Finderglück. Johannes Saltzwedel
Einfühlung, tatsächlich aber zu sprachlichen Billiglösungen führt – schon deswegen, weil für wirklich humane Praxis, für eine Haltung der Wesentlichkeit schlicht die Zeit fehlt. Paradoxerweise schlägt so das unabschließbare, eben historisch offene Bemühen, Individuelles zu respektieren, in Pauschalisierung um, und es beginnt, fatal an die Hoffnung zu erinnern, daß zur Aufklärung, ganz gleich was man so nennt, bloß der rechte Lichtschalter gefunden werden müsse – einer dann natürlich dauerhaft, also endzeitlich, undialektisch, ja unhistorisch gedachten Aufklärung.
Selbst die so kraftvoll wiedererwachte Sehnsucht nach Moralstandards ist anfällig für derlei digitale Schemata. Kataloge von Primär- und Sekundärtugenden, ob an Umfragezahlen erläutert oder vom Katheder deduziert, wirken schon wegen der Einteilung menschlichen Verhaltens nach diskreten Kategorien wie unverbindliche Augenblicksmodelle. Ihre Wirksamkeit kommt der Art nahe, wie das Stadtplanungsspiel »SimCity« soziale Standards repräsentiert: In diesem schon klassischen Computerspiel, zumindest seinen frühen Versionen, bemißt sich Wohlergehen an Produktionsziffern, Verkehrsströmen und Siedlungsvortrieb, die öffentliche Moral ist an der Dichte der Polizeiwachen abzulesen, und der allmächtige virtuelle Bürgermeister – de facto der Spieler am Bildschirm – muß mit Unruhen höchstens dann rechnen, wenn er die Steuern erhöht. Und steckt nicht auch im vieldiskutierten Begriff »Multikulturalismus« schon die Annahme, daß kulturelle Eigenarten eine in sich wertentrückte Grundmenge gleichrangiger Optionen bilden? Läßt nicht der vornehm desinteressierte Ton all die vielen historisch erstrittenen und erlittenen Konturen von Identität so abgrenzbar erscheinen wie Programmkanäle im Kabelfernsehen und ihre Pluralität so erhaltenswert wie die bestialische Artenfülle im Zoo? Drängen wohlmeinende Toleranzformeln à la »Weltethos« das Charakteristische der angeblichen Kulturen nicht derart zusammen, daß vom Schicksal des Werdens eine Kollektion von Vorurteilsmasken übrigbleibt, nach deren befremdender Besichtigung man höchst indigniert ist, daran erinnert zu werden, daß auch die eigene schwerlich abnehmbar oder gar auszuwechseln wäre?
Wie in diesen Fällen die Menge des scheinbar Verfügbaren, Fertigen, Optionalen unbemerkt zu schlechter Pluralität gemindert wird, so neigt unsere digital brüchig gewordene Wahrnehmung zur Radikalform jener »Blasiertheit«, die Georg Simmel am überforderten Metropolenbewohner gewahrte. Abgebrüht davon, daß niemand mehr ihm garantieren kann, ob die neue Version seines PC-Betriebssystems »stabil« läuft oder nicht, überrascht es den Manipulateur von Datenzuständen kaum noch, daß soziale und geistige Betriebssysteme zuweilen ebenfalls abstürzen. Unwillkürlich nimmt er an, daß auch jenseits der Festplatten für den nötigen Ersatz an Lebens- und Gedankensoftware gesorgt sein dürfte: Die Experten werden schon ein neues Modell liefern, auch wenn ihr nächstes Produkt genauso eine mit Fehlern durchsetzte Betaversion sein mag. Wer dennoch, statt sich cool dieser entbürgerlichenden Vergleichgültigung zu fügen, Wahrheit im Singular verlangt, ist wirklich selber schuld – vielleicht ohnehin jeder, der von irgendeinem der vielen Zustände auf dem geistigen Bildschirm mehr verlangt als ein meßbares Quantum Hirnstimulation. Charakteristischerweise sind Aufsatzsammlungen, in denen Widersprüchliches nach Proporzregeln nebeneinander stehenbleibt, in fast allen Geisteswissenschaften zur beliebtesten, da raschesten Publikationsart avanciert: Wähle jeder, aus welchen Gründen und Traditionen auch immer, die ihm gerade genehme Les- und Denkart, ganz wie in seiner restlichen Wahrnehmungswelt üblich; übermorgen werden neue Bilder die heutigen ohnehin vollständig überschreiben. In den Künsten ist diese Verabschiedung des Unbedingten zugunsten der Resignation auf ein virtuelles System schon alltäglich. Kaum absehbar, was solche Haltung aus dem Begriff der Geschichte insgesamt macht.
Am nachhaltigsten aber wirkt sich das digitale Flimmern, der Abschied vom Sequentiellen, auf den Begriff des Wissens selbst aus. Wissen steht der diskret meßbaren Akkumulationsgröße Information so nahe, daß schon aus praktischen – von physikalischen bis administrativen – Gründen seine Verwaltung und Verfügbarkeit wichtiger werden als jede inhaltliche Klärung. Nicht was und wozu, sondern wieviel und wie rasch man weiß, gilt als Stärke, ja noch die Geschwindigkeiten der Informationsströme oder die Angabe, in wie wenigen Jahren sich »das Wissen« der Menschheit schon wieder verdoppelt habe, signalisieren beruhigenden Reichtum. In vielen, auch der Wortwahl nach repräsentativen Studien ist vom kulturellen Kapital des Wissens die Rede, vom Aufbruch in die Wissensgesellschaft und davon, daß Wissen als Problemlösungsmittel füglich »vernetzt« werden müsse wie die Computer. Solch von Experten verschaltetes Wissen, dessen einheitliche Intensität und freie Abrufbarkeit seine Hauptvorzüge ausmachen, ein positivistisch egalitäres Wissen im krudesten Sinne der »natural sciences«, ist von Erkenntnis längst auch seiner Anmutung nach so verschieden, daß der gelehrten Betrachtung allenfalls seine Strukturen (mit Foucault gesprochen) und Stadien – Entwicklungsphasen wäre schon zuviel gesagt – einer Untersuchung würdig erscheinen. Konnte Robert Musils General Stumm von Bordwehr noch über dem endlosen Prospekt geistiger Gehalte und Hierarchien in der Staatsbibliothek tragikomisch resignieren, so hinterläßt die endlose Parataxe des Wissens von heute nur mehr vagen Appetit auf ein ganz anderes. Das leichthin verkündete Wort von der Entwertung des Wissens gewinnt Profil, sobald man sich klarmacht, mit welcher Mühe etwa Philosophen gegenwärtig eine Ahnung davon zurückzugewinnen trachten, was ein Sonnenuntergang ist. Noch das am wenigsten digital erfaßbare Grundverhalten des Menschen, seine urtümlichste Traditionalität, das Erzählen, gerinnt durch die postmoderne Rede von sinnstiftenden »großen Erzählungen« zur Sammlung austauschbarer, verwechselbarer, wiewohl angeblich magisch bindekräftiger Bilder.
All diese Aspekte erscheinen gebündelt in der ästhetischen Form des Internets. Seine jederzeit abrufbaren Datenzustände tragen Zeit-, also Verfallsstempel. Seine kaum begrenzten Wachstumsreserven zwingen dazu, möglichst exotische, unverwechselbare Namen für Personen und Institutionen zu verwenden, damit sie im ungeheuren Zeichenindex der Suchmaschinen nicht begraben werden. Häufigste Erscheinungsarten historischer Kontinuität im Internet sind Katalog und Update, also pures Nebeneinander und totaler Ersatz – jene beiden Formen von Vielfalt, die am wenigsten Sequentialisierungsmühe erfordern. »achtung: was besteht, ist veraltet«, schrieb der schlitzohrige Oswald Wiener 1969 – sein subversiv gemeinter Satz, hier ist er Ereignis, ja Prinzip geworden. Kaum etwas fürchten Anbieter im World Wide Web so sehr wie das Image, ein Klassiker zu sein. Was schon vergangenes Jahr »ins Netz gestellt« wurde, trägt unwillkürlich den Makel des rettungslos Überholten, selbst wenn es ein Verzeichnis aller römischen Konsuln sein sollte. Mit moderaten, periodischen Überarbeitungen ihres Layouts versuchen die gefragtesten Websites, dieser vor dem Fernsehschirm antrainierten kleinen Neugier aufs optisch Ungewohnte entgegenzukommen. Als kameradschaftliches »work in progress« auftretend, sehen die weniger dilettantisch geplanten Wissensreserven im Internet sich gezwungen, in möglichst kurzen Abständen ein frisches »What’s new«-Angebot zu präsentieren: Wissen folgt hier dem Vorbild des Nachrichtentickers. Das Internet ein »kulturelles Gedächtnis« zu nennen, das sagt einiges über den Zustand von Kultur und Gedächtnis.
Verwechsle darum niemand den Internet-Surfer vorschnell mit jenem scheinbar ähnlich verpflichtungslosen Helden der Moderne, dem Flaneur. Beschritt dieser seine Passage vor dem Hintergrund historischer Identitäten, der beobachteten wie der eigenen, nahm er sie wahr als ein Kontinuum und Ensemble von Stimmungen und Nuancen, so vollzieht sich das angebliche Gleiten des Surfers tatsächlich als von Klick zu Klick diskontinuierliches Springen ins Ungewisse der nächsten digitalen Bildinformation. Spähte der Flaneur nach Valeurs, so ist der Surfer ein habitueller Umblätterer von selbstzweckhafter Eile und Zerstreutheit, ein »user«, der von Schlagzeilen oder optischen Effekten aufgehalten werden möchte und dem alles, was die Zeichenmenge eines Bildschirms überschreitet, suspekt werden muß. Die pure Vielfalt des Verfügbaren läßt sehende oder gar engagierte Betrachtung einfältig erscheinen; zum Ziel führt allein kühles, rasantes Durchmustern. Und weil das Internet ein All allzeit scheinbar aktueller Resultate ist, ein Arsenal des Fertigen, mit dessen Fülle jeder Nutzer nur noch fertig werden, zurecht und zu Rande kommen will, entspricht es aufs Genaueste einer Auffassung von Wissen, der Geltung, Gehalt und Gestalt vorderhand gleichgültig, Verfügbarkeit und Vielfältigkeit indessen heilig sind.
Der wachsende Abstand von den Zeiten, als das Wissen noch geholfen hat – nämlich zur Erkenntnis –, ist an manchem Indiz im elektronischen Verbund abzulesen, bis auf Zeichenebene. So bieten einige Suchmaschinen inzwischen die Möglichkeit, Namen und Wörter auch dann ausfindig