Die Forsyte-Saga. John Galsworthy
sie sagten.
Er benutzte die Untergrundbahn bis zur Portland Road Station, wo er eine Droschke nahm und in den Zoo fuhr.
Er hatte dort eine jener in letzter Zeit häufiger werdenden Zusammenkünfte, zu denen seine wachsende Sorge um June und ›die Wandlung in ihr‹, wie er es ausdrückte, ihn trieb.
Sie zog sich zurück und magerte ab; wenn er zu ihr sprach, erhielt er keine Antwort oder wurde angefahren, oder sie sah aus, als wolle sie in Tränen ausbrechen. Sie hatte sich so verändert, wie es bei ihr möglich war, und alles durch diesen Bosinney. Und mit ihm über irgend etwas zu sprechen, daran dachte sie nicht!
Oft pflegte er, die Zeitung ungelesen vor sich, eine ausgegangene Zigarre zwischen den Lippen, lange sinnend dazusitzen. Sie war ihm immer eine solche Gefährtin gewesen, von ihrem dritten Jahre ab! Und er liebte sie so sehr!
Mächte, stärker als Familie, Stand und Brauch, machten seine Obhut überflüssig, und drohende Ereignisse, über die er keine Gewalt besaß, warfen ihre Schatten über ihn. Wie einer der gewohnt ist seinen Willen durchzusetzen, war er gereizt, er wußte nicht durch was.
Entrüstet über die Langsamkeit seiner Droschke, erreichte er den Eingang des Zoologischen Gartens; aber in seiner sonnigen Natur, mit der er das Gute jedes Augenblicks genoß, vergaß er seinen Unmut, als er dem Stelldichein entgegenging. Von der Steinterrasse über dem Bärenzwinger eilten sein Sohn und seine beiden Enkel herab, als sie den alten Mann kommen sahen und geleiteten ihn zu dem Löwenhaus. Sie führten ihn von beiden Seiten, jeder hielt ihn an einer Hand, und Jolly, entartet wie sein Vater, trug seines Großvaters Schirm in solcher Weise, daß er den Leuten mit der Krücke zwischen die Beine kam.
Es war wie ein Schauspiel seinen Vater mit den Kindern zu sehen, aber ein Schauspiel, das man mit Lachen unter Tränen sieht. Man kann zu jeder Zeit des Tages einen alten Mann mit zwei kleinen Kindern sehen; aber beim Anblick seines Vaters mit Jolly und Holly hatte der junge Jolyon das Gefühl, als bekäme er Dinge zu schauen, die auf dem Grunde unsers Herzens ruhen. Die völlige Hingabe dieser aufrechten Greisengestalt an die kleinen Wesen an jeder Hand war von zu rührender Zärtlichkeit, und da seine Natur zu Reflex-Wirkungen neigte, fing der junge Jolyon leise an zu fluchen. Für einen Forsyte, der nichts bedeutet wenn er seine Gefühle nicht zu unterdrücken versteht, bewegte der Anblick ihn auf eine ungeziemende Weise.
Sie langten beim Löwenhaus an.
Im Botanischen Garten hatte ein Morgenfest stattgefunden, und eine große Anzahl von Forsytes – das heißt von gut gekleideten Leuten, die einen eigenen Wagen hielten – waren von dort in den Zoo gekommen, um so, wenn möglich, mehr für ihr Geld zu haben, bevor sie nach Haus zurückkehrten.
»Laßt uns in den Zoo gehen,« hatten sie wohl zu einander gesagt, »das macht großen Spaß!« Es war Schilling-Tag, und da würden nicht all die schrecklich gewöhnlichen Leute dort sein.
Vor der langen Linie der Käfige standen sie reihenweise und beobachteten die braungelben, raubgierigen Tiere hinter den Gittern, die ihr einziges Vergnügen der vierundzwanzig Stunden erwarteten. Je hungriger ein Tier, desto größer die Spannung. Aber ob es so war, weil die Zuschauer es um seinen Appetit beneideten, oder humaner, weil sie ihn so schnell befriedigt sahen, dahinter konnte der junge Jolyon nicht kommen. Es drangen Bemerkungen an sein Ohr wie diese: »Ein scheußliches Vieh, dieser Tiger!« »Oh, wie entzückend ist er! Sieh nur sein kleines Mäulchen!« »Ja, er ist ganz nett! Geh nicht zu nah, Mutter!«
Und häufig beklopfte einer oder der andere leise seine Taschen hinten und schaute sich um, als erwarte er, daß der junge Jolyon oder sonst eine harmlos blickende Person sie ihres Inhalts berauben könnte.
Ein wohlgenährter Mann in einer weißen Weste sagte langsam durch die Zähne: »'s ist nur Gefräßigkeit, sie können nicht hungrig sein. Sie haben ja gar keine Bewegung.« Bei diesen Worten schnappte ein Tiger nach einem Stück blutiger Leber, und der fette Mann lachte. Seine Frau, in einem Pariser Modellkleid mit goldenem Zwicker, sagte vorwurfsvoll: »Wie kannst du lachen, Harry? Ein so schauderhafter Anblick!«
Der junge Jolyon runzelte die Stirn.
Die Verhältnisse seines Lebens hatten, wenn er sie auch nicht mehr so sehr vom persönlichen Standpunkt aus betrachtete, zeitweilig einen gewissen Hochmut in ihm erweckt; und die Klasse, der er angehört hatte – die Equipagen-Klasse – reizte ihn ganz besonders zum Spott.
Einen Löwen oder Tiger eingesperrt zu halten war sicher eine furchtbare Barbarei. Aber kein Kulturmensch würde das zugeben.
Der Gedanke, daß es barbarisch war wilde Tiere eingesperrt zu halten, war seinem Vater zum Beispiel wahrscheinlich nie gekommen; er gehörte zu der alten Schule, die es sowohl für menschlich wie erzieherisch hielt, Paviane und Panther einzusperren, und ohne Zweifel der Ansicht war, diese Kreaturen im Laufe der Zeit dazu bewegen zu können, nicht unvernünftig vor Jammer und Herzeleid über ihr Käfiggitter zu sterben und die Gesellschaft dadurch zu der Ausgabe für Anschaffung von neuen zu veranlassen! In seinen Augen, wie in den Augen aller Forsytes überwog das Vergnügen, die schönen Geschöpfe in Gefangenschaft zu sehen, bei weitem das Unrecht, Tiere gefangen zu halten, die Gott so unbedachtsam in einen Zustand der Freiheit gesetzt hat! Es geschah zum besten der Tiere, sie sofort den zahllosen Gefahren der Bewegung im Freien zu entziehen und sie in stand zu setzen, ihre Fähigkeiten in der gesicherten Abgeschlossenheit gesonderter Gelasse zu üben. Es war wirklich die Frage, wozu anders wilde Tiere gemacht waren, als in Käfige eingesperrt zu werden!
Da der junge Jolyon aber von Natur zu Unparteilichkeit neigte, überlegte er, daß es unrecht sein müsse als Barbarei zu brandmarken, was nur Mangel an Phantasie war; denn keiner der diesen Anschauungen huldigte, hatte sich je in einer ähnlichen Lage befunden wie die Tiere, die sie einsperrten, und es war darum nicht von ihm zu erwarten, daß er sich in deren Gefühle hineinzuversetzen vermochte.
Erst als sie im Begriff waren den Garten zu verlassen – Jolly und Holly in einem Zustand seligen Entzückens – fand der alte Jolyon Gelegenheit, mit seinem Sohne von der Sache zu sprechen, die ihm vor allem am Herzen lag. »Ich werde nicht klug daraus,« sagte er; »wenn sie es weiter so treibt wie bisher, weiß ich nicht, was daraus werden soll. Ich wollte, daß sie zum Arzt geht, aber sie will es nicht. Mir gleicht sie nicht im geringsten. Sie ist ganz und gar wie deine Mutter. Halsstarrig wie ein Maulesel! Wenn sie etwas nicht tun will, tut sie's nicht, da ist nichts zu machen!«
Der junge Jolyon lächelte, sein Blick war auf seines Vaters Kinn gefallen. »Ihr beide seid ein Paar!« dachte er, aber er sagte nichts.
»Und dann,« fuhr der alte Jolyon fort, »dieser Bosinney. Ich hätte Lust dem Burschen den Kopf zurechtzusetzen, aber das geht nicht, obwohl – doch ich sehe nicht ein, warum du es nicht könntest,« fügte er hinzu.
»Was hat er getan? Besser es käme zu einem Ende, wenn sie nicht mit einander fertig werden!«
Der alte Jolyon blickte seinen Sohn an. Jetzt, wo es wirklich dazu gekommen war von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu reden, fing er an mißtrauisch zu werden. Jo hatte sicher sehr freie Ansichten darüber.
»Ja, ich weiß nicht, was du denkst,« sagte er, »wahrscheinlich sympathisierst du mit ihm – es würde mich nicht überraschen; aber ich finde, er benimmt sich unerhört schlecht, und wenn er mir in den Weg kommt, werde ich's ihm auch sagen.« Er ließ den Gegenstand fallen.
Es war unmöglich, mit diesem Sohn über die wahre Natur und Bedeutung von Bosinneys Vergehen zu reden. Hatte sein Sohn vor fünfzehn Jahren nicht dasselbe (und Schlimmeres, wenn möglich) getan? Es war kein Ende der Folgen jener Torheit abzusehen!
Der junge Jolyon schwieg ebenfalls; er hatte die Gedanken seines Vaters schnell durchschaut, denn nachdem er entthront, den Hochsitz natürlich einfacher Betrachtung der Dinge verlassen hatte, war er sowohl empfindsam wie scharfsichtig geworden.
Die Haltung, die er vor fünfzehn Jahren sexuellen Dingen gegenüber eingenommen hatte, war zu verschieden von der seines Vaters. Die Kluft war nicht zu überbrücken.
Er sagte kühl: »Er hat sich wohl in eine andere Frau verliebt?«
Der