Psychophysiologie (1899). John M Littlejohn

Psychophysiologie (1899) - John M Littlejohn


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Glück sicherstellen kann. Die Physiologen haben ihre Forschungen im Wesentlichen auf die einzelnen Teile des Zentralen Nervensystems begrenzt, ohne zu versuchen, Modelle einer systematischen Aktivität des Gesamtsystems zu entwerfen. Das hat in der Physiologie zu der Tendenz geführt, die Bedeutung der Funktionsspezialisierung zu überschätzen. Dabei wird jedoch die Tatsache übersehen, dass es in der Aktivität des Gesamtsystems einen Zusammenhalt und eine Einigkeit gibt. Es ist wahrscheinlich, dass jeder aktive Vorgang im Nervensystem das gesamte menschliche System beeinflusst. Demnach muss es eine ständige Aktivität seitens der Nervenzellen geben, begleitet von kontinuierlichen Impulsen, die in die Zellen eindringen und sie verlassen. Dies bildet die Basis für »die Kontinuität bewusster Erfahrung«. Hinter dem Bewusstsein liegt – zumindest aus morphologischer Sicht – die anatomische Struktur des Nervensystems. Allerdings ist es bisher noch keinem gelungen, das Problem ihrer Zusammenhänge zu lösen. Der Bereich des Bewusstseins wanderte mit der Entwicklung der physiologischen Theorien allmählich nach oben, bis er – wie ein Physiologe es ausdrückte – seine letzte Zuflucht in dem nach der Lokalisierung der sensorischen und motorischen Bereiche einzig noch verbleibenden Bereich nehmen musste: im anterioren Anteil der grauen Substanz des Kortex nämlich.

      Die antiken Philosophen begrenzten den Geist nicht auf das Gehirn. Mit dem Beginn der modernen Psychologie wurde das Zentrum der bewussten mentalen, emotionalen und volitionalen Phänomene mit der Medulla verbunden, in jüngerer Zeit lokalisierte man es im frontalen Bereich des Kortex, und zwar hauptsächlich deswegen, weil dies der einzige noch freie Ort im Gehirn war. Sogar dann, wenn wir alle Veränderungen, die in diesem Bereich stattfinden, verstehen könnten, würde es uns wohl nicht gelingen, die Kluft zwischen dem rein Subjektiven und dem Objektiven zu überbrücken. Noch weniger dürften wir dazu in der Lage sein, mentale Phänomene in die ihnen vorausgehenden Ursachen aufzulösen.

      Die Physiologie hat sich hauptsächlich in zwei Schulen gespalten, wovon die eine die mentalen Phänomene verkörperlicht, indem sie sie ausschließlich auf physiologische und physische Ursachen zurückführt, während die andere sie idealisiert, indem sie ihnen bildhafte Namen gibt, die aber eigentlich keine Erklärung der Phänomene liefern. Durch die Kombination beider Anschauungen haben wir eine grundlegende physische und physiologische Basis für die ideale Interpretation dieser Phänomene. Sobald wir den Bereich des Transzendenten betreten und hinter all diesen physischen oder mentalen Phänomenen die Existenz einer metaphysischen Essenz voraussetzen, wird die Erklärung deutlicher, denn dann erweisen sich diese geistigen und körperlichen Phänomene schlicht als Offenbarungen jener inneren, tieferen und wahreren Existenz. Die Schwierigkeit dabei ist aber, dass ein derartiges Wesen, das die Metaphysiker als Seele identifizieren würden, in keiner Weise durch die Wissenschaft bewiesen werden kann. Im besten Fall handelt es sich einfach um eine metaphysische Konzeption.

      Wir versuchen nicht, diese Frage zu lösen. Doch es bleibt eine bedeutende physiologische Frage: Hat die Physiologie irgendeine Begründung dafür, dass sie das Bewusstsein und die gesamten psychischen Phänomene im frontalen Bereich des Gehirns lokalisiert? Sofern wir die Fakten der vergleichenden Physiologie richtig interpretieren, gründet diese Theorie nicht auf Tatsachen. Die Physiologen lokalisieren im Gehirn die Sinnesempfindungen, womit gemeint ist, dass dort all jene Impulse enden, die in Bewusstsein resultieren. Doch die anderen Anteile des Nervensystems, die die Impulse zu diesem Sensorium übertragen, können ebenso viel mit Bewusstsein zu tun haben wie das Sensorium selbst. Auch bei den niederen Tieren, deren Gehirnentwicklung relativ einfach ist und die keine der charakteristischen kortikalen Gehirnwindungen besitzen, die man beim Menschen mit mentalen Phänomenen in Verbindung bringt, finden wir Bewusstsein. Diese auf der vollkommenen Einheit des Körpers und insbesondere des Nervensystems basierende Sichtweise überwindet die von der modernen Physiologie betonte Schwierigkeit einer perfekten Lokalisierung der verschiedenen Funktionen.

      In den frühesten Zuständen der Zellentwicklung erkennen wir, dass die einzelne Zelle der Stimulation unterliegt und bestimmte molekulare Veränderungen durchmacht. Diese Veränderungen senden Impulse an andere Zellen und ebenso entlang der Nervenbahnen bis zur Oberfläche des Körpers. Wird die erste Zelle, die aufgrund ihrer Fähigkeit, Impulse zu empfangen und zu übermitteln, funktionell mehr oder weniger differenziert ist, durch kontinuierliche Stimulation stärker spezialisiert, sodass ihre Veränderungen an diese besondere Art der Stimulation angepasst werden und auf derartige äußere Stimuli gewohnheitsmäßig reagieren, dann sind das die ersten Anfänge von Bewusstsein und Gedächtnis. Sogar hier ist aber Bewusstsein nicht das Produkt von Veränderungen, die in den Zellen stattfinden, denn selbst eine Kenntnis aller inneren Veränderungen würde kein Bewusstsein zur Folge haben, weil das Bewusstsein nur in Verbindung mit äußeren Manifestationen entsteht. Einige haben dies mit der Vermutung zu erklären versucht, dass mit Materie ein Bewusstsein verbunden ist. Das kann jedoch nicht der Fall sein, denn wir finden keine Verbindungslinie zwischen physischer Materie und psychischem Bewusstsein. Folglich finden wir zwei anscheinende Gegensätze, die einander nicht verursachen. Manche haben diese Verbindung dadurch vervollständigt, dass sie irgendeine Art von Energie mit dem Verursachen von Bewusstsein gleichsetzen. Energie ist aber eine physische Eigenschaft, aufgrund derer eine bestimmte Materie oder bestimmte Materien die Fähigkeit zu agieren besitzen. Dieses Agieren hängt von den aktiven Veränderungen ab, die in den einzelnen Elementen stattfinden. Bilden diese Veränderungen, die in den Zellen vermutlich auf der Basis molekularer Aktivität geschehen, die Grundlage des Bewusstseins, dann muss Bewusstsein eine materielle und keine psychische Qualität sein. Denn das Ergebnis kann nicht mehr enthalten als die Ursache. Bewusstsein lässt sich also nicht anhand einfacher Substanzveränderungen oder Materiebewegungen erklären und ist daher unerklärbar – es sei denn, wir stellen für das Psychische wie für das Physiologische die Hypothese auf, dass jedes in seiner eigenen Sphäre die Basis seiner eigenen charakteristischen Aktivität bildet. Betrachten wir das Nervensystem als komplexes Gebilde aus Nervenmechanismen, wobei jeder Mechanismus in seiner einfachen Form eine Aktivität erzeugt, in der es Bewusstsein gibt, dann ist das gesamte Nervensystem aus psychischer Sicht eine komplexe Serie bewusster Zustände. Bewusstsein kann dann nicht nur im ganzen Gehirn existieren, sondern auch in allen Zellen, die das komplexe Gehirn konstituieren. Wird ein sensorischer Teil des Körpers stimuliert, kommt es zur Übertragung des Eindrucks in das Zentrale Nervensystem und löst irgendeine Reflexbewegung aus. Dies bezeichnet eine Reflexhandlung, die, zumindest vom Gehirnzentrum her, ohne Volition vor sich geht. Und doch gibt es ein Bewusstsein der Veränderungen, die im Zusammenhang mit dem Empfangen und Verteilen der Impulse stattfinden. Das Zentrum der Reflexreaktion außerhalb des Gehirns besitzt eine enge Verbindung mit den Zellen der grauen Substanz im Gehirn, sodass jeder sensorische Bereich des Körpers eine Verbindung mit einem Gehirnbereich besitzt. Eindrücke können von diesen zerebralen Zentren reflektorisch nach außen zu anderen Zentren verlaufen, woraus unwillkürliche Bewegungen entstehen. Es können aber auch Impulse von den sensorischen Zentren im Kortex zu den Zentren der volitionalen Impulse passieren, woraus willkürliche Bewegungen entstehen. Jeder willkürliche Vorgang ist jedoch im Wesentlichen eine Reflexreaktion, abhängig von einer afferenten Stimulation, die beim Hervorrufen des Vorgangs oder schon zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt.

      Die Eindrücke in den Zellen oder Zellen-Kombinationen bleiben erhalten und bilden das Gedächtnis, sodass die Volition bei einer Erregung der Impulse eine Basis hat, auf der sie agieren kann. Hinzu kommt, dass beim Sehvorgang ein auf der Retina geformtes Bild vom Nervus opticus zu den koordinierenden Corpora quadrigemina11 und von dort weiter zum optischen Bereich im Kortex übermittelt wird. Dieses Bild erzeugt, wenn es sich den Zellen einprägt, ein Erinnerungsbild, das unter dem Einfluss von Impulsen im Bewusstsein geweckt werden kann, um eine Aktivität hervorzurufen. Solche sensorischen Eindrücke können jedoch nicht nur Bewusstsein im Zerebrum erregen, sondern auch im Zerebellum, in welchem die Koordination stattfindet. Es ist wahrscheinlich, dass es sensorische Bereiche sowohl im Zerebrum als auch im Zerebellum gibt. Verhält es sich so, dann stellen die Gehirnwindungen des Zerebrums und den Sitz der regulären rhythmischen, von Volition unabhängigen Bewegungen dar und die des Zerebellums das willkürliche Element in allen Bewegungen. Werden aufgrund der Aktivität eines Objekts bzw. von Objekten verschiedene Sinnesempfindungen als Stimuli auf verschiedene Teile der sensorischen Fläche hervorgerufen, beginnen in verschiedenen kortikalen Bereichen molekulare Veränderungen. Diese Bereiche sind durch die Assoziationsfasern so miteinander verbunden, dass das Bewusstsein, sobald es die verschiedenen


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