Evangelisches Kirchenrecht in Bayern. Hans-Peter Hübner
grundlegende Aussage über das Verhältnis von Amt und Gemeinde.60 Art. 4 trifft keine Entscheidung hinsichtlich einer Priorität weder des einen noch des anderen: Amt und Gemeinde stehen nicht im Verhältnis einer Über- oder Unterordnung. Unter der gemeinsamen Verantwortung der ganzen Kirche für Wort und Sakrament (vgl. bereits die gemeinsame Verantwortung für die Erfüllung des kirchlichen Auftrages durch alle Kirchenglieder und die kirchlichen Rechtsträger in Art. 1 Abs. 2) sind „Gemeinde und Amt einander zugeordnet und aneinander gewiesen“. Dieses Spannungsverhältnis der gegenseitigen Zuordnung und des Aneinandergewiesenseins ist ein hoher Anspruch, dessen Verwirklichung der Praxis immer wieder neu aufgegeben ist (vgl. hierzu auch §§ 1 Abs. 1, 19 KGO). Wenn auch die Kirchenverfassung in Art. 4 von einer grundsätzlichen Gleichgewichtigkeit von Gemeinde und Amt ausgeht, so bleibt doch zu fragen, ob dieses Maß stets in gleicher Weise durchgehalten wird. Ingesamt scheint die Stellung des Amtes doch etwas stärker ausgeprägt zu sein als die Stellung der Gemeinde (vgl. hierzu den weiten Begriff des Amtes in Art. 12 KVerf und die besondere Verantwortung des Pfarrers in Art. 16 KVerf.
e)Art. 5 weist mit seiner Aussage, dass Leitung der Kirche zugleich geistlicher und rechtlicher Dienst sei, auf Abs. 3 des Grundartikels zurück, wonach auch das Recht und die Ordnungen dem Auftrag der Kirche unterstellt sind, Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen (vgl. insoweit auch die dritte These der Barmer Theologischen Erklärung: „Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen …“)• Was mit Art. 5 gemeint ist, besagt auch die entsprechende und in der Klarheit ihrer Aussage so treffliche Bestimmung der Grundordnung der Badischen Landeskirche (Art. 109, Abs. 2 Satz 1): „Die Leitung der Landeskirche geschieht geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit.“
f)Art. 6 enthält Aussagen über die Verhältnis der ELKB zu anderen Kirchen und ihre Einbindung als Partikularkirche in größere kirchliche Gemeinschafen (VELKD, EKD – unter Wahrung ihres Bekenntnisstandes! –, LWB und ÖRK).
g)In Art. 7 wird das Verhältnis zum Staat und zu anderen öffentlichen Körperschaften nur insoweit angesprochen, als die – selbstverständliche – Möglichkeit vertraglicher Vereinbarungen bejaht wird. Das Verhältnis Kirche–Stadt regelt sich gemeinhin auf der Basis der staatlichen Verfassungsgarantien (Art. 4 GG und 140 i. V. m. Art. 136–141 WRV) und der staatlichen Gesetze. Dem gewandelten Verhältnis von Staat und Kirche entspricht aber zunehmend auch die Regelung durch vertragliche Vereinbarungen. Hierzu bedarf es allerdings keiner besonderen Ermächtigung in der Kirchenverfassung. Insoweit hat Art. 7 lediglich deklaratorische Bedeutung.61 In der Tat bestehen eine ganze Anzahl vertraglicher Vereinbarungen, die bereits aus der Zeit vor Inkrafttreten der Verfassung von 1971 stammen. Die bedeutendste davon ist der Kirchenvertrag von 1924 mit den Änderungsverträgen von 1968, 1974, 1978 und 1984.62 Zu erwähnen sind ferner der Vertrag über die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität München (1967) sowie die Vereinbarung über Staatsleistungen (1964/2014) und vertragliche Regelungen auf einigen Sondergebieten (z.B. über die Pauschalvergütung für die Erteilung des Religionsunterrichtes, die Seelsorge in den Justizvollzugsanstalten oder auf dem Gebiet des Baulastrechts).63
h)Art. 8 als letzte der allgemeinen Bestimmungen behandelt schließlich die Rechtspersönlichkeit nach kirchlichem Recht, wobei festgestellt wird, dass die bestehenden kirchlichen Körperschaften zugleich nach staatlichem Recht Körperschaften des öffentlichen Rechts sind und neu errichtete kirchliche Körperschaften die Rechtsfähigkeit nach staatlichem Recht erwerben sollen. Die Rechtsfigur der Rechtspersönlichkeit nach kirchlichem Recht hat lediglich innerkirchliche Bedeutung; von ihr ist bei den Prodekanatsbezirken in den Dekanatsbezirken der Dekanatsbezirke München und Nürnberg sowie gemäß § 7 Abs. 2 des Kirchlichen Zusammenarbeitsgesetzes (RS 315) für kirchliche Zweckverbände, soweit diesen nicht auch die Eigenschaft einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen wird, Gebrauch gemacht worden.
5.Bestimmungen des zweiten bis elften Abschnitts im Überblick
Für die folgenden Abschnitte der Kirchenverfassung reicht an dieser Stelle ein kurzer Überblick, da hierauf in den nachfolgenden Ausführungen in Teil B jeweils näher eingegangen wird. Entsprechend den Aufgaben und dem Wesen einer Kirchenverfassung werden in der Verfassung selbst bis auf den Abschnitt über die Kirchenleitung nur Grundaussagen gemacht, die dann in Einzelgesetzen näher entfaltet werden.
a)Die Art. 9 und 11 regeln die Grundzüge des kirchlichen (Mit-)Gliedschaftsrechts. Zentrale Aussage ist Art. 9 Abs. 1, wonach sich die Gliedschaft in der Kirche Jesu Christi auf die Heilige Taufe gründet. Dies zielt auf die Gliedschaft in der ecclesia universalis im Sinne des 3. Glaubensartikels. Die Mitgliedschaft in einer bestimmten ecclesia particularis, hier der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, ergibt sich durch zwei weitere Merkmale: Bekenntnis und Wohnsitz. Bezeichnend ist, dass die durch die Taufe entstehende Beziehung zu der einen Kirche „Gliedschaft“ genannt wird, die rechtliche Beziehung zu der ELKB als Partikularkirche dann „Mitgliedschaft“. Dies ist inzwischen die übliche Bezeichnung der Unterscheidung der geistlichen und rechtlichen Komponente der Kirchen(mit)gliedschaft. Der „Gleichstellungsartikel“ (Art. 11) fokussiert die durch die Taufe und das allgemeine Priestertum der Getauften begründete Rechtsgleichheit aller (Mit-)Glieder der Kirche, welche jede Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, einer Behinderung, der Abstammung und Herkunft, der Rasse oder Nation und der sexuellen Orientierung ausschließt, auf die Gleichstellung von Frauen und Männern und gibt entsprechend Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG (RS 100) den Verantwortlichen auf allen kirchlichen Ebenen auf, zum Ausgleich bestehender Nachteile Frauen unter Berücksichtigung des Vorrangs von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu fördern; wie das geschehen soll, ist im Kirchlichen Gleichstellungsgesetz (RS 3) geregelt.
b)Der dritte Abschnitt (das Amt der Kirche, Art. 12–19) geht in Art. 12 von einem weiten Begriff des Amtes der Kirche aus: „Das der Kirche von Jesus Christus anvertraute Amt gliedert sich in verschiedene Dienste.“ Alle in der Kirche haupt-, neben- oder ehrenamtlich Tätigen haben teil an den Aufgaben des Amtes der Kirche (Art. 12–15). Sie werden also als im Amt der Kirche stehend angesehen. Die Kirchenverfassung reduziert das Amt der Kirche nicht auf das Predigtamt, das Pfarramt, wenngleich dieses der kirchliche Schlüsselberuf bleibt, zu dem durch die Ordination berufen wird (Art. 13). Der Auftrag der Kirche, das Amt der Kirche, wird umfassend angesehen. Daher ist von dem einen Amt die Rede, das sich in verschiedene Dienste aufgliedert, und nicht in verschiedene Ämter. Das Spannungsverhältnis, das schon in Art. 4 das Verhältnis von Amt und Gemeinde, von ministerium und sacerdotium, in Form eines gegenseitigen engen und nicht lösbaren Bezugs bestimmt, wird auch hier wieder deutlich: Die verschiedenen Dienste, in die sich das eine Amt auffächert, könnten nämlich auch als Entfaltung des allgemeinen Priestertums der Getauften gesehen werden.64 Auch zu dem Amtsbegriff in Art. 4, der das öffentliche Predigtamt meint, steht der weite Amtsbegriff der Art. 12 ff. in einem gewissen Spannungsverhältnis. Dieses geht auf unterschiedliche theologische Positionen zurück. Diese werden auch weiterhin eine erhebliche Rolle spielen, insbesondere im ökumenischen Kontext. Gerade die in den letzten Jahren erarbeiteten Konsens- oder Konvergenztexte65 stellen eine besondere Herausforderung an das evangelische Amtsverständnis dar.
Das Kernelement des Amtes der Kirche, das öffentliche Predigtamt, das Amt des Pfarrers oder der Pfarrerin, wird näher entfaltet in der „Ordnung des geistlichen Amtes“.