Auszeit. Gaby Trippen

Auszeit - Gaby Trippen


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setze mich hin und stehe sofort wieder auf. Mein Magen knurrt, mir fällt ein, dass meine normale Abendessenszeit lange vorbei ist. Bei dem Gedanken an konkrete Nahrung ist das Knurren schlagartig vorbei und ich habe einen riesigen Kloß im Hals. In der Küche liegt noch der geputzte und halb vorbereitete Salat auf der Arbeitsplatte, die Tomaten hatte ich schon aus dem Kühlschrank genommen und die Pfanne für das Fleisch auf den Herd gestellt, Öl hineingegeben. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich wollte den Herd gerade einschalten – wir haben uns im vergangenen Jahr einen Induktionsherd geleistet, als die Welt noch in Ordnung war, der alte hatte schon fast 20 Jahre auf dem Buckel, er tat es zwar noch, aber Richard meinte, ein neuer müsse her. Und im Nachhinein hat sich dieser Herd, der sich nur dann erhitzt, wenn ein Topf mit etwas Essbarem draufsteht, als segensreich erwiesen, denn sonst hätte Herr Schröder, der mir beim Kochen „hilft“, seit er groß genug ist, um die Herdplatte zu erreichen, schon längst gegrillte Vorderfüße - als Richard in der Küchentür stand, mit diesem Gesichtsausdruck, den ich so fürchte und sagte: „Andrea, kommst du bitte mal mit!“, mehr Befehl als Bitte…

      Rund 40 Minuten später bin ich, Andrea Häussler, 50 Jahre, 4 Monate und ein paar Tage alt, sozusagen „frisch getrennt“.

      Was mache ich denn mit dem Salat? Und dem Fleisch? Appetit habe ich kein bisschen darauf, wenn überhaupt auf irgendetwas, dann vielleicht Zwieback, oder Hühnersuppe, so wie meine Mutter sie mir früher gemacht hat, wenn ich krank war. Andererseits, ich kann doch jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und mich mit irgendetwas Essbarem vor den Fernseher hocken und „Soko Leipzig“ anschauen, das eben angefangen hat. Obwohl ich ja Marco Girnth normalerweise schon sehr gern sehe…

      Wenn ich jetzt den Salat wegwerfe und Richard kommt womöglich morgen Abend schon wieder, das wäre doch pure Verschwendung. Könnte ich doch das für heute vorgesehen Abendessen morgen machen, das Fleisch ist noch in der Verpackung und der Salat sieht auch noch ganz knackig aus. Und wenn ich ein bisschen mehr von dem Balsamico-Dressing nehme, das er so gern mag, dann fällt es vielleicht gar nicht auf, dass der Salat schon einen Tag alt ist…

      Richard ist weg, Andrea, er ist nicht nur mal eben ins Dorf gefahren, Eis holen, oder noch mal kurz ins Büro, weil er wichtige Unterlagen vergessen hat, die er heute Abend noch durcharbeiten will. ER IST WEG! Er will dich nicht mehr! Er hat gesagt, er könne so nicht weiterleben, ob er ohne dich leben könne, wisse er noch nicht, aber er wisse definitiv, dass er nicht mehr mit dir leben könne. Nicht nach allem, was vorgefallen sei.

      Da ist diese Stimme in mir, die sich nur dann meldet, wenn etwas schiefläuft oder ich mal wieder den von mir selbst oder anderen an mich gestellten Ansprüchen nicht genüge: „Würdest du dich bitte KON-ZEN-TRIE-REN!“, sagt sie beispielsweise, wenn ich morgens mal wieder ungeschickt mit meinen Kontaktlinsen herumfuhrwerke, obwohl ich nun schon seit mehr als dreißig Jahre jeden Morgen die Dinger einsetze, manchmal klappt es einfach nicht sofort. Oder „Der Müll MUSS in die Garage! JETZT!!!“, wenn ich eigentlich tausend wichtigere Dinge zu tun habe. Und jetzt gerade in diesem Moment versucht sie, mir unmissverständlich klarzumachen, dass ich diesmal wirklich richtig tief in der Tinte sitze.

      Ich weiß nicht, wie andere Frauen mit so einer Situation umgehen. Weinen sie, schreien sie, zertrümmern sie Porzellan oder zerschneiden sie Fotos, trinken sie so viel Wein, bis sie in ein gnädiges Vergessen schenkendes Delirium fallen, aus dem das Aufwachen am nächsten Morgen umso schmerzhafter ist? Ich bin offensichtlich anders, ich habe nicht das Bedürfnis zu weinen oder mich sonst irgendwie „gehenzulassen“. Es ist, als ob mein Verstand ein großes Rolltor heruntergelassen hätte und damit diese ungeheuerliche Tatsache, dass mein Mann mich soeben verlassen hat, einfach außen vorlässt. Auf der anderen Seite des Tors ist zurzeit nur Platz für praktische Gedanken, eben was ich mit dem Salat mache, ob ich jetzt besser die Mäuse noch mal in den Garten lassen sollte, weil in ein paar Minuten die elektrischen und zeitschaltuhrgesteuerten Jalousien an den Terrassentüren heruntergehen, und ob ich die Haustür schon abgeschlossen habe. Das Andere wird später kommen, dessen bin ich mir gewiss. Aber eins nach dem anderen, wie sagte schon Scarlett O´Hara, nachdem Rhett Butler sie verlassen hat? „Verschieben wir‘s doch auf morgen“. Bin ich vielleicht so eine Art reinkarnierte Scarlett? Ach nein, das war ja nur eine Kunstfigur, erfunden und zu Unsterblichkeit gebracht von Margaret Mitchell. Dennoch, gewisse Ähnlichkeiten im Verhalten sind eindeutig vorhanden. Ich sollte das später vielleicht einmal analysieren.

      Irgendwie stehe ich immer noch in der Küche herum, nehme mal diesen, mal jenen Gegenstand in die Hand, schaue ihn unschlüssig an, stelle ihn wieder weg, ohne wirklich zu wissen, was ich damit anfangen soll: kompletter geistiger Ausnahmezustand, anders kann man das wohl nicht beschreiben.

      Ob ich noch mal auf seinem Handy anrufe? Oder im Büro? Ob ich mich wohl noch mal zum Affen mache? Vielleicht lass ich ihn wirklich mal eine Zeitlang in Ruhe, so bis morgen, vielleicht hat er es sich ja dann schon anders überlegt.

      Möglicherweise ist er auch zu Guido gefahren. Ja sicher, dass ich darauf noch nicht gekommen bin. Meines Wissens nach ist Guido aktuell gerade mal wieder Single, die letzte 25-jährige 150-Kilo-Dame hat ihn vor kurzem ad acta gelegt und in seiner Wohnung findet sich sicher ein Schlafplätzchen für seinen ältesten Freund. Eigentlich mag ich Guido, oder „Drei-Buchstaben-Guido“, wie ich ihn seit einigen Jahren insgeheim nenne, nicht besonders. Er ist ein absoluter EDV-Freak geworden, nachdem er nach seiner Elektrikerlehre eine Fortbildung zum Programmierer gemacht hat, und sein Vokabular besteht zumindest für meine Ohren hauptsächlich aus diesen kryptischen Dreibuchstabenwörtern, die entweder Firmennamen sind oder die Abkürzung für irgendwelche datentechnischen Verfahren darstellen. IBM, UCS, ACT, VPN, CAT5 und unzählige andere. Manchmal meine ich, er kann keinen vernünftigen Satz äußern, ohne dass irgend so eine Bezeichnung darin vorkommt.

      Ich kenne Guido genauso lange, wie ich Richard kenne, genauer gesagt, ich lernte beide am gleichen Abend vor mehr als dreißig Jahren kennen. Wie es damals so Usus war, gab es in unserer Stadt ein Jungensgymnasium und ein Mädchengymnasium. In den Zeiten vor der Erfindung der Koedukation hatte man nicht geglaubt, dass man beide Geschlechter auch in einer zu höheren akademischen Weihen befähigenden Lehranstalt zusammen unterrichten kann, ohne dass deren Gemüter dadurch dauerhaften und irreparablen Schaden nehmen. Ich also besuchte brav das Städtische Mädchengymnasium und hatte, da ich auch auf der Grundschule in einer reinen Mädchenklasse war, noch so gut wie keine Erfahrungen im Umgang mit Jungen.

      In unserer Schule war es Brauch, dass ab der 9. oder 10. Klasse so genannte Klassenfeten veranstaltet wurden. Die 9. Klasse unserer Schule beispielsweise lud die 10. Klasse des benachbarten Jungensgymnasiums ein. Nicht nur wir, sondern auch Generationen von Schülerinnen vor uns hatten die Erfahrung gemacht, dass es mit Gleichaltrigen nicht funktioniert, die Jungen aus der 9. Klasse waren uns noch viel zu kindlich und unreif, als dass wir es für lohnenswert erachtet hätten, ihnen einen ganzen Abend kostbarer Freizeit zu opfern. Ort des Geschehens war immer eins der ansässigen Jugendheime, solche Einrichtungen, in denen nachmittags gebastelt und getöpfert wird, während abends sich dort die unterschiedlichsten Jugendgruppen trafen. Eine halbwegs vernünftige Musikanlage war vorhanden, Getränke gab es auch, und Zapfenstreich war definitiv um Viertel vor zehn, dann wurde das Heim abgeschlossen und das Aufsichtspersonal hatte seine verantwortungsvolle Aufgabe erfüllt. Das Ganze hatte natürlich den Charme einer Bahnhofshalle, aber den meisten von uns war das egal, zumal ja immer auch mit dem unangekündigten Besuch eines Lehrers gerechnet werden musste. Und irgendwie hatten wir früher mehr Respekt vor dem Lehrkörper. Heute gehen die Jugendlichen ganz anders mit ihren Lehrern um, das hätten wir damals ganz sicher nicht gewagt.

      Für uns war schon die Vorbereitung dieser Klassenfeten ein Highlight. Da es sich ja um quasi von der Schule organisierte Veranstaltungen handelte, musste die Vorbereitung auch während des Unterrichts geschehen. Wir schafften es jedes Mal, diverse Schulstunden mit kolossal wichtigen Detailfragen zu verbringen, obwohl das Schema dieser Feten eigentlich immer gleich war. Alle zwei bis drei Monate beziehungsweise durchschnittlich zweimal pro Halbjahr war Fetenabend angesagt, meistens Dienstag, warum, weiß ich gar nicht mehr, vermutlich passte es nicht anders in den Veranstaltungsplan des Jugendheims. Mittwochs hätte uns besser gepasst, denn donnerstags war in der ersten Stunde Schulgottesdienst, und den hat so manche von uns meistens verschlafen.

      Das


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