Finderglück. Johannes Saltzwedel
Videoclips: Wo Verzeitlichung nicht unmittelbar in das Nebeneinander mehrerer separater Reize übergehen kann, muß wenigstens ein pausenloser Wechsel der Bilder, Sujets und Intensitätsebenen den Schein aufrechterhalten, daß die aktuelle Erlebnisspanne mitreißend gefüllt sei.
Reizüberflutung zu beklagen ist spätestens seit den zwanziger Jahren ein Topos der Eigentlichkeit geworden. Jenseits solcher Floskeln aber scheint sich unser Verhalten in der und zur Welt tatsächlich zu wandeln: Wir gewöhnen uns an dauerndes Umschalten, an einen Alltag paralleler oder zumindest simultan vorstellbarer Sinneserregungen diversester Art, wie ihn schon die Kaufhausmusik oder ein Telephonat mit dem Handy aus dem fahrenden Zug darstellen. Vorgreifend könnte man behaupten: Die innere Haltung, die solchen für Bürger Westeuropas fast unausweichlichen Situationen entspricht, ist eine im höchsten Grade antimeditative und somit ein Inbegriff, wenn nicht gar die Übersteigerung dessen, was als westliche Lebensform seit etlichen Jahren in die Kritik geraten ist. Eine weitere Entfernung vom asketischen Ideal der Selbstfindung als die momentan im Ästhetischen grassierende Neuigkeitsversessenheit scheint kaum denkbar.
Leicht könnte nun der Multimedia-Mensch als künftiger MPD-Patient porträtiert werden, der zu gesammeltem Aufmerken und entsprechender Hypotaxe in Gedanken und Wortwahl schon heute unfähig ist, weil er seine Umgebung gewohnheitsmäßig als Feld universellen Zappings begreift. Ein Gegenwartskundler könnte die Nervosität schon unter Kleinkindern, das allseits beklagte Abnehmen der Konzentrationsfähigkeit im Schulalter wie des verständnisvollen Lesens unter Studenten mühelos im Typus eines Weltverhaltens summieren, das die kurze rezeptive Aufmerksamkeit, den raschen Konsum fertiger, meist bildförmiger Eindrücke zur Norm erhoben hat. Er könnte hervorheben, daß das pure Aushalten eines möglichst großen Quantums solcher Eindrücke entscheidend geworden ist, daß mithin Bewältigung, und zwar quantitative, das qualifizierende Verstehen übertrumpft oder es wenigstens versucht. Es brauchte nur jemanden diese Flüchtigkeit, dies Schwinden intellektueller Ausdauer postmoderne Zerfahrenheit zu nennen, schon wäre die Bahn frei für reaktionäre Lamenti. Das aber hieße eine Chance vergeben für die Wahrnehmung, wie umfassend die Abkehr von sequentieller Vermittlung, der Hang zur gestückelten Wahrnehmungsvielfalt in unausgesetzten plötzlichen Schnitten unsere ästhetische Situation prägt.
Als Georg Simmel im Winter 1902/03 einen Vortrag über »Die Großstädte und das Geistesleben« ausarbeitete, begann er wie selbstverständlich mit der »Steigerung des Nervenlebens«, die das »Unterschiedswesen« Mensch im Getümmel der Metropolen erfährt. Umdrängt vom »raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke«, kämpft das Individuum auf neue, härtere Art um »die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins«, es setzt dem großstädtischen Panoptikum einen Verstandespanzer der »Reserve« entgegen, hinter dem das seelenhafte Ich als unverwechselbares fortexistieren kann. So sehr es von äußeren Reizen »brutal hin und her« gerissen wird, wahrt es noch im dichtesten Trubel distanzierte Erkenntniseinheit. Simmel, dessen eigener Prosastil bei all solcher Distanz ein Höchstmaß ästhetischer Sensibilität zu bewahren sucht, hat das »sich umgrenzende Ich« (Benn) fraglos zur einzig sinnvollen Antwort auf die unausgesetzte Affektion erklärt: »Wenn der fortwährenden äußeren Berührung … so viele innere Reaktionen antworten sollten … so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten.« Genau diese unausdenkbare Lage aber ist seit langem auch abseits der Metropolen eingetreten, ja sie gilt heute als unvermeidlich, wenn nicht gar erstrebenswert – wesentlich infolge elektronischer Medien, deren Siegeszug und Definitionsmacht Simmel nicht ahnen konnte.
Unter den Geisteswissenschaftlern sind es zuerst die Linguisten gewesen, die den dynamischen, auf ein jeweiliges Kontinuum zurückgehenden Theoriemodellen der Jahrhundertwende Bestimmungsraster entgegenstellten, die auf diskrete Werte, möglichst gar binäre Oppositionen setzten. Der Strukturalismus, mochte er sich in Randzonen auch gern spielerisch geben, versprach sich von dieser Quantelung geistiger Inhalte viel. Ließe sich die Physik menschlichen Ausdrucks, der Zentralkalkül ideeller Arbeit, mit dem ja schon ein Musil ironisch geliebäugelt hatte, tatsächlich ins Werk setzen, dann verwandelten sich plötzlich viele alte Geistesfragen zu Problemen, denen allein noch die technische Lösung mangelte. Die Folgen dieser Haltung zeigen sich schon in den mannigfachen Spielarten des europäischen Nouveau Roman: Erzählung muß in den Untergrund flüchten, weil eine Versuchsanordnung, vom fingierten Stilleben über die Tonband-Imitation bis zur Inventarliste, die Textoberfläche bildet; diskrete Einzelheiten, statische Szenen und musivisches Dasein sollen authentisches Datenmaterial liefern. Kaum einem der Autoren, die mit avantgardistischem Selbstbewußtsein auftraten, war bewußt, wie präzis ihr gewitztes Kunstwollen wirklich die technische Entwicklung der Erkenntnismittel nachvollzog. Erst heute zeigt sich, daß die Sprachingenieure bloß Teil einer weit umfassenderen ästhetischen Umwälzung waren. Denn heute hat sich die Bevorzugung diskreter statt kontinuierlicher Eindrücke zum Vorwalten digitaler über analoge Darstellung und Wahrnehmung verschärft. Oswald Wiener, der 1970 das durchtrieben komische Experimentalwerk »die verbesserung von mitteleuropa, roman« veröffentlichte, weiß davon. In seinen 1998 erschienenen Vorlesungen zur Theorie der Turing-Maschinen fällt gleich am Anfang so lapidar wie unauffällig der Satz: »Die Zeit teilen wir im Hinblick auf die Maschine zweckmäßigerweise in diskrete Abschnitte, Zeiteinheiten.«–»Im Hinblick auf die Maschine«: Da braucht man noch nicht einmal an die menschlichen Roboter aus den Industriekavernen von Fritz Langs »Metropolis« zu denken, die zur Bewegung im mörderisch rasanten Einheitstakt verdammt sind. Es genügt schon, sich an die Rede vom Ruck erinnert zu fühlen, der durch Deutschland gehen müsse.
Die sinnlichen Aspekte der digital zerlegten Weltauffassung sind oft genug beschrieben worden. Sei es das sprunghafte Auftauchen, Verschwinden und Wechseln von Information, die ihrer Tendenz nach statt sequentieller Erschließung ein graphisch-piktographisches Erfassen im Moment verlangten; seien es Menge, Präzision und im gleichen Maße primäre Beliebigkeit von Zahlgrößen, denen auch dem Gefühl nach der Lebenswert von Berechenbarkeit und Wissen zuerkannt wird: Komplett wie nie zuvor und austauschbar wie nie zuvor, stellen digitale Daten ein Äußerstes an Exaktheit wie an Flüchtigkeit dar, ein präsentisches Perfektum, das allein noch zu vergehen taugt. Der Druckpunkt auf Tastaturen gab einen Vorgeschmack. Inzwischen läßt die Standbildtaste, am Videorecorder selbstverständlich, auch auf normalen Heimfernsehern die Bildpunkte gefrieren und löst so aus der scheinbaren Folge das diskrete Rasterbild eines Moments – verräterischerweise meist des falschen. Mechanisch wechselnde optische Elemente hingegen, Werbebanden im Fußballstadion zum Beispiel, streifenförmig aufgeteilte Plakatanzeigen an Flughäfen oder das Senkrecht-Windrad an der Tankstelle, wirken dank ihrer nachvollziehbaren Kontinuierlichkeit schon zart nostalgisch, so selbstverständlich rechnen die Sinne mit verzögerungsfreiem, digitalem Bildwechsel. Daß sich zwei völlig verschiedene elektronische Porträts durch sogenanntes Morphing computergesteuert ineinander verwandeln lassen, bestätigt durch seine satirische Vortäuschung eines schöpferisch-dramatischen Werdegangs nur, wie weitgehend unsere Eindruckswelt sich jenseits von kausalen und historischen Bezügen in primär zeitlos empfundene Zustandsdaten aufgelöst hat, in ein – anstatt auf Begeisterung – auf rasche, grundlose Faszination angewiesenes Kaleidoskop vieler, vieler bunter ›stills‹.
Aus dieser Richtung gesehen wirken etliche Accessoires der jüngsten Vergangenheit wie Vorboten der kommenden Totalzerlegung. Stroboskoplichter beispielsweise, die Grundausstattung von Discos der siebziger Jahre, gewöhnten mehr als eine Generation an die Entzeitlichung des Moments. Selbst daß Verzeichnisse der Namen, Dinge oder Verhaltensweisen, die gerade als modisch oder überholt gelten sollten, In-und-out-Listen heißen, gemahnt seltsam daran, auf welch dualen, ja nahezu manichäischen Grundlagen das Starsystem beruht, das weithin an die Stelle einer kritischen Öffentlichkeit getreten ist.
Auf den ersten Blick scheint nun die in potentiell unendlich viele Einzelbilder zerteilte Wahrnehmung und Wertung folgerecht zu vollenden, was um die Jahrhundertwende verblüffend einhellig zum Signum moderner Kunst erklärt wurde. Der diskursiv uneinholbare, vom schockhaften Hereinbrechen neuen Sinns schier berstende Augenblick, hier scheint er verwirklicht. Plötzlichkeit der Epiphanie in jedem neuen elektronischen Zeittakt, welch höhere Intensität ästhetischer Erfahrung hätten die Künder momenthafter Kunst noch anstreben können? Erst im Nahblick wird deutlich, daß ihnen nahezu das Gegenteil vorgeschwebt haben dürfte. Ein nur eben noch erfaßbarer diskreter