Auszeit. Gaby Trippen

Auszeit - Gaby Trippen


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aus dieser schönen Erinnerung an damals, als alles gerade angefangen hatte und die Welt so einfach war, auch wenn sie mir damals schon nicht so vorkam? Aber vielleicht ist die SMS ja auch von Richard?

      Nein, es ist eine Nachricht von Georg und Bettina, langjährige Freunde von uns, sie fragen, ob es bei unserer Verabredung morgen Abend nach Köln zum Essen und danach in die Altstadt bleibt… Von mir aus schon… Nichts würde ich morgen Abend lieber tun. Was um Himmels willen antworte ich denen denn? Die Wahrheit? Dazu bin ich noch lange nicht bereit, und außerdem, wer weiß, vielleicht ist Richard ja bis morgen Abend schon wieder da und dann wäre es ja blöd, wenn ich die Pferde scheu gemacht hätte. Dann doch lieber eine Ausrede aus meinem unerschöpflichen Fundus, der da reicht vom plötzlichen Unwohlsein meinerseits über Notoperation eines der Hunde bis hin zu, was oft genug auch stimmt, einem unerwarteten Arbeitseinsatz von Richard bei einem wichtigen Kunden. Nur, bei letzterem bin ich mir heute nicht mehr so sicher, ob das nicht auch manchmal Richards Ausrede für mich gewesen war… Ich glaube, ich antworte erst mal noch gar nicht. Schließlich ist es schon fast elf Uhr, wir könnten theoretisch ja schon schlafen. Wie sagte Scarlett noch? „Verschieben wir’s doch auf morgen“…

      Für den Sonntagnachmittag nach jenem denkwürdigen Samstagabend, an dem nichts geschehen war, hatte ich mich mit Angela verabredet, zum Mathepauken. Das hieß damals, ich paukte, und sie versuchte, meine mathematischen Minimalkenntnisse auf einen halbwegs dem Niveau der Klasse angemessenen Stand zu bringen. Angela schrieb generell Einsen in Mathe. Ich dagegen hangelte mich in diesem Fach seit der 2. Gymnasialklasse mehr oder weniger erfolgreich an der Vier entlang, schaffte es aber tatsächlich, in meiner gesamten Schullaufbahn von der „Fünf“ im Zeugnis verschont zu bleiben. Am Schluss hatte ich dann doch immer das berühmte Quäntchen Glück, auch wenn es zwischendurch oft ziemlich düster ausgesehen hatte.

      Um drei Uhr sollte ich bei Angela sein, vormittags war ich mit meinem Vater unterwegs, und wir waren zum Mittagessen mit meiner Mutter und einer guten Freundin der Familie in Leverkusens damals einziger Pizzeria verabredet. Den ganzen Morgen über hatte ich dieses mulmige Gefühl im Bauch, zum einen wegen der Enttäuschung, zum anderen beim Gedanken an den mehr oder weniger unverhohlen zur Schau gestellten Blick des Triumphes von Angela, dieser „Siehste, hab ich doch gleich gesagt, der meldet sich nicht“-Blick, den ich unweigerlich am Nachmittag von ihr sehen würde.

      Aber dann: Wir hatten uns gerade in der Pizzeria hingesetzt, da bekam meine Mutter dieses schelmische Grinsen im Gesicht und meinte: „Ach übrigens, Andrea, da hat jemand zu Hause für dich angerufen, du hattest gar nicht gesagt, dass du einen Anruf erwartest.“ Kunstpause. „Richard hieß er und er meldet sich heute Abend noch einmal, ich habe gesagt, um sieben bist du sicher zu Hause. War doch richtig, oder?“ Um dann noch einen draufzusetzen: „Ich glaube, der hat uns zwei verwechselt. Jedenfalls hat er mich mit ‚Na, Kleines?‘ angeredet...“

      Na super! Ich freute mich total, natürlich, aber ich war auch sauer, dass ich nicht selbst da gewesen war, als er anrief. Nur, wer hätte das ahnen können, wir hatten eindeutig Samstagabend ausgemacht. Was hatte das jetzt zu bedeuten? War ihm gestern Abend etwas dazwischengekommen? Oder war für ihn die Sache so unwichtig, dass er die Details unserer Abmachung vergessen hatte? Egal, erst mal konnte ich mich auf den Abend freuen, und Angela, na, der würde ihre Stichelei gleich im Hals stecken bleiben.

      So war es auch: Gleich das Erste, was sie sagte, war wie erwartet: „Hat nicht angerufen, stimmt’s?“ Als sie meine Antwort hörte, fiel ihr beinahe die Kinnlade herunter. Ich weiß bis heute nicht, ob sie sich wenigstens ein bisschen für mich freute, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie neidisch war.

      Und dann war er auch superpünktlich. Natürlich wuselte diesmal die ganze Familie mehr oder weniger betont unauffällig im Esszimmer herum, aber zum Glück verzogen sich meine Eltern dann doch recht schnell wieder vor den Fernseher, als das Telefon Punkt 19 Uhr klingelte. Aber diesmal war er vorsichtig. „Hallo, hier ist der Richard, bist du das, Andrea?“ „Man kann ja nie wissen“, hat er später gesagt, „womöglich hättest du noch weitere weibliche Familienmitglieder mit einer Stimme wie deiner aus dem Hut gezaubert.“

      Die Erklärung für sein Nichtanrufen am Abend zuvor war so süß, dass ich sie nie vergessen werde: Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass ich „neun Uhr“ gesagt hatte, nicht aber, ob ich neun Uhr morgens oder abends meinte. Seine gesamte Familie inklusive hochnobler Großmutter war der Meinung, man könne am Wochenende morgens um neun NOCH nicht bei fremden Leuten anrufen und abends um neun NICHT MEHR. Um diesem Dilemma auszuweichen, hatte er sich dann für Sonntagmorgen elf Uhr entschieden, eine Zeit, zu der jeder halbwegs kultivierte Mitteleuropäer am Sonntag wohl wach sein sollte.

      Als er das so erzählte, so locker und lustig und wortgewandt, waren die Unsicherheit und Nervosität bei mir schnell verflogen. Ich weiß noch, dass wir uns für den darauffolgenden Mittwoch am späten Nachmittag in einer der wenigen In-Kneipen Leverkusens verabredeten, dort Mettbrötchen aßen und ganz viel erzählten. Zwischendurch nahm er mal meine Hand, und streichelte mir über die Wange, aber er hielt nichts von diesen ungeschickten Annäherungsversuchen und missglückten Zungenküssen, mit denen andere Jungs ihr Glück versucht hatten. Auf dem Weg zur Bushaltestelle legte er den Arm um mich und schaute mir zum Abschied lange in die Augen. „Du bist schon eine Süße“, sagte er und winkte mir dann noch nach, bis der Bus außer Sicht war… Spätestens zu dem Zeitpunkt war ich rettungslos verloren, und er hat mir später einmal gesagt, ihm ginge es genauso.

      Ich muss doch tatsächlich gähnen! Es geht auf Mitternacht zu, eigentlich unsere normale Schlafenszeit, nachdem wir entweder noch eine ganz kleine Mäuserunde gedreht haben oder, je nach Wetter, den bequemeren Weg in den Garten gewählt haben.

      Soll ich ins Bett gehen? Werde ich überhaupt schlafen können? So etwas wie Schlaftabletten besitzen wir nicht, vielleicht hat ein Cognac die gleiche Wirkung? Aber dann hab ich eine Fahne, falls Richard heute Nacht zurückkommt. Oder soll ich lieber hier auf der Couch schlafen? Bis ich mich ausgezogen und bettfertig gemacht habe, bin ich wieder hellwach. Und die Gedanken beginnen wieder zu kreisen…

      Wenn man bedenkt, dass Richard mit Hunden, mit Tieren überhaupt, so gar nichts im Sinn hatte, als wir uns kennen lernten, wohingegen ich schon immer wild auf alles mögliche Getier war, ist es schon erstaunlich, wie liebevoll er mit den beiden Mäusen umgeht, und wie problemlos er sie in unseren Alltag integriert hat.

      In seiner Familie gab es keinen Platz für Tiere. Im Gegenteil, er wuchs mit der Überzeugung auf, dass alle Hunde unberechenbare beißwütige Geschöpfe seien. Seine Großmutter verbrachte einmal an Allerheiligen zwei geschlagene Stunden auf der Toilette, als sie zusammen mit dem Pekinesen seines Großonkels lieber zu Hause geblieben war, statt den Rest der Familie auf Friedhofstour zu begleiten. Besagter Pekinese hatte zwar zugelassen, dass Großmutter auf dem Klo Platz nahm, aber aufstehen ließ er sie dann nicht mehr, jeder Versuch in diese Richtung wurde mit wütendem Knurren quittiert. Den Heimkehrenden muss sich ein Bild für die Götter geboten haben. Statt eines leckeren Mittagessens gab es eine völlig derangierte und genervte Großmutter, die nicht wusste, was schlimmer war: die Tatsache, dass diese Bestie von Hund sie zwei Stunden lang am Kochen gehindert hatte oder dass sie ganz eindeutig vor der ganzen Familie die „Contenance“ verloren hatte.

      Richards Familie war schon so ein Thema für sich. Er sprach viel von ihr, sie hat ihn sehr geprägt. Oft sind wir stundenlang händchenhaltend spazieren gegangen und er erzählte mir die eine oder andere Geschichte von ihr. Ich genoss es, dass er mich einbezog, war stolz, dass er mich teilhaben ließ an seinem Leben. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich damals für Richard empfunden habe. Grausame Ironie des Schicksals? Jetzt, da alles vorbei ist, fällt mir wieder ein, wie es war, in Richard verliebt zu sein.

      Aber ist es denn wirklich zu spät? Was habe ich denn da gerade gedacht? Habe ich wirklich diesen Gedanken bewusst zugelassen, dass es wirklich und tatsächlich aus ist zwischen Richard und mir? Und das, nachdem wir uns in den vergangenen Monaten eigentlich wieder so schön berappelt hatten, unsere großen Konfliktpunkte abgearbeitet hatten, jeder Riesenschritte auf den anderen zugetan hatte? War all das auf so wackligem Boden gebaut, dass der sprichwörtliche Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hatte? War die Basis, die wir uns erarbeitet hatten, von der Richard immer sprach, letzten Endes doch nur Makulatur?


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