Beutewelt VII: Weltenbrand. Alexander Merow
Frank stellte den Fernseher ab. Seufzend setzte er sich auf das Sofa, er lächelte gequält.
„Siege an allen Fronten! So wie in jeder Propagandasendung und in jedem Krieg!“, sagte er leise zu sich selbst.
„Wir lassen die verfluchte Glotze jetzt einfach aus“, schimpfte Julia und ließ sich neben Frank auf dem Sofa nieder; dann nahm sie ihn in den Arm.
„Das mit Japan hat mir den Rest gegeben. Jetzt werden wir zurückschlagen, dann die anderen – dann wieder wir und so weiter. Am Ende wird keine Seite mehr irgendwelche Hemmungen kennen und die ganze Welt wird brennen“, stöhnte Kohlhaas verzweifelt.
Julia fiel keine passende Antwort mehr ein, stattdessen begann sie leise zu weinen. Ihr hübsches, schmales Gesicht war inzwischen aufgedunsen und gerötet, da sie jeden Tag eine große Anzahl von Beruhigungs- und Schlafmitteln nehmen musste, um nicht vollkommen durchzudrehen. Die schreckliche Endzeitstimmung, die die gesamte Familie ergriffen hatte, war auch an Friedrich nicht spurlos vorübergegangen. Dieser verkroch sich oft tagelang in seinem Zimmer oder lag lediglich reglos im Bett.
Manchmal fragte sich Frank, wie viel Schrecken und Leid ein Mensch überhaupt ertragen konnte, bevor er endlich zerbrach. Mittlerweile kämpfte auch er wieder gegen Alpträume und böse Erinnerungen. Vor einigen Tagen hatte er erneut eine verstörende Vision gehabt, in der nicht Artur Tschistokjow, sondern „Herr Irrsinn“, sein imaginärer Freund aus der Holozelle, eine Rede an die Nation gehalten hatte.
Er hatte mit der Stimme des russischen Staatschefs gesprochen, in dessen Büro im Atombunker, mit der Drachenkopffahne im Hintergrund.
„Der Irrsinn konnte in den letzten Monaten um 26% gesteigert werden. Ich bin stolz auf mein Volk, doch wir werden ihn noch viel weiter ausdehnen. Wir müssen nur an den Irrsinn glauben! Felsenfest und unbeirrt!“, hatte „Herr Irrsinn“ erklärt. Schließlich hatte er seinen kahlen, bleichen Schädel aus der Fernsehkiste herausgeschoben und Frank zynisch angelächelt.
„Hallo, General Kohlhaas! Ich bin stolz auf Sie, denn Sie haben den Irrsinn an vorderster Front verbreitet. Wer hätte je gedacht, dass Sie mir eines Tages so viel Arbeit abnehmen?“
Frank war zusammengezuckt, sprachlos vor lauter Entsetzen, während „Herr Irrsinn“ weiter auf ihn eingeredet hatte.
„He, Franky! Achilles, großer Held, großer Mörder, großer Psychopath! Freust du dich denn nicht, deinen alten Freund wiederzusehen?“
Irgendwann war Frank mit einem Schrei aufgewacht und hatte sich wimmernd an Julia geklammert. Dieses Traumgesicht war so unheimlich wie verwirrend gewesen. Außerdem wusste Kohlhaas, dass „Herr Irrsinn“ niemals auftauchte, wenn es dafür nicht einen handfesten Grund gab.
Die über eine gut verschlüsselte Verbindung abgehaltene Telefonkonferenz dauerte nunmehr schon fast zwei Stunden. Sowohl Artur Tschistokjow als auch Präsident Matsumoto hatten es diesmal für zu gefährlich gehalten, ihre Atombunker noch für einen persönlichen Staatsbesuch zu verlassen. Das Risiko, in einem Flugzeug vom Feind erwischt und abgeschossen zu werden, egal wie geheim man alles gehalten hatte, war inzwischen viel zu groß. Vor allem Tschistokjow war in den letzten Wochen immer paranoider geworden und sah überall Verräter, Spione und Attentäter, die ihn vergiften oder in die Luft sprengen wollten. Zwar wurde er rund um die Uhr von ADR-Mitarbeitern und einer großen Anzahl Leibwächter bewacht, doch änderte das nichts an seiner wachsenden Angst vor Mordanschlägen. Allerdings waren seine Sorgen auch nicht unberechtigt, denn die GSA versuchte, seinen Führungsstab mit allen Mitteln zu infiltrieren. Das Gleiche galt auch für Matsumoto.
„Sie haben unfassbares Leid angerichtet. Ich kann diese Grausamkeit noch immer nicht nachvollziehen. Was soll aus Japan werden, wenn sie nicht mit derartigen Angriffen aufhören? Wir können uns kaum verstecken! Es ist ein Alptraum, Herr Tschistokjow!“, übersetzte Matsumotos Dolmetscher.
Tschistokjow starrte auf den großen Bildschirm an der Wand und ging in seinem Büro auf und ab. Wilden und einige hochrangige Funktionäre der Freiheitsbewegung betrachteten ihn schweigend.
„Nehmen Sie Ihre neu entwickelten Tenshi Bomber und schlagen Sie zurück, Herr Präsident. Sie müssen es sofort tun, damit sich unsere Feinde keinen falschen Hoffnungen hingeben“, knurrte Tschistokjow.
Wenige Minuten später erhielt er die Antwort. „Ich kann es nicht verantworten, diesen Atombombenwahnsinn weiter mitzumachen. Nein, ich kann das einfach nicht.“
Wilden versuchte, etwas zu sagen und auch Verteidigungsminister Lossov meldete sich zu Wort, doch Tschistokjow würgte die beiden ab.
„Sie müssen es tun, sonst werden die Logenbrüder Japan ganz in Schutt und Asche legen! Verstehen Sie das denn nicht? Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Unsere Feinde sind in einigen bestimmten Metropolen konzentriert und diese Metropolen müssen wir ihnen jetzt nehmen!“
Akira Moris kreidebleiches Gesicht erfüllte den Bildschirm. Der Japaner erwiderte: „Wir sind uns noch immer nicht sicher, ob wir diesmal selbst Atombomben werfen sollen. Außerdem haben wir noch nicht viele der neuartigen Tenshi Bomber bauen lassen.“
„Übersetzen Sie das!“, schrie Tschistokjow seinen Dolmetscher an und dieser zuckte vor Schreck zusammen. Dann entgegnete er: „Wenn Japan nicht reagiert, werden wir es tun. Ein Angriff auf Japan ist ein Angriff auf uns – und jetzt kommt die Antwort! Auge um Auge! Etwas anderes versteht diese Verbrecherbrut nicht!“
Schließlich überließ Matsumoto seinem Außenminister das Reden; er wirkte, als ob er kurz vor einem völligen Nervenzusammenbruch stände. Bald saß er klein und niedergeschlagen am unteren Rand des Bildschirms und hielt sich den Kopf.
„Wir können es nicht genau abschätzen, wie sich die Situation nach einem nuklearen Gegenschlag entwickeln wird. Ein entfesselter Atomkrieg würde das japanische Volk an den Rand der Vernichtung bringen“, sorgte sich Mori. „Wir sind auf unseren Inseln gefangen und können hier nicht weg. Das ist bei einem Land wie Russland vollkommen anders, denn sie können dem atomaren Feuer aufgrund der Größe des Territoriums viel leichter entfliehen als wir.“
„Und was heißt das nun?“, grollte Tschistokjow.
„Präsident Matsumoto hat in den letzten Tagen noch einmal darüber nachgedacht, die Weltregierung um Frieden zu bitten“, fügte Mori hinzu.
Die Gesichtsfarbe des russischen Staatschefs wechselte innerhalb einer halben Minute von weiß zu rot.
„Das werden Sie nicht tun, Mori! Die werden keinen Frieden annehmen! Die wollen uns vernichten! Und die werden uns vernichten, wenn wir uns nicht wehren! Haben Sie das verstanden?“
Wilden eilte zu Tschistokjow und überreichte ihm ein Glas Wasser.
„Vielleicht haben Sie Recht, aber wir …“, stotterte der japanische Dolmetscher, doch der Anführer der Rus donnerte dazwischen.
„Zögern Sie nicht länger! Machen Sie die Tenshi Bomber startklar und schlagen Sie endlich zurück, Herr Matsumoto! Wenn Sie es nicht tun, dann tun wir es! Ich schwöre es, so wahr ich Artur Tschistokjow heiße!“
„Bitte beruhigen Sie sich wieder, Herr Präsident …“, mischte sich einer der Generäle ein, doch sein Chef winkte ab.
Matsumoto und Mori schwiegen. Sie sahen sich mit betretenen Mienen an, während ihr Bündnispartner vor sich hin wetterte und immer wütender wurde.
„Ich habe die Ziele für den atomaren Gegenschlag bereits ausgewählt. Halten Sie sich an unsere Vereinbarungen! Wir weichen nicht zurück! Niemals!“, fauchte Tschistokjow und sein Dolmetscher wischte sich den Schweiß von der Stirn, um dann zu übersetzen.
Der Anführer der Rus hatte Haruto Matsumoto gegen Ende des Gespräches noch mehrfach eindringlich darauf hingewiesen, dass das russisch-japanische Bündnis dem Gegner seine Entschlossenheit zeigen müsse. Schließlich hatte sich dieser schweren Herzens dazu überreden lassen, nun ebenfalls Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Während die Kämpfe in der Mandschurei und auf See weiter tobten und mehrere