Psychophysiologie (1899). John M Littlejohn
können diese kombinierten Impulse jedoch auch Muskelbewegungen hervorrufen, wobei die Bewegungen weitestgehend von den stimulierenden Ursachen abhängen. Sind die Stimuli stark, laufen die Impulse zu den Nervenzellen im Gehirn, wo sie aufgrund ihrer Stärke einen lebhaften Eindruck hinterlassen, der auch bei abgeblasster Stimulation verbleibt und sich durch eine leichte äußere oder innere Stimulation wieder abrufen lässt.
Hier haben wir die physiologische Basis der Gedankenassoziation, die in der Psychologie einen herausragenden Platz einnimmt, und ebenso die Basis von Gedächtnis und Erinnerung. Durch andauernde Wiederholung dieser Prozesse werden die Eindrücke so eng mit dem Zellkörper verbunden, dass sie schließlich inhärenter Teil des Zelllebens sind, somit durch Vererbung von Generation zu Generation weitergegeben werden und die physiologische Grundlage mentaler Intuitionen bilden. Derartige Intuitionen repräsentieren Modifikationen des Gehirns unter dem Einfluss der mentalen Entwicklung, wobei jedes Gehirn seine eigene Entwicklungsstufe in der Evolution darstellt. Wo es eine große Anzahl und Vielfalt von Eindrücken gibt, finden wir auch große Variationen in den Zellveränderungen und auch eine entsprechende Vielfalt bei den mentalen Phänomenen. Sind diese Eindrücke im Gehirn derart festgelegt, dass ein Stimulus aus einem anderen Bereich des Gehirns eine Reaktion hervorrufen kann, dann liegt ein voll entwickelter Geisteszustand vor. Auf diese Weise lassen sich Bilder von Szenen, die vom Sehsinn erfasst werden, oder Objekte, die in Kontakt mit dem Tastsinn kommen, in den Gehirnzellen speichern, um dann durch einen mentalen Stimulus wachgerufen zu werden.
Manche Physiologen behaupten, sie ließen sich spontan erwecken, was aber vermutlich nicht richtig ist, weil die dem Anschein nach spontanen Aufrufe eben doch von einer schwachen, oft indirekten Stimulation abhängen. Der Anblick eines Objekts kann Eindrücke abrufen, die zuvor mit einem derartigen oder einem analogen Objekt verbunden waren. Ein einfacher Abruf genügt, um schlummernde Eindrücke zu wecken. Phänomene, die zunächst rein willkürlich zu sein scheinen, werden dann zu reinen Reflexen oder sind zumindest nicht mehr mit bewusstem Wollen verbunden. Ein Kind etwa wird durch beharrliches Bemühen fähig, willentlich zu laufen. Nach der Kindheit können diese Bewegungen aber auch gänzlich unbewusst ausgeführt werden. Auf dieselbe Weise können mentale Phänomene so vollständig unbewusst werden, dass man bestimmte Handlungen oft als rein instinktiv bezeichnet.
Man stimmt allgemein darin überein, dass es unbewusste mentale Aktivität geben kann, deren Ergebnis später bewusst wird. Geistige Entwicklung setzt einen aufnahmefähigen Zustand der Nervenzellen ebenso voraus wie ein aktives Mitarbeiten dieser Zellen bei den zur molekularen Entwicklung gehörenden Veränderungen. Reguliert wird dies gewissermaßen durch die Selektionsfähigkeit, die im Falle verschiedener Eindrücke eine Konzentration auf bestimmte Eindrücke bei gleichzeitigem Ausschließen anderer erlaubt, sowie durch die Zellenaktivität im Zusammenhang mit speziellen Eindrücken und durch die Fähigkeit, diese Eindrücke zu assoziieren. Jedes dieser Elemente hat eine physiologische Grundlage im Zentralen Nervensystem und kann durch Übung stabiler werden, denn die Gehirnentwicklung hängt weitestgehend von geeignetem Training ab. Das bedeutet, dass sich Individuen in Bezug auf die Grundbeschaffenheit ihres Nervensystems voneinander unterscheiden, was wiederum die Grundlage für graduell unterschiedliche Intelligenz und Entschlusskraft bildet. Allerdings basieren diese primär auf erblich Erworbenem, das zusammen mit dem System selbst von den Vorfahren weitergegeben wurde.
So erhält jeder durch die Geburt nicht nur einen Körper, sondern auch einen Geist – die Basis mentaler Eigenart und Entwicklung. Während der Mensch nun von diesem Anfangspunkt seiner geistigen Entwicklung ausgehend beginnt, wird diese Entwicklung hauptsächlich durch Umweltgegebenheiten und Erziehungsprozesse bestimmt. Die Willensstärke lässt sich ebenfalls durch Übung steigern, sodass die hemmende Kraft weitestgehend von denselben Erziehungseinflüssen abhängt. Das meinen wir, wenn wir vom Geist als einer Einheit sprechen, die aus bestimmten, die Stufe der mentalen Entwicklung kennzeichnenden Handlungsfunktionen besteht. Die Fähigkeit zu weiterer Entwicklung ist das Charakteristikum jedes normalen Geistes.
Methode
Da Physiologie und Psychologie wie gesagt miteinander verbunden sind, muss die Vorgehensweise auf zweierlei Art erfolgen. Physiologie ist dabei das Mittel zum Aufbauen der Wissenschaft von der Psyche. Mit anderen Worten: Es geht um Psychologie mit physiologischer Methode. Die ältere Definition von Psychologie bezieht sich auf die Wissenschaft von der menschlichen Seele. Manche drücken es noch spezifischer aus, indem sie die Seele auf den subjektiven Geist begrenzen, so wie es Erdmann allein dadurch tut, dass er behauptet, es handele sich um die Grundlage des spirituellen Lebens. Wir nehmen die Existenz einer metaphysischen Entität als gegeben an, obwohl wir keinerlei Möglichkeiten haben, sie nachzuweisen. Da wir erkennen, dass es schwierig ist, eine Wissenschaft, insbesondere eine neue, zu definieren, dürfen wir nicht den Fehler machen, eine ideale Definition zu akzeptieren und dann zu versuchen, die Tatsachen mit dieser Definition in Übereinstimmung zu bringen. Deshalb sollten wir Psychologie eher beschreiben als definieren – nämlich als jenen Wissenschaftszweig, der die Phänomene des menschlichen Bewusstseins anhand physiologischer Methoden aus psychophysiologischer Perspektive erforscht. Denn wir haben es hier mit Daten zu tun, die nicht definiert werden können: nämlich mit dem Bewusstsein und seinen Phänomene.
Wenn wir die Phänomene richtig verstehen, können wir sie mit den Fachbegriffen »psychische« oder »bewusste Zustände« bezeichnen. Da allein Erfahrung solche Phänomene entdecken kann, ist der Versuch, sie zu beschreiben, wie sie sind, und ihre Zusammenhänge, die Art und Weise ihres Entstehens und ihres Miteinanderverbundenseins aufzuzeigen, Gegenstand unserer gegenwärtigen Untersuchung. Phänomene implizieren selbstverständlich, dass hinter ihnen ein Urgrund steckt. Daher können wir sie nicht erforschen, ohne die Existenz eines empfindenden Wesens vorauszusetzen, das »ego« oder »ich« sagen kann. Worin aber besteht nun dieses Ego?
Rein theoretisch sagen wir, dass es sich um die Seele handelt, doch es existiert und empfindet praktisch im Körper. Für den Menschen ist nun wiederum reiner Materialismus unmöglich, denn für ihn gibt es nur eine einzig reale Welt: die Welt des Denkens. Das Denken und der Gedanke erschaffen ihre eigenen Umgebungen. Der Mensch baut sich seine objektiven Verhältnisse aus der subjektiven Perspektive auf, sodass die Materie, ob sie nun aus dem pflanzlichen oder tierischen Bereich stammt, nach dem Abbild der Seele und durch die Seelenkraft der Person selbst geformt wird. Durch diese konstruktive Kraft der Erfahrung baut der Mensch für sich selbst seine personale Identität auf, wobei die Erinnerung an dieses Gleichsetzen von Sein mit einer Person das verbindende Glied in seinen sich stets verändernden Lebenserfahrungen bildet. Dies führt den Menschen zu der Schlussfolgerung, dass es innen ein Subjekt geben muss, das allen Phänomenen des Bewusstseins zugrunde liegt. In diesem Licht betrachtet der Mensch seine Erfahrungen als sein eigenen, seine Verantwortlichkeit als seine eigene und nicht als die eines anderen, empfindet diese Identität oder dieses Selbstsein als zu ihm gehörend und setzt sie von Tag zu Tag fort. Das Wort Geist oder Seele wird daher als gleichbedeutend mit dem Subjekt bewusster Phänomene verwendet. Wir bevorzugen das Wort Geist, weil es in gewissem Sinn von den mit dem Begriff Seele verbundenen Vorurteilen frei ist und keine besonders kompromittierenden Bezüge auf das soziale oder religiöse Leben hat. Demnach ist physiologische Psychologie eine Wissenschaft, die den menschlichen Geist aus der Perspektive seiner physischen und psychologischen Zusammenhänge erforscht.
Physiologie als Wissenschaft beschäftigt sich mit jenen Funktionen des Lebens, die wir im physischen Organismus verkörpert finden. In der Psychologie haben wir es dagegen mit den Phänomenen des Bewusstseins zu tun, wie sie in Verbindung mit dem Nervensystem und den körperlichen Bewegungen und Vorgängen auftreten. Daher müssen wir uns mit Relationen und Korrelationen befassen, die zwischen der Struktur und den Funktionen des Nervensystems und des Körpermechanismus sowie den Phänomenen des Bewusstseins bestehen. Das Nervensystem wird als Mechanismus betrachtet, der enge Beziehungen zum gesamten Körpersystem hat und es über diese Beziehungen steuert. Die Psychologie betrachtet die Physiologie des Nervenmechanismus in seinem Ursprung und seiner Struktur, bestehend aus materiellen Teilchen, die einer mit benachbarten Teilchen zusammenhängenden inneren Stimulation, aber auch einer mit externen Formen zusammenhängenden äußeren Stimulation unterworfen sind. Folglich konstituiert das Agieren und Interagieren der Moleküle die lebende Substanz und stellt bestimmte Beziehungen und Einflüsse dar