Psychophysiologie (1899). John M Littlejohn
Dass wir heute zum ersten Mal in unserer Institution mit einem Kurs über Psychologie beginnen, markiert einen bedeutenden Aufbruch im Studienplan medizinischer Schulen. Obgleich man sich nur in sehr wenigen medizinischen Ausbildungsstätten hierzulande oder anderswo mit diesem Lehrfach befasst, handelt es sich um ein äußerst wichtiges Wissensgebiet. Seine Einführung steht für die Anerkennung der Einheit des Menschen als dreifach differenziertes Wesen aus Körper, Seele und Geist4. Wenn die Medizin – ich benutze diesen Begriff in jenem weiten Sinn, wie er in den Anfängen der Physiologie festgelegt wurde – es als ihre Aufgabe sieht, Gesundheit und Leben des Menschen zu bewahren und krankhafte Zustände zu heilen, die sein Leben und seine Gesundheit zu zerstören drohen, dann muss sie begreifen, dass die Materia medica der medizinischen Wissenschaft nicht nur auf die rein körperlichen und materiellen Elemente des Lebens anzuwenden ist, sondern auch auf jenen anderen, nicht weniger bedeutenden Teil des menschlichen Systems: das psychische Wesen. Aus der Erkenntnis heraus, dass die Osteopathie eine ebenso vollkommene wie exakte Wissenschaft sein will, führen wir in unseren Lehrplan nun auch das Studium des Geistes, der mentalen Zustände, Vorgänge und Phänomene ein, weil diese eine erhebliche Auswirkung auf Gesundheit und Lebensfreude haben.
Die moderne Psychologie wurde hauptsächlich in Großbritannien, Deutschland und den Vereinigten Staaten entwickelt. Diese Entwicklung verlief auf drei Linien:
– auf der empirischen Linie, die sich auf die sogenannte Erfahrung stützt,
– auf der vorwiegend in Deutschland verfolgten spekulativen Linie, deren Ursprung in der Philosophie Kants liegt, der die Vernunft zum zentralen Element der Psychologie erklärte und dessen Vernunftkonzept sein Zentrum im dem von der Vernunft gesetzten kategorischen Imperativ hat – der Basis aller intellektuellen und moralischen Entwicklung,
– auf der die neue Bewegung in der Psychologie repräsentierenden wissenschaftlichen Linie, die ihren ersten und hauptsächlichen Anstoß von der Schule der Evolutionsphilosophie erhielt.
Die englische Psychologie bestand zumeist in einer analytischen Betrachtung des Bewusstseins, wie dessen Phänomene sich in der Erfahrung zeigen. Dagegen war die deutsche Psychologie vor Herbart hauptsächlich eine Analyse spekulativer Zustände, verbunden mit einer semimythischen Vernunft. Sie gipfelte im Hegelianismus, dem Höhepunkt der Spekulation. Kant erörterte die Fähigkeit zur Vernunft in Bezug auf Erkenntnisse, die von Erfahrung unabhängig sind. Hegel zufolge ist das Selbst-Bewusstsein die ideale Einheit, auf die bezogen die gesamte Welt erklärt werden muss, wobei Gedanken wie Dinge Teile eines Ganzen sind und Stufen in einem Prozess repräsentieren. Tatsächlich ist das Denken selbst dieser Prozess.
Herbart, dessen Werk jeder Wissenschaftler kannte, löste eine Revolution im deutschen Denken aus, weil er die Spekulation beiseite ließ und das erfahrungsbezogene Denken einführte. Damit legte er in der wissenschaftlichen Schule das Fundament für die Vereinigung des englischen und des deutschen Denkens. Er repräsentierte den Geist der erfahrungsbezogenen Forschung, der die deutsche Philosophie in diesem Jahrhundert belebt hat. Dabei versuchte er selbst, eine Geistespsychologie aufzubauen, die auf mechanischen und statischen Betrachtungsweisen beruhte. Deshalb gebührt Deutschland die Ehre, den Geist erstmals aus einer wahrhaft experimentellen Sicht betrachtet zu haben.
In Amerika wurde die Psychologie bis in die jüngste Zeit durch zwei Strömungen des Denkens bestimmt: die theologische und die bildungsbezogene.
Nachdem der Kampf um Selbstbestimmung schließlich zur politischen Unabhängigkeit Amerikas geführt hatte, begann sich die Philosophie zu behaupten, war jedoch mit der Theologie vermählt. John Edwards Idee vom freien Willen bestimmte lange Zeit die Psychologie ebenso wie die Theologie. Zunächst war der pädagogische Einfluss ganz einfach eine Hilfe für die Theologie, hauptsächlich wegen der konfessionellen Arbeit in der Erziehung, vor allem im puritanischen Konzept der engen Beziehung von Kirche und Schule. Dass die Philosophie, die diese Zustände erzeugte, sehr der schottischen Schule des Realismus ähnelte, war auf den religiösen Einfluss und vor allem auf die herausragende Position des Princeton College zurückzuführen, das immerhin zwei seiner Präsidenten, Witherspoon und McCosh, aus Schottland berief. Die von Reid und Hamilton in Schottland gelehrte realistische Philosophie basierte auf dem Beobachten der Zustände des Bewusstseins. Durch die aposteriorische, also verfahrende Methode, werden apriorische Prinzipien entdeckt, wobei Beobachtung den Bereich des Bewusstseins ebenso einnimmt wie den der Sinneswahrnehmung und die Tatsachen der Erfahrung in beiden Bereichen koordiniert. Der Realismus, wie er in Amerika übernommen wurde, führte zur Anerkennung der mentalen Realität und baute das Bewusstsein auf, indem er den Geist mit einer realistischen Konzeption versah, die dem Bewusstsein einen Stellenwert verschaffte, der fast dem einer Gottheit gleichkam. Dies führte zu Hamiltons Idee des Absoluten als dem Unbekannten und dem Unerkennbaren. Die deutsche Philosophie nahm dann hauptsächlich durch die Schriften von Coleridge und Emerson ihren Weg nach Amerika. Im Religiösen legte Channing, im Philosophischen aber Emerson das Fundament mentaler Aktivität tief im Bewusstsein. »Der Geist ist die einzige Realität, die der Mensch und andere Wesen besser oder schlechter reflektieren.«5 Die Welt wird in das Bewusstsein übertragen, denn »Natur, Literatur, Geschichte sind ausschließlich subjektive Phänomene«. Alle Dinge werden im Geist geschaut, denn sie sind alle im Intellekt. Emerson machte den Geist real und war darin der Vorläufer der modernen Psychologie. Damit half er, die Psychologie von Theologie und Erziehung zu befreien und sie unabhängig zu machen.
Seit 1880 ist die Psychologie von Metaphysik, Theologie und Pädagogik getrennt und diese Scheidung hatte – soweit es die psychologische Entwicklung betrifft – erfreuliche Auswirkungen. Nach Herbart erkannte man, dass neben anderen Fragen des Seins, der Unsterblichkeit und der Erziehung auch die Gegebenheiten des Bewusstseinslebens von Bedeutung waren. In Deutschland begann man nun, eine Frage zu erörtern, die Locke, Descartes und Reid schon vorweggenommen hatten: die nach dem Zusammenhang von Geist und Gehirn nämlich. Man stellte die Frage, ob sich Geist und Gehirn einer Modifikation unterwerfen lassen. Die Modifikation des Gehirns, so schlossen die Deutschen, führe zu einer Modifikation des Geistes. Sie sahen hier die Möglichkeit, beim Erforschen des Geistes die wissenschaftliche Methode, das Experiment, anzuwenden. Es war Lotze, der sich in seinem Werk Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele (1852) als Erster mit dieser Frage beschäftigte, indem er einen experimentellen Plan entwarf. Und es war Wundt, der ihm als Erster eine bestimmte Form gab, indem er intensiv experimentierte und für alle Zeiten den Zusammenhang von Geist und Gehirn festlegte, einen Standpunkt, den er in seiner Schrift Grundzüge der Physiologischen Psychologie (1874) geschickt verteidigte. Kurz nach Lotze verschaffte Fechner in seinem Buch Elemente der Psychophysik (1860) der neuen wissenschaftlichen Methode und den Ergebnissen umfangreicher Experimente in Bezug auf Zustände der Sinnesempfindung6 öffentliche Aufmerksamkeit. Das war die erste große Revolution in der Psychologie. Sie brachte ihr eine feste Basis in der Physiologie und bereitete den Weg für ihre Anwendung im Bereich der medizinischen Ausbildung und Praxis. Die gesamte Basis der Psychologie hat sich damit verändert, sodass sie jetzt den Begriff wissenschaftlich verdient. Ihre zweite große Revolutionierung kam aus England, der Heimat der evolutionären Philosophie, wo Spencer ihr in seinen psychologischen Arbeiten eine neue Richtung gab.
Beide Strömungen wurden in Amerika übernommen. So wie in der Bevölkerung von Amerika aus ethnischer Sicht die Mischung der besten Elemente Europas repräsentiert ist, finden wir auf dem Gebiet der Psychologie eine klare Verbreitung dieser zwei Revolutionslinien. Die in Amerika heute angewandte Psychologie lässt sich – verglichen mit der, die vor zehn Jahren aktuell war – anhand zweier Besonderheiten umreißen:
(1) Sie ist funktional, das heißt, sie betrachtet die mentalen Funktionen und nicht mehr wie früher die mentalen Fähigkeiten.
(2) Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie hält man diese Geistesfunktionen für etwas, das sich entwickelt hat und sich weiterhin entwickelt und nicht, wie man früher glaubte, vorgefertigt existiert.
Anstelle eines intuitiven Bewusstseins bilden sich die Funktionen des Geistes heraus. Solange man jeden mentalen Vorgang als eine mentale Fähigkeit betrachtete, war jede Fähigkeit unabhängig von allen anderen, sodass im alten System das Gedächtnis ebenso eine Fähigkeit oder Kraft des Geistes war