Das Duell des Herrn Silberstein. Horst Bosetzky
viel gelobten Roman die berühmteste Stelle, die mit der Tänzerin und dem Kind, vorzulesen. Ein Exemplar seines Romans liege bereit.
Wilhelm Raabe leistete dieser Bitte auch Folge, wobei ihn seine Schüchternheit noch sympathischer machte. Unsicher und mit schwacher Stimme begann er und brauchte einige Zeit, sich zu fangen, ohne auch dann die Ausstrahlung eines gelernten Schauspielers zu erreichen:
»Arme, arme Mutter! Mit geschminkten Wangen und den Tod im Herzen zu tanzen! Du hörst nicht die tausend jubelnden Stimmen der Menge, du hörst nicht die rauschende Musik: das Ächzen des winzigen, sterbenden Wesens in der fernen Dachstube übertönt alles.«
Sarah Silberstein registrierte mit heimlicher Zufriedenheit, dass da kein Auge trocken blieb, auch so hartgesottene Männer wie der Leutnant, der Banquier und allen voran ihr Schwager kamen gegen ihre Rührung nicht an. Erst recht nicht an der Stelle, wo die Tänzerin nach Ende der Vorstellung mit der Droschke nach Hause fährt und die Treppe hinaufläuft. Totenbleich ist sie, wirft den nassen Mantel zu Boden und stürzt im fantastischen Kostüm einer Teufelin auf das Kinderbettchen zu.
»Mein Kind! Mein Kind!«, flüstert sie, in grässlicher Angst den Doktor ansehend. Sie beugt sich, sie hört den leisen Atem des Kindes: Es lebt noch! – Das schwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glasdiamanten und feuerroten Bändern sinkt auf das ärmliche Kissen.
»Mama, liebe Mama!«, stöhnt das sterbende Kind, mit den kleinen fieberheißen Händchen durch die schwarzen Haare der Mutter greifend, dass die Steine darin blitzen und funkeln. – – Jetzt läuft ein Schauer über den kleinen Körper – – –
»Vorüber!« – sagt der alte Doktor dumpf …
Als Wilhelm Raabe geendet hatte, folgten lange Sekunden ergriffenen Schweigens, bis Sarah Silberstein, die anderen gleichsam erlösend, zu klatschen begann und nacheinander alle mit einfielen. Nach Ende der Beifallskundgebung wurde zu Tisch gebeten.
»Alles fertig machen zur Abfütterung!«, rief Jason Silberstein. »Wer bis jetzt gelitten hat, weil er nicht mitreden konnte, wenn es um Magen- und Gallenleiden ging, der freue sich auf den fetten Lachs und den holländischen Beiguss.«
»Wir haben Roulettes von Seezungen, lieber Schwager«, wurde er postwendend korrigiert. »Das Krebsragout, das eigentlich dazu gehört, habe ich aber weglassen müssen, da es nicht koscher ist.«
»Wer ausschließlich geistige Nahrung möchte, kann gern in die Bibliothek gehen«, sagte Friedrich Silberstein.
»Nein, lieber nicht, die hast du selber gebaut.«
»Onkel Jason!«, warnte Aaron Silberstein den Spötter und beeilte sich, ihn zur Seite zu drängen und den Platz neben Charlotte Chaumont zu ergattern. Das gelang, und er war froh, dass Katharina Rosentreter zu sehr im Gespräch mit Leutnant v. Treppeln vertieft war, um diesen kleinen Affront zu registrieren.
Der Lohndiener tat sein Bestes, um alle zu versorgen. Richtig feierlich wurde es nun. Im hellen Kerzenschimmer kam alles wirkungsvoll zur Geltung, was auf der Tischwäsche aus weißem Damast zu sehen war: die grünen Römer, das helle Kristall, das feine Porzellan und die Blumenschalen, die Rheinweinflaschen mit ihren schlanken Hälsen und die bauchigen Rotweinkaraffen.
Die Gespräche kreisten um das Ende des Krimkrieges, um den Einfluss Moses Mendelssohns und die Frage, wie einem bedeutenden Dichter wie Joseph von Eichendorff die Rolle eines unbedeutenden preußischen Beamten gefallen haben mochte.
»Ab 1820 war er ja Regierungsrat in Danzig, anschließend Oberpräsidialrat in Königsberg, um dann ab 1831 hier in Berlin im Kultusministerium tätig zu sein.« Aaron Silberstein sagte dies in Richtung seiner charmanten Tischnachbarin. »Und wie lange sind Sie in Berlin?«
Jason Silberstein, der mitgehört hatte, lachte. »Seit dem Moment ihrer Zeugung.«
»Onkel!« Aaron Silberstein konnte nicht anders, als erheblich zu erröten.
Charlotte Chaumont tat so, als hätte sie den Zwischenruf gar nicht vernommen. »Wie lange ich in Berlin bin? Ich bin hier auf die Welt gekommen.«
»Oh, Pardon!« Aaron Silberstein beeilte sich, zu Eichendorff zurückzukehren, und wandte sich dabei an Wilhelm Raabe. »Sie, der Sie selber Dichter sind, müssten das doch am ehesten einschätzen können, wie sehr er unter dem ungeliebten Beamtendasein gelitten hat, wie schmerzlich ihn der doppelte Verlust getroffen hat: einmal den der Heimat, Schloss Lubowitz in Oberschlesien, dann auch jenes unbeschwerten Lebens, wie es so nur der Landadel führen konnte. Unauslöschliche Unzufriedenheit soll ihn ausgefüllt haben, wurde mir von Menschen gesagt, die ihn länger kannten.«
»Ach!«, rief seine Mutter. »Er war tief religiös, und er hat voll und ganz an die Macht der Poesie geglaubt, das hat ihn getragen.«
Und es war Charlotte Chaumont, die ein Gedicht Eichendorffs vortragen konnte: »Gleichheit. – Es ist kein Blümlein nicht so klein, / Die Sonne wird’s erwarmen, / Scheint in das Fenster mild herein / Dem König wie dem Armen, / Hüllt alles ein in Sonnenschein / Mit göttlichem Erbarmen.«
»Gleichheit – ausgerechnet er!« Da konnte Jason Silberstein nicht mehr an sich halten und begann, heftig gegen Eichendorff zu polemisieren. »Ein Philister ist er gewesen, ein fürchterlicher Reaktionär. Die Pressezensur hat er gelobt, ein banales Leben hat er geführt, nichts getan, um den Mehltau hinwegzupusten, der über Deutschland liegt. Kein Mitleid mit den Entrechteten, kein Wort über Schweiß und Mühe, die Arbeit als solche.«
»Das muss gerade einer wie du sagen«, murmelte sein Bruder.
Jason Silberstein ließ sich nicht beirren. »Und seine Reime erst. Biedermeierliche Butzenscheibenpoesie, nichts weiter. Herz und Schmerz, Lust und Brust, Wald und schallt, Armen und erwarmen.«
»Hab Mitleid mit ihm«, sagte seine Schwägerin und kam nun selber mit einem Eichendorff-Gedicht: »Und keiner kennt den letzten Akt / Von allen, die da spielen, / Nur der da droben schlägt den Takt, / Weiß, wo das hin will zielen.«
»Wer ist das: der da droben?«, fragte Jason Silberstein. »Der Gott der Juden, der Christen, der Mohammedaner, der Indianer oder der Menschen auf den Fidschi-Inseln?«
»Es gibt schon Unterschiede«, sagte Katharina Rosentreter, indem sie in Richtung des Mannes blickte, mit dem sie sich verlobt fühlte. »Auch wenn es nur den einen Gott geben sollte, so ist es doch etwas ganz anderes, ob man als Jude, Katholik, Protestant, Mohammedaner oder Buddhist durchs Leben geht. Und wer da querbeet heiratet, wird es immer bereuen.«
Weil ihm diese Bemerkung mehr als peinlich war, lenkte Aaron Silberstein das Gespräch schnell auf das Allgemeine, auf den Pantheismus, auf die Berliner Haskala, auf die Freundschaft zwischen Lessing und Moses Mendelssohn und das Modell »Nathan der Weise«.
Danach war das Souper beendet, und die Damen begaben sich in die Bibliothek, um über die neueste Mode wie die Skandale an den Berliner Bühnen zu diskutieren, während sich die Herren ins Rauchzimmer zurückzogen. Viele in Berlin, ob hoch oder niedrig, liebten es, den Duft der virginischen Blätter mit Wohlbehagen in die Lungen zu ziehen und wieder auszustoßen.
»Wo man raucht, da magst du ruhig harren, / Böse Menschen rauchen nie Zigarren«, sagte Friedrich Silberstein und hielt seinen Gästen eine Kiste hin, die er sich aus Kuba hatte kommen lassen.
Sie hatten kaum ihren Rauchgenuss beendet, da wurden sie von Sarah Silberstein in den Salon zurückgerufen. Dort hatte inzwischen Julius Linde, der Puppenspieler, seine kleine Bühne aufgebaut. Begonnen hatte er mit seinen Handpuppen und Marionetten in anrüchigen Kneipen, sich dann aber über bessere Lokale bis zu einem Engagement bei Kroll hochgearbeitet und war schließlich Direktor und Regisseur des Liebhabertheaters Amicitia im Restaurant Königsbank in der Großen Frankfurter Straße geworden. Seine größte Entdeckung war Carl Helmerding, einer der berühmtesten Schauspieler seiner Zeit. »Ick habe Helmerdingen uff de Bühne jebracht, ick hab’n anjelernt. Wat er kann und is, hat er von mich«, hatte er auch heute gesagt.
Sarah Silberstein stellte Linde nicht als Mimen, der er auch war, sondern als Puppenspieler vor.