher. An der Grenze zur Arroganz.

      Sie hatte schon ewig kein Bier mehr getrunken. Der hefige Geruch, das schummerige Licht und der angeknackste zerkratzte Tisch führten sie fast in Versuchung. Sie schüttelte ablehnend den Kopf und schälte sich aus ihrer Jacke. Dabei verfing sich ihr kurzer Zopf im Kragen, und sie schüttelte wieder den Kopf, um ihn zu befreien. Endlich streifte sie die Jacke ab und ließ sie als Haufen auf den nächsten Stuhl fallen.

      Er sah aus, als hätte er eine Rede für sie vorbereitet, aber sie hob die Hand, bevor er zu sprechen begann. »Ich muss Ihnen zunächst etwas sagen. Ich kannte Jonathan Thomson. Ich war bei ACS für seinen Fall zuständig und anschließend ehrenamtlich als seine Mentorin tätig.«

      Sie hatte mit Ressentiments und Widerstand gerechnet und sich darauf vorbereitet, ihn zu überzeugen, dass sie trotzdem die Richtige für diesen Auftrag war, aber in seiner Miene lag keinerlei Überraschung. Allerdings mied er ihren Blick, als sei das Thema ein wenig peinlich.

      »Ich bedauere Ihren Verlust«, sagte er. »Diane hat mich heute Nachmittag schon angerufen und mir erzählt, dass Sie mit dem jüngsten Opfer befreundet waren. Das muss hart für Sie sein.«

      Sie zuckte die Achseln, als wäre das nebensächlich. »Ich habe ihn seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Also wollen Sie nicht jemand anderen anfordern?« Na toll, Katherine, rügte sie sich. Diesen Vorschlag hättest du dir ja wohl besser gespart.

      »Nach allem, was ich höre, wird das kaum nötig sein. Diane findet nicht, dass die Umstände gegen Ihre Mitarbeit sprechen. Sie denkt vielmehr, Sie könnten bei den Ermittlungen eine große Hilfe sein. Die Frage ist höchstens, ob Sie glauben, Sie kommen damit klar. Gefühlsmäßig.« Sein Blick heftete sich auf die Tischplatte, als ob das letzte Wort ihn verlegen machte.

      »Kein Problem.«

      »Gut.« Er ließ die Verschlüsse seines Aktenkoffers aufschnappen, zog eine Akte heraus und legte sie auf den Tisch. »Wir nennen den Täter ›Jack‹.« Sein schiefes Lächeln zeigte, dass das nicht seine Idee war. »Wenn unser Jack alle drei umgebracht hat, und es sieht ganz danach aus, dann gibt es ­irgendetwas, was die Opfer gemeinsam hatten und was uns zu ihm führen kann. Alle drei haben in der Bronx gelebt, aber die Leichen waren über die südliche Hälfte des Stadtteils verteilt. Keins der Opfer stammte aus derselben Nachbarschaft, es wäre also gut zu wissen, wo sie Jack in die Arme gelaufen sein könnten. Die Ermittlungen haben schon etliche Möglichkeiten eliminiert. Sie gingen nicht auf die gleiche Schule, hatten keine gemeinsamen Freunde, soweit wir das überblicken, sie arbeiteten auch nicht am gleichen Ort. Nehmen Sie Thomson. Sie werden seine Geschichte besser kennen als ich. Seine Mutter starb an …« Er schlug die Akte auf.

      »AIDS.«

      Er nickte. »Über den Verbleib des Vaters ist nichts bekannt.« Diesmal fiel sein fragender Blick auf sie statt in die Akte.

      Sie nickte abwartend.

      »Es gibt einen Onkel in New York, der den Vater des Jungen zuletzt gesehen hat, als der vor sieben Jahren ›für ein paar Tage‹ seinen Sohn bei ihm ablieferte. Alle anderen Verwandten leben in South Carolina. Der Junge ist ihnen nie begegnet. Seine Leiche bleibt in Verwahrung, bis wir da unten jemanden erreicht haben.«

      Sie nickte wieder.

      »Soweit ich gehört habe, war er …«, er zögerte, »ein interessanter Junge.«

      Sie fand es aussichtslos, jemandem Jonathan zu erklären, der ihm nie begegnet war. »Ja, das kann man wohl so sagen.«

      Mendrinos bemerkte die dunklen Ringe um Katherines ­Augen, die Art, wie an ihren Handgelenken die Knochen scharf hervortraten. Keine Armbänder, Ohrringe oder Halsketten. Kein Ring. Ihre Hände waren zierlich und ihre Haut so hell, dass er die blauen Linien ihrer Venen an den Innenseiten der Handgelenke sah. »Ich muss Sie warnen. Es handelt sich hier um ungewöhnlich brutale Gewaltverbrechen. Wir benötigen Ihre Hilfe nur im Bereich Ihrer Spezialkenntnisse, nicht beim gerichtsmedizinischen Teil. Es besteht also kein Anlass, sich mit den forensischen Details dieser Verbrechen zu befassen. Tatsächlich rate ich Ihnen energisch davon ab.«

      Sie sah ihm direkt in die Augen. Darauf war sie vorbereitet. »Hat Diane Ihnen nicht erzählt, dass sie mir die schlimmsten Missbrauchsfälle zuweist? Die, die sonst niemand verarbeiten kann? Ich habe jede Menge Autopsieberichte gesehen. Ich finde, das Schlimmste sind verhungerte Kinder. Ich habe so viele gesehen, dass ich Ihnen genau beschreiben kann, wie ihre Körper die Muskeln metabolisieren und in welchen Stadium der Dehydration die Lippen aufbrechen.«

      Sie merkte, wie sie immer schneller sprach und damit den Eindruck kompetenter Sachlichkeit ruinierte. Sie zwang sich zur Ruhe.

      »Oder vielleicht möchten Sie etwas über das gekochte Baby hören. Oder den Vorfall mit den polnischen Würstchen. Oder über den Fall, den wir das Knack-und-Back-Baby nannten …« Sie brach ab. Sie war zu weit gegangen. »Sagen Sie es mir, bevor wir anfangen. Ich will wissen, was mit Jonathan passiert ist. Ich verkrafte das.«

      Ihr wurde erst bewusst, dass sie ihn anstarrte, als er seinen Blick von ihrem löste und irgendwo in die Ferne sah. Seine Stimme klang so professionell wie


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