Finderglück. Johannes Saltzwedel

Finderglück - Johannes Saltzwedel


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sich zur Individualität. »Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache« schreibt der alte Wilhelm von Humboldt lapidar. »Mit der richtigen Gangart der Sprache … beginnt die Bildung«, ergänzt der junge, tief wissensskeptische Nietzsche. Wohl am einfachsten hat es Kants Gesprächspartner, der sonst so geheimniskrämerische Johann Georg Hamann, formuliert, in einem apokryphen Sokrateswort, das die Kommentatoren bislang nur bei Erasmus entdeckt haben: »Rede, daß ich dich sehe.« Wer sich Maximen wie diese bisweilen in Erinnerung ruft, kann sie als Schnelltest gegen die Floskelflut der verschalteten Welt anwenden.

      Zu solcher Arbeit am Logos können nun die alten Sprachen mehr beitragen als wohl jedes andere Fach – gerade weil keiner mehr mit ihnen anfängt, um später sichere Verträge zu entwerfen oder besser in der Welt voranzukommen (obwohl beides auf lange Sicht ziemlich wahrscheinlich ist), weil sie zum Denken in erzählbaren Zusammenhängen und zum Hinhorchen zwingen, weil sie sich vom geheimnisvollen, anfangs vertrackten grammatischen Baukasten bis zur Gründungsinstanz westlicher Poesie und Weltdeutung auf jeder Verständnisebene neu erschließen. Das britische Empire hat gut gewußt, warum es mit Vorliebe altsprachlich Trainierte als Kolonialoffiziere nach Indien oder Afrika sandte: Das Vermögen, Systematik von Wildwuchs, Dissonanz von Einklang zu unterscheiden, dazu Geschmack und Temperament, erst recht die allmähliche Verfertigung witziger oder entscheidender Gedanken beim Reden, all diese nahezu universalen Maßstabsgrößen vermitteln die alten Sprachen in nuce. Der endlos diskutierte, mitunter bis auf Buchlänge ausgedehnte Katalog von Argumenten, mit denen man Eltern überzeugen will, daß ihre Kinder Latein und Griechisch lernen sollen, erscheint mir letztlich als die Entfaltung dieses einen Gedankens: Wer auf Sprache achten lernt und an ihr Freude hat, wird achtsam für die gewachsene, auf Wachstum angelegte Vielfalt des Lebens, und genau das macht Bildung aus.

      Natürlich sind die »Jünglinge«, um deren geistiges Wohlergehen der Juniorprofessor Nietzsche ehedem so mächtig besorgt war, nicht nur lexikalisch längst eine Antiquität. Von den vielen, die jeden Tag auch für sich selbst am Begriff sinnvollen Übersetzens arbeiten, werden sich die wenigsten dazu durchringen mögen, den adulescens einfach mal wieder Jüngling zu nennen – es tönt eben allzu deftig nach den Zeiten von Rauschebart und Droschkenfahrt. Wer es aber doch probiert, kann plötzlich einen ganzen sozialgeschichtlichen Mikrokosmos darin wiederfinden, die leise Melodie entschwundener Epochen. Mit Nostalgie hat das nichts zu tun. War denn nicht auch im Wilhelminismus der Jüngling eigentlich schon ein verflixt unalltägliches Wesen – und deshalb für den Blick auf Antikes gerade recht? War er nicht vielleicht schon lange zuvor eine künstliche Figur, silhouettenhaftes Formschema entschlossener Idealisierer? Mag er also ruhig in Anführungsstrichen stehenbleiben, der Gast aus dem muttersprachlichen Jenseits, unwillkommen sollte er nicht sein. Denn wer sich bisweilen solche Auftritte leistet, hält ganz nebenbei sein Gespür für Historizität und Tradition geschmeidig. Ich zumindest bin froh, das Wort Jüngling nicht erst bei Schiller, sondern in einer der frühesten, simplen Lektionen des »Ludus Latinus« kennengelernt zu haben, wo übrigens die deutschen Vokabeln listigerweise noch in Fraktur gedruckt waren. Durchblicke wie dieser führen ganz nebenbei vor Augen, daß, mit Egon Friedells Bonmot, das Altertum keineswegs antik zu sein braucht.

      Philologen, speziell Altphilologen, haben die ungeheure Chance, solche Entdeckungen humaner Echoräume spielerisch zu fördern – deshalb ist vorhin der absurde Pensch aufgetreten. Denn Experimentierfreude, Lust auf lautliche Entdeckungen, Spaß an Wortgeschichten, Wortwitz und, jawohl, Redekünste (bei Nietzsche ganz selbstverständlich »Sinn für die Form«) sind nicht nur die besten Helfer dabei, Pensumsdruck zu verscheuchen. Es passiert hier etwas Entscheidendes. Im genießenden Erleben auch der einfachsten sprachlichen Schöpfung fernab aller instrumentellen, taktischen Äußerung tritt die natürliche Poiesis des Wortes hervor, das, was Humboldt gegenüber dem érgon als enérgeia bezeichnet hat, die tätige Offenheit des Ausdrucks selbst. Und es bedarf wohl keiner umständlichen Erklärung, daß diese Offenheit, der im Sprachlichen gründende Möglichkeitsmodus des Denkens, letztlich gleichbedeutend mit dem Humanum an sich ist.

      Wie oft und wie gewunden haben die geisteswissenschaftlichen Fächer in den vergangenen Jahrzehnten ihr Dasein rechtfertigen müssen! Wie lange schon glauben sich Sprachen, vor allem die alten Sprachen – vom kleinen Zwischenhoch gerade in den letzten Jahren sollte man sich nicht täuschen lassen – schulpolitisch in der Defensive! Es muß wohl erst wieder bewußt werden, daß es die Aufgabe von Geisteswissenschaften bis hin zur Philosophie nicht sein kann, überlieferte Fragestellungen zu erledigen, sondern sie offenzuhalten für die sprachliche, also gedankliche Vielfalt. Nicht Problemlöser, sondern Problemversteher und Problemgestalter sind hier gefragt. Ist endlich auch die fatale Ungleichung von Bildung und Wissen überwunden, dann wird das lebendige Interesse an Sprache als der Basis jeder menschlichen Offenheit wie von selbst in sein Recht treten – und damit der Eigenwert der alten Sprachen als Uratmosphäre und Ferment europäischen Geistes.

      Ein 20jähriger Feuerkopf, der zu einem der am weitesten blickenden, sprachbewußtesten Intellektuellen und Poeten seiner Zeit werden sollte, hat 1754 in Zürich geschrieben, Bildung sei die »Kunst, welche junge Leute lehret, das Gute und Böse vermittelst des bloßen Geschmacks richtig zu unterscheiden«. Ästhetisch fundierte Moral, cultus animi, kein Wissen. Daß dazu Vermögen und Anstrengung der Rede nötig waren, folgte für Christoph Martin Wieland, den Pastorensohn, ganz selbstverständlich aus dem Humanum schlechthin; Sprache als Energie des Miteinander und zivilisierendes Substrat der Bildung eigens vorzustellen wäre ihm, auf den der Gedanke der »Weltliteratur« ursprünglich zurückgeht, und den meisten wachen, rhetorisch versierten Zeitgenossen wie ein seltsam tautologisches Bemühen vorgekommen. In einer Zeit jedoch, da die Begeisterung für guten oder wenigstens treffenden Ausdruck so sehr von Schaltkreisen eingeschnürt ist und der flüchtigen Privatexistenz überlassen bleibt, scheint es geboten, einmal die Stimme dafür zu erheben, daß nur ein bis zum Spielerischen freier, mutig gestalterischer Gebrauch der Sprache kulturelle Neugier und somit Bildung überhaupt gedeihen läßt. Wenn sich die alten Sprachen und ihre zum Glück zahlreichen Fürsprecher dieser Zusammenhänge bewußt bleiben, dann wird die Zukunft ihnen offenstehen.

      Notizen zur digitalen Vielfalt (1999)

      Die Probleme lösen sich

      nicht im Begriff,

      nur in der Gestalt.

       Hugo von Hofmannsthal

      In den siebziger Jahren schätzten Fachleute, etwa ein Mensch unter einer Million leide an echter Persönlichkeitsspaltung. Es gab so gut wie keine Literatur, keine Therapie, kaum Fachvokabular. Um 1995 hatte sich die Lage dermaßen verändert, daß Kulturkritiker aufmerksam wurden. Mit kuriosen Fällen von »Multiple Personality Disorder« (MPD) konnte der Psychiater Oliver Sacks ein großes Lesepublikum unterhalten. Der psychische Zerfall in autonome Selbste zur Abschottung meist traumatischer Erinnerung wurde in Boulevardblättern und Talkshows vor allem der USA zum gängigen Thema, für Sozialarbeiter und Psychologen gehörte das Erkennen der Seelenstörung zur Routine, im Internet entstanden Selbsthilfegruppen namens »Divided Hearts« oder »Shattered Selves«, und man schätzte, nicht jeder millionste, sondern jeder zwanzigste US-Bürger zeige entsprechende Symptome. Sozialwissenschaftler suchten den naheliegenden Verdacht zu belegen, daß die angebliche Epidemie, ähnlich wie die Hypochondrie im ausgehenden 18. oder die Hysterie im ausgehenden 19. Jahrhundert, mindestens zum guten Teil ein Produkt veränderter Diagnosemethoden sei. Der Streit um die »Wirklichkeit« von MPD spiegelt, wie der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking dargestellt hat, auch den Kampf zwischen Berufsgruppen von Therapeuten und ihrem jeweiligen Traditionsanspruch.

      Inzwischen ist das Interesse am Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeit stark abgeklungen. Aber verwandte Symptome zeigen sich immer wieder. Mindestens so lange wie die Moderne gibt es den Argwohn, »daß der Gedanke von der Simplizität unserer Seele ein geborgter Begriff ist« (Lichtenberg). Doch nun scheint die Furcht nicht nur bestätigt: Der Umgang mit einer Vielzahl paralleler Wahrnehmungswelten ist geradezu die Normalform aktiven Daseins geworden. Von der Installation elektronischer Schrifttafeln oder Bildschirmanzeigen im öffentlichen Verkehr bis zur Steigerung der Beatfrequenz in der Technomusik, vom wirtschaftlichen Gebot für Radiosender, alle paar Minuten die »Klangfarbe«


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