Kommissar Schlemperts zweiter Fall: Recht & Unrecht. Michael Schlinck
Welt gesehen hat. Die Algen und die anderen Wasserpflanzen, die an Wischern und den Außenspiegeln getrocknet herunterhängen, runden das traurige Bild ab. Dass die Rückbank mit Decken, Konservendosen, einem Campingkocher und sonstigem Krimskrams belagert ist, deutet an, dass es sich bei unserem Opfer um einen Globetrotter handelt.
Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Weltenbummler ohne feste Wurzeln. Gemeldet in Frankreich, mit holländischem Namen, auf der ganzen Welt zu Hause. Ermordet, ausgerechnet in meinem Revier. Wo soll ich da nur ansetzen? Mensch, wäre ich doch nur zu Hause geblieben. Dann hätten wir den Panda einfach in Lingenfeld oder so in den See geschmissen und somit hätte sich jemand anderes damit rumärgern müssen. Mich macht das verrückt, so im Dunkeln zu tappen.
Da ich mir das Leichenschauhaus nicht antun will, fahre ich zurück nach Landau. Leichen sind nicht so meins. Manche Kollegen sagen, dass der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung so viel über den Fall aussagen würden. Ich brauche das nicht. Immerhin hab ich eine Aufklärungsquote von einhundert Prozent. Und das, obwohl ich die Opfer nie gesehen habe, also zumindest nicht nach ihrem Ableben. So soll es auch bleiben.
Als ich zurück in unser Büro komme, telefonieren alle. Laura auf Französisch, Timo auf Deutsch. Logischerweise versuche ich Timos Gespräch zu folgen.
„Wird erledigt“, sagt er. „Ja, selbstverständlich werden wir alle Presseanfragen an Sie verweisen. Natürlich überprüfen wir stündlich unseren Maileingang, um Ihre Memos sofort umzusetzen. Ja, Herr Heuler, mir ist es eine außerordentliche Ehre, unter Ihren fähigen Händen arbeiten zu dürfen. Auf Wiederhören.“
Mit „du alte Schleimbacke“ mache ich mich bei Timo sicher nicht gerade beliebt, aber ich konnte eben nicht anders.
Jetzt setzt auch Timo an: „Hör mal zu, Dieter. Wenn du dich weiter so mit dem Heuler anlegst, musst du damit rechnen, dass er dich austauschen wird. Dann will ich gerüstet sein. Ich brauche den Job hier. Außerdem rechne ich mir eben Chancen aus, deine Position zu übernehmen, wenn du es dir komplett verschissen hast.“
So, das hat gesessen. Schlagartig wird mir klar, dass ich den Fall lösen sollte, um meinem Vorgesetzten und meinem Kollegen die Grundlage für irgendwelche Intrigen zu entziehen. Nur, wie soll das gehen? Auf der Tafel stehen nach wie vor nur zwei Namen und ich habe keinerlei Anhaltspunkte. Ich muss dringend nachdenken. Aber umso mehr ich mir das Hirn zermartere, umso weniger kommt dabei raus. Vielleicht wäre es ja auch das Beste, wenn Timo die Abteilung leiten würde. Gut, er ist noch sehr jung, aber immer motiviert und zuverlässig. Alles Dinge, die man von mir nicht gerade behaupten kann. Polizist bin ich eigentlich nur geworden, weil mir ein Sandkastenfreund immer davon vorgeschwärmt hat. Dementsprechend oft haben wir damals Räuber und Gendarm gespielt. Das war ja auch cool, so im Wald herumzurennen und den anderen zu jagen. Schnell musste ich aber feststellen, dass man in dem Job die meiste Zeit am Schreibtisch verbringt. Endlos Berichte tippen und so ein Scheiß. Dann wurde in Landau die Arbeitsgruppe Kapitalverbrechen gegründet. Das war meine Chance, aus den grünen Klamotten herauszukommen und einen coolen Dienstwagen zu fahren. Zudem hab ich noch zwei Mitarbeiter bekommen, die die ungeliebten Sachen übernehmen, wie den Schreibkram eben. Was ich dabei allerdings vergessen hatte, war, dass ich weder Leichen noch Blut sehen kann, ohne dass es mir elend wird.
Ich glaube, ich sollte erst mal wieder mit Timo Frieden schließen. Ich meine, dass es sehr unproduktiv wäre, wenn wir nun auch im Team gegen- anstatt miteinander ermittelten.
„Komm, Timo, lass uns reden“, winke ich deshalb mit der weißen Flagge.
Gemeinsam gehen wir nach draußen und ich ziehe am Automaten noch zwei Kaffee. Unten auf der Terrasse setzen wir uns an einen kleinen Tisch, auf dem ein Aschenbecher überquillt.
„Sorry, Timo“, beginne ich das Gespräch, „das alles ist jetzt ein wenig blöd gelaufen. Meine Familie ist nicht gerade begeistert, dass ich den Urlaub abgebrochen habe. Das kannst du dir ja denken. Und ganz ehrlich, der Heuler geht mir so was von auf die Nerven, dass ich schon mit Widerwillen zur Arbeit komme. Das wird mir einfach alles zu viel. Vielleicht hast du recht und unsere Arbeitsgruppe wäre besser in deinen Händen.“
„Komm, Dieter, auch du weißt, dass ich große Stücke auf dich halte.“ Will er sich nun auch bei mir einschleimen? „Aber ich will weiter von dir lernen und nicht sehen, wie du in einer Depression versinkst. Komm, geh doch wieder joggen, das hat dir immer geholfen. Bekomme deinen Kopf in den Griff, dann knacken wir auch den Fall.“
Nun glaub ich doch, dass er es ehrlich meint und nicht nur schleimen will. So gehen wir wieder nach oben und nehmen erneut am Besprechungstisch Platz.
Zuerst berichte ich von meinem Besuch bei Klaus Reuter. Viel Interessantes habe ich ja nicht zu erzählen. Laura hat halb Südfrankreich angerufen. Anscheinend hat Charles van de House seine Wohnung nur als Unterstellort für seine Habseligkeiten genutzt und äußerst selten dort übernachtet. Selbst direkte Nachbarn können ihn nur vage beschreiben. Was sie allerdings beschrieben haben, würde zu der Wasserleiche passen, die Laura gestern gesehen hat.
Timo hat auch nicht viel im Internet gefunden. Eigentlich nur, dass van de House ein in Frankreich nicht gerade geläufiger Name ist, während es in Holland Tausende Einträge gibt. Ich hoffe, dass das Meldeamt von Toulon uns bald das Meldeblatt zukommen lässt, damit wir endlich mal irgendwo anfangen können.
„Gibt es das denn“, lass ich nun meinen Frust heraus, „können wir denn nichts tun als warten?“
Und so ist es. Genau so ist es. Warten, dass etwas von Frankreich kommt. Warten, bis der Obduktionsbericht kommt. Warten, bis jemand eine Vermisstenanzeige aufgibt und unser Opfer identifiziert. Warten auf den Bericht der Spurensicherung. Es ist einfach zum Mäusemelken. Da es eh schon auf siebzehn Uhr zugeht, beschließen wir, Feierabend zu machen und uns zum Ausgleich morgen eine halbe Stunde früher zu treffen. Laura erklärt sich noch spontan dazu bereit, mich nach Hause zu fahren, damit ich den ungeliebten Kadett loswerde und wieder in meinem Mini herumdüsen kann.
Zu Hause angekommen, nehme ich mir Timos Rat zu Herzen und krame meine Laufsachen hervor.
Wie ich so losjogge, muss ich schon sagen, dass mein Kollege absolut recht hatte. Bei so einer sportlichen Betätigung ändert sich schlagartig das Stimmungsbild. Inzwischen stehen schon zweihundertfünf Meter auf meiner Fitness-App und ich habe das Gefühl, Berge versetzen zu können. Bei dreihundertzwanzig Metern öffnen sich die Poren und bei dreihundertfünfundfünfzig Metern bade ich im eigenen Schweiß. Bei dreihundertneunzig Metern passiere ich endlich das Ortsschild und bereue, mich auf die Körperertüchtigung eingelassen zu haben. Schlagartig drossele ich die Geschwindigkeit um zwei Drittel mit dem Vorsatz, wenigstens das Stück Radweg, das an der B48 entlangführt, im Laufschritt zu schaffen.
Ich schaffe es. Auch wenn ich dabei sicher wie ein Gehbehinderter auf der Flucht ausgesehen habe. Zwischendurch hat auch mal ein Autofahrer gehupt. Warum weiß ich nicht. Der Schweiß lässt meine Augen dermaßen brennen und tränen, dass ich im Blindflug dem heiß ersehnten Vollochweg entgegentaumle. Das Hupen war sicher nur der Gruß eines Bekannten, könnte aber auch eine Warnung gewesen sein, weil ich nichts sehend den Radweg verlassen habe und der Fahrbahn gefährlich nahe gekommen bin. Wieder so eine Sache, die ich nie erfahren werde.
Jetzt stehe ich am Anfang des Vollochwegs und habe eine ausgeprägte Schnappatmung. Anstatt meiner Beine fühle ich nur ein Brennen. Das Höllenfeuer fühlt sich sicher identisch an. Ein Wunder, dass sie mich noch tragen, meine Beine. Dabei war ich noch vor nur einem Jahr topfit. Urplötzlich ist alles aus dem Ruder gelaufen. Ganz schnell war der Spaß am Laufen einfach weg. In der gleichen Zeit haben Axel und Stan die Dashwings verlassen. Ja, die Deutschrockband, in der ich die Leadgitarre gespielt habe, war somit auch Geschichte. Wie ich so am Anliegerfreischild lehne, hab ich schon das Gefühl, dass es schwarze Katzen von links auf mich herabregnet.
Glücklicherweise geht der Nachhauseweg bergab, was dazu führt, dass ich ihn im Trab bewältige. Meine App interessiert mich schon längst nicht mehr. Als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich mitten auf der Fahrbahn meinen Nachbarn stehen.
Der Reiner ist ja schon ein seltsamer Kauz. Ich würde wetten, dass er ursprünglich Rainer hieß, sich aber, wegen einer aus seiner Sicht genialen