Finderglück. Johannes Saltzwedel
gewußt. Abenteuernd in ihrer begeisterten Lautsüchtigkeit haben die Griechen mit Wörtern oder Namen jongliert und Begriffswelten geschaffen; auch für die auf Regeln erpichteren Römer ist und bleibt der Kulturmensch in erster Linie ein zῷon lógon e ¢con. Am knappsten und vielleicht schönsten formuliert ist der Gedanke vom Epikureer Horaz, der beim Stichwort der Freundschaft mal eben die menschliche Zivilisation entstehen läßt, allein dank der Sprache:
Cum prorepserunt primis animalia terris,
mutum et turpe pecus, glandem atque cubilia propter
unguibus et pugnis, dein fustibus, atque ita porro
pugnabant armis, quae post fabricaverat usus,
donec verba, quibus voces sensusque notarent,
nominaque invenere; dehinc absistere bello,
oppida coeperunt munire et ponere leges,
nequis fur esset neu latro neu quis adulter.
(Sat. 1,3)
In der klugen Übersetzung von Rudolf Helm:
Als aus der frühesten Erde die Lebewesen entschlüpften,
Stumm noch und häßlich wie Vieh, da stritt man
um Eicheln und Lager,
Erst mit Nägeln und Fäusten, mit Knütteln sodann
und so weiter
Mit den Waffen, die drauf das Bedürfnis ihnen
geschaffen,
Bis man für Dinge und Handlung Bezeichnungen fand,
um die Laute
Und Empfindung in Worte zu formen; vom Kampfe
zu lassen
Fing man da an und Städte zu baun und Gesetze
zu geben,
Daß sich nicht Diebe noch Räuber noch Störer der Ehe
mehr fänden.
Wenn das keine anfängliche Bildung ist, die hier im Zeitraffer von acht Versen vorüberhuscht, was dann? Das sprachhistorische Gegenstück findet sich bei einem Blick ins Deutsche Wörterbuch. Dort errichtet sein Begründer Jacob Grimm 1860 höchstpersönlich auf dem schönen alten Grundstück der ›Bildung‹ ein wohnliches Sinngebäude von vier Stockwerken, die er nach seiner Art mit lateinischen Äquivalenten belegt: Zunächst ist Bildung imago, dann auch forma und species, als nächstes (erst seit etwa 1750) cultus animi und humanitas, schließlich (ungefähr seit Grimms eigener Zeit) formatio und institutio.
Daß Humanitas sprachlich verfaßt sein muß, daß also die ›gebildeten Stände‹, an die schon Schleiermacher und Fichte in Buchtiteln appellieren, ihre Sonderstellung weniger einem materiellen Vorteil, sondern vor allem dem geschärften Bewußtsein für den Umgang mit Wort und Rede verdanken, wird in der liberalen Atmosphäre Berliner Salons, an der auch Jacob Grimm partizipierte, eigentlich als selbstverständlich angesehen. »Der wahre Zwek des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«, erklärt noch so ein preußischer Kulturbürger, Wilhelm von Humboldt, mit 25 Jahren. Daß dieses Ideal allseitiger Selbstformung in reflektierter Ausdrucksfähigkeit gründet, mußte man nicht mehr eigens hinzufügen.
Dabei kann das sogar ein eminent Sprachbewußter aus dem Blick verlieren. Martin Heidegger hat aus dem Concetto des Novalis, daß die Sprache »sich blos um sich selbst bekümmert«, sein Mantra »Die Sprache spricht« destilliert und von ihm aus zu orakeln begonnen, Sprache sei »lichtendverbergende Ankunft des Seins selbst«. Demgegenüber lohnt es sich vielleicht doch, in Erinnerung zu bringen, daß sich Humboldt als Schüler der Aufklärung von solchem Geschehenlassenmüssen und tendentiell entmündigendem Mystizismus nie anstecken ließ: Bewußter als die meisten hat er ein Leben lang die Sprache gerade in ihrer unüberschaubaren Vielfalt als Kontinuum des Humanen begriffen und ihr um der Bildung willen nachzudenken versucht.
An dergleichen kulturhistorische Einzelheiten könnte sich erinnern, wer das heutige Verhältnis von Sprache und Bildung umrißhaft in den Blick zu bekommen versucht. Fast jede der erwähnten Ansichten scheint nämlich zur gegenwärtigen Theorie und Praxis quer zu stehen. Wohl braucht man nicht gleich einen Zweck des Menschen zu postulieren. Aber daß das Ringen um Ausdruck als Arbeit am Gedanken (sofern man noch weiß, was das bedeuten könnte) etwas mit Humanität zu tun hat, wie Sprache individuellen Charakter und bürgerliches Miteinander erst ermöglicht und welch fundamentaler Wert um dieser Ziele willen dem Spiel mit Wörtern und der Freude an Lauten zukommt, all dies wird im öffentlichen Bewußtsein nahezu völlig verdrängt.
Von Sprachfreude ist sowieso kaum je die Rede, und an die Stelle so verdächtig vollmundiger Begriffe wie Humanität und Bildung sind um der scheinbaren Transparenz und Freiheit von Bevormundung willen nüchterne, nach Möglichkeit meßbare Größen wie etwa das Wissen getreten. Dessen Akkumulation kann man je nach geistiger Wetterlage feiern oder fürchten, sein Vorhandensein suggeriert beruhigende Konkurrenzvorteile, und sollte einmal etwas damit schiefgehen, ist immer ein Experte greifbar, der wenigstens die nötigen Vokabeln kennt; in schweren Fällen bittet man um einen Termin beim Epistemologen. Sprache als geistige Atmosphäre und schöpferischer Impuls, als Anreiz und Aufgabe läßt sich, so scheint es, weitgehend delegieren – in der noch immer gängigsten Sozialtheorie jedenfalls ist die Macht des Wortes virtuos ausgeblendet. Demokraten als Glieder der Wissensgesellschaft sollen da ihre gesellschaftliche Existenz (oder reicht uns für derlei vage Beschreibung etwa noch das ausgeleierte Wort Diskurs?) durch kommunikatives Handeln gestalten, in dem das gemeinsame Bemühen um Wahrheit immer schon vorausgesetzt ist. Ein derart zur Trainingshalle kollektiver Vernunft ernüchtertes Ideal der Öffentlichkeit stellt die Lust am formulierenden Überzeugen, selbst an der Frischluft guten Stils, unter den Generalverdacht der Manipulation und verbannt zugleich jedes ungesteuert freie Spiel der Wortkräfte ins Zwielicht des folgen- und somit nutzlosen Allotrias. Allerdings: Wer spricht, trägt Verantwortung; was ich sage, kann also prinzipiell gegen mich verwendet werden. Diese freudlose, ja angstbesetzte Einstellung hat sich in Sachen des Wortausdrucks während der vergangenen Jahrzehnte zur öffentlichen Normalität entwickelt.
Aus solchen und ähnlichen Gründen mutet das Eintreten für gehaltvollen Ausdruck, zunächst im Deutschen, momentan beklagenswert sektiererisch an. Die intellektuelle Kritik der Rede und Schreibe liegt fast gänzlich brach – rühmenswerte Ausnahmen wie die Bücher des Freiburger Germanisten Uwe Pörksen bestätigen es eher noch. Daß mancherorts für amüsante Ausflüge zwischen Dativ und Genetiv Eintrittspreise wie beim Kabarett verlangt werden, daß anderswo keine 25 Zeilen Sprachglosse mit flinken Ad-hoc-Meinungen der Pflicht genügen müssen, sind nur Randsymptome der Notlage. Die öde, geduckte Verlautbarungsprosa aus Wirtschaft, Politik und Akademie – denken Sie nur an die geradezu realsatirisch anmutende Terminologie der unvermeidlichen Förderungsanträge – scheint teufelskreisartig auch die Medien zu erfassen, um dann, anstatt geläutert zu werden, eilig wiedergekäut den nächsten Umlauf zu beginnen. Ähnlich wie es im Sport regelmäßig um die Bezichtigung neuer Dopingsünder geht, beschäftigt sich die Öffentlichkeit bei Fragen der Wortwahl fast nur noch mit der rituell ablaufenden Skandalisierung politischer Inkorrektheiten. Sich äußern ist riskant; wer Pech hat, dessen Sprachprägung wird vielleicht als »Unwort des Jahres« angeprangert. Also redet man lieber halblaut, en passant, unauffällig. Historisch angestaute Pathosscheu, Flüchtigkeit und fast völliger Mangel an Stilempfinden lassen in unheiliger Allianz die Sprache vergrauen.
Dabei blüht die Freude am pfiffigen Ausdruck gerade im unüberschaubaren elektronischen Mitteilungsalltag bunter denn je: Auf dem engen Raum von Rap-Reimen und SMS, in den 140 Zeichen von Tweets, den Twitter-Botschaften, im Rahmen sozialer Netzwerke, Blogs und anderswo toben sich Wortspieler bisweilen derart aus, daß kein Lexikograph mehr nachkäme. Abseits