Psychophysiologie (1899). John M Littlejohn

Psychophysiologie (1899) - John M Littlejohn


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sie im Kontext der zeitgenössischen wissenschaftlichen und philosophischen Debatte gedanklich kontrolliert. Der praktische Ansatz der Medizin muss »innen« geschehen, es geht um die relative Stabilisierung eines mentalen Gleichgewichtes – und dies besagt, die osteopathische »Anpassung« beginnt beim Geist, beim »mentalen Zustand«, worin dann auch die Verantwortung und Eigeninitiative der Patient/​inn/​en liegt. Aus der Vorlesung wird daher ganz deutlich, dass Littlejohn eine psychophysiologische Fundierung der Osteopathie anstrebt. Littlejohn sieht wie die späteren Vertreter der Psychosomatischen Medizin keinen empirischen oder haltbaren gedanklichen Grund, die Fragen des Geistes, der Psyche, des Lebenskontextes aus der Medizin auszuklammern. Dazu bedarf es aber genauer und subtiler Kenntnisse und nicht zuletzt auch der Beherrschung der Kunst des Argumentierens – wovon der Text zeugt.

      Die recht dichte und anspruchsvolle Vorlesung steht im Kontext der zeitgenössischen Debatte. Kirksville ist in ihr durchaus zum »Athen der Osteopathie« (Still) geworden. Der grundlegende Ansatz der Vorlesung besteht in einer Kombination der Wissenschaften der Physiologie und Psychologie – vor einem durchscheinenden philosophischen Hintergrund. Dieser ist durch die deutsche Philosophie inspiriert, freilich wie sie im angelsächsischen Horizont verstanden wurde. Hinzu kommt aber der nordamerikanische Kontext, der ganz klar präsent ist – nicht zuletzt im Bezug auf Coleridge und Emerson. Wer bislang im Zweifel war über den kulturgeschichtlichen Hintergrund, vor dem die Osteopathie entstanden ist, wird von Littlejohn hier ansprechend eingeführt. Schon aus diesem Grund ist sein Text ein zeitgeschichtlich aufschlussreiches Dokument. Der Bezug zur deutschen Philosophie ist über die Auswanderung nicht zuletzt seit der Vormärzphase vermittelt und der Kontext ist dann der Amerikanische Transzendentalismus, der sich u. a. um Ralph Waldo Emerson gruppiert. Ebenso wird der Kontext der evolutionären Philosophie erwähnt, die in den Vereinigten Staaten insbesondere durch die Rezeption Herbert Spencers2 erfolgte. Diese Gedanken werden von Littlejohn als allgemeiner Hintergrund verwendet, um das Hauptproblem der Vorlesung anzugehen, nämlich das Verhältnis von Geist und Körper zu klären. Dies tut er gründlich und geht entsprechend ausführlich auf alle wesentlichen Probleme der Sinneswahrnehmung, der Erkenntnis, der Sittlichkeit, der Empfindungs- bzw. Gefühlstheorie ein. Schon damals konnte eine solche Überlegung physiologisch nicht anders als in einer ausgeführten Theorie des Vegetativen und Zentralen Nervensystems geschehen, die als Medien zwischen Außenwelt, Körper, Psyche und Geist fungieren. Psychologisch schließt sich Littlejohn insbesondere an die deutsche psychologisch argumentierende Philosophie von Lotze und Wundt an – es geht in der Psychologie um das genaue Verständnis des Bewusstseins. Und schon damals stand die Frage im Vordergrund, ob eine hinreichende komplexe physiologische Theorie der verschiedenen Aspekte des Nervensystems nicht die Psychologie ersetzen könne. Littlejohns sehr ausführlich begründete Antwort hierzu lautet: Nein! Alle osteopathischen Versuche der »Anpassung« wären im Sinne Littlejohns gegenstandslos, wenn die Antwort »Ja« lauten würde, denn dann gäbe es keine »Heilmittel« »innen« – eben jene Anpassung der mentalen Zustände, die »hinter« jedem körperlichen Zustand stehen.

      Littlejohn verteidigt in seiner Vorlesung das Erbe der humanen europäischen und nordamerikanischen Aufklärung und Romantik. Dies muss aber unter den Bedingungen der entwickelten »exakten« Wissenschaften geschehen. Durch beide Elemente ist Littlejohns Vorlesung geprägt. Gegenüber der vereinfachenden Tendenz der Wissenschaften, alle Sachverhalte möglichst zu atomisieren und zu isolieren, weist er daraufhin, dass sowohl die Tatsachen des Bewusstseins als auch diejenigen der verschiedenen Aspekte des Nervensystems zwar einzeln analysiert werden können, ihre volle Erkenntnis wird aber nur dadurch möglich, dass ihr Zusammenhang jeweils synthetisch erfasst wird. Dabei legt Littlejohn Wert darauf nachzuweisen, dass die einzelnen Elemente von sich aus auf diesen Zusammenhang angewiesen sind. Dies versucht er in aller Ruhe an den durch äußere Stimuli der »Organe am Ende der Nervenbahn« (terminal organs) erregten »Sinnesempfindungen« (sensations) nachzuweisen. Diese besitzen zwar eine gewisse physiologisch erzeugte Tendenz zur raumzeitlichen Vereinheitlichung, aber diese ist tatsächlich nur durch eine psychische Interpretation möglich, sodass die Orientierung des einzelnen Menschen im Blick auf die eigene Situation in der Wirklichkeit letztlich »psychisch« bestimmt wird. Sowohl die physiologischen als auch die psychischen Aspekte sind also stets aufeinander und wechselseitig bezogen – und darauf beruht die Möglichkeit einer wissenschaftlich gerechtfertigten »ganzheitlichen« Osteopathie.

      Littlejohns Ansatz ist hierbei optimistisch. Weil es keine unter ernsthaften Bedingungen kontrollierbaren Theorien des Unbewussten geben kann, da diese Theorien nur in bewusstem Zustand entwickelt werden können, setzt er auf die Verbesserung des bewussten Zustandes im Sinne der durchdachten und willensbestimmten Selbstkontrolle. Die irritierenden Phänomene demgegenüber schreibt er nicht dem Unbewussten zu (dass uns ja nur in hypothetischen Theorien erschlossen sein kann), sondern den Affektionen und insbesondere den Leidenschaften. Sofern vor allem letztere auf Dauer gestellt sind, haben sie eine Verwirrung des Geistes zur Folge, die schließlich auch körperlich wirksam wird. Mit Wundt u. a. hält er daher auch eine kritische Rekonstruktion der alten Temperamententheorie für möglich, in der es um sanguinische, cholerische, phlegmatische und melancholische Stimmungen geht, die das gesamte psychische und körperliche Leben prägen.

      Den Leser/​innen liegt ein Werk vor, das sowohl zu seiner Zeit als auch heute Anregungen zu geben vermag. Der Originaltext ist weitestgehend sicher, obgleich eine Reihe von Druckfehlern vorliegen, die aber nicht ins Gewicht fallen. Wer mit den neueren anatomischen und physiologischen Auffassungen vertraut ist, wird sehen, dass die Geschichte weitergegangen ist und z. T. auch Fortschritte erzielt worden sind. Das ist insbesondere bei der Erfassung der elementaren Prozesse im Gehirn der Fall. Doch man wird gewiss fair sein: Die neuere »naturwissenschaftliche« Sicht der Sachverhalte ist zwar im Detail genauer, in der Gesamtsicht aber zweifellos nicht. Viele Probleme sind seit über 100 Jahren schlicht gleich geblieben.

      Zur Terminologie »Nerv(en)«

      Häufig stand im Originaltext lediglich nerve(s), obgleich es sich im Kontext um definierte Bestandteile einer Nervenzelle handelt. Bei der Übersetzung und dem anschließenden Lektorat wurde darauf geachtet, hier eine klare Unterscheidung zu treffen, um auch histologisch nicht so versierten Behandlern ein besseres Verständnis des ohnehin schon äußerst komplexen Textes zu ermöglichen. Folgende Terminologie wurde festgelegt:

      Nervenelemente = Zellkörper, Axon und/​oder Dendriten

      Nervenausläufer = Axone oder Dendriten

      Nervenzellen = Gesamtheit aus Zellkörper, Axon und Dendriten

      Nervenfaser = Bündel einzelner Axonen

      Nervenbahn = Bündel einzelner Nervenfasern

      Nervensystem = Vegetatives und/​oder Zentrales Nervensystem (kontextbezogen)

       »Es liegt eine ganz eigene Heiligkeit in der Wissenschaft und Kunst der Heilung. Sie müssen sich den erschütterndsten Szenen stellen, die Sterbliche jemals zu sehen bekommen, und das große Vertrauen empfangen, das Menschen geben können.

       Können Sie sagen, woher das Leben kommt, wohin es geht und welchem Zweck es dient? Wenn Sie Ihre Hände auf einen Kranken legen, dann tun Sie das so ehrfürchtig, als würden Sie den Urmechanismus von Erde und Himmel berühren, den Körper des Menschen, die vollkommenste Verkörperung göttlicher Weisheit.«

      John Martin Littlejohn3

      John Martin Littlejohn

      Psychophysiologie

      BRITISH SCHOOL OF OSTEOPATHY

      Littlejohn wollte nach seiner Rückkehr 1914 die erste Osteopathieschule des Vereinigten Königreichs und damit auch Europas gründen, was durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert wurde. So fällt das Gründungsdatum ins Jahr 1918 und mit der noch heute bestehenden British School of Osteopathy (BSO) in London legte Littlejohn zugleich das Fundament


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