Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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Kaffee vom Fußboden auf, als die dunkelhaarige Frau zur Tür der Polizeiwache im Stengårdsvej hereingewankt kam. Schon die Art und Weise, wie sie sich die linke Hand seitlich an den Hals presste, ließ Henk nichts Gutes vermuten. Er hatte so etwas erst vor wenigen Stunden schon einmal beobachtet.

      »Helfen Sie mir.« Ihre Stimme klang seltsam kraftlos. »Ich wurde angegriffen.« Die Worte waren kaum ausgesprochen, als sie auch schon zu taumeln begann.

      Augenblicklich war die Kaffeelache zu Henks Füßen vergessen. Er sprang vor und packte sein Gegenüber an den Oberarmen, wobei er die Frau bereits zu einer der nahen Sitzbänke dirigierte. Mit einem einzigen Blick erfasste der Polizeimeister die Situation: Eine feine Blutspur war der gutgekleideten Endzwanzigerin zwischen Ring- und Mittelfinger bis auf den Handrücken gelaufen, wo sie bereits antrocknete. Die Frau war blass und zitterte merklich.

      »Was ist da bei dir los, Henk?«

      Der Kollege Anders war also endlich aufmerksam geworden, wie schön. Wenn es darum ging, sich über seinen verschütteten Kaffee lustig zu machen, ja da war er flink, der Anders. Kam aber das noch blutende Opfer einer Gewalttat zur Tür herein, ließ er sich gern Zeit mit einer Reaktion.

      »Ruf mal die Kollegen von der Ambulanz, Anders. Ich glaube, hier ist wieder jemand unserem speziellen Freund in die Hände gefallen.« Unbeholfen tätschelte Henk der Frau die andere Hand. »Sie sind nicht die Erste, die der Kerl mit seiner Spritze erwischt hat. Es war doch eine Spritze, nicht wahr?«

      »Ich glaube schon.« Schwach nickend, rieb sie sich über den Hals. Jetzt konnte Henk einen flüchtigen Blick auf die Einstichstelle erhaschen. Der Täter war ein bisschen grob vorgegangen, was vermutlich daran lag, dass sein Opfer sich gewehrt hatte. Die Nadel der Spritze hatte eine hässliche Kratzspur auf der blassen Haut fast hoch bis zum Ohrläppchen hinterlassen. Die Blutung war auf eben jenen Kratzer zurückzuführen. Henk ging davon aus, dass die Frau daran nicht sterben würde. Und hoffentlich auch nicht an der mit Gewalt aufgezwungenen Injektion. Aber der Schreck war ihr sichtlich in die Glieder gefahren, und dafür hatte Henk vollstes Verständnis.

      »Ambulanz ist unterwegs«, rief Anders ihnen aus ­sicherer Entfernung zu, und Henk Mandven beobachtete die beruhigende Wirkung dieser Worte. Plötzlich fand die Frau die Sprache wieder. Der Polizeimeister vermutete, dass nichts ihren Redefluss in den nächsten Minuten würde stoppen können, und so beschloss er, geduldig zuzuhören.

      »Thomsen heiße ich. Agnes Thomsen. Ich jobbe als Kellnerin im Lawrence, einem Restaurant in der Innenstadt. Da wird es häufig mal spät. Auch heute Abend habe ich lange gearbeitet. Und als ich endlich heimgehen konnte, war nicht mehr viel los auf den Straßen. Gar nichts, um genau zu sein. Aber das macht mir nichts aus, das bin ich gewohnt. Aber heute, heute Nacht hat mich jemand von hinten angesprungen, an der Schulter gepackt und mir mit etwas in den Hals gestochen. Ich habe mich natürlich gewehrt, habe versucht, das Ding aus meinem Hals zu ziehen …« Ein heftiges Zittern durchlief den Körper der drahtigen Kellnerin.

      In Henk wuchs die Befürchtung, dass Agnes Thomsen einen Schock erlitten hatte, und er bat die Frau, sich lang auf der Bank auszustrecken, bevor sie weitersprach. Dann holte er eine der goldfarbenen Rettungsdecken aus dem Erste-Hilfe-Kasten, legte sie ihr über Bauch und Beine und stopfte das Sitzkissen vom Stuhl eines gerade abwesenden Kollegen unter ihre Füße.

      Die Gelegenheit nutzend, stellte er Agnes Thomsen dabei eine Frage: »Haben Sie den Angreifer sehen können?«

      Die Antwort wurde von einem Wimmern begleitet. »Er hat mich zu Boden gestoßen und ist dann weggelaufen. Ich weiß, dass es ein Mann war. Ein großer, dünner Mann. Um die vierzig. Und er trug einen Mantel.«

      Henk nickte. Die Beschreibung deckte sich mit der, die andere Opfer des Spritzenmannes der Polizei bereits geliefert hatten. Leider traf sie auf unzählige Männer in Esbjerg zu. »Ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen?«

      Agnes Thomsen wollte, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gerade verneinen, als ihr offensichtlich etwas einfiel. »Der Kerl roch seltsam.«

      Henk wurde hellhörig. Von einem Geruch hörte er im Zusammenhang mit dem Spritzenkerl zum ersten Mal. »Roch seltsam? Wie roch er denn?«

      »Ein bisschen so, wie es in einer Arztpraxis oder einem Krankenhaus riecht.«

      Henk Mandven überlegte, wie es üblicherweise in Krankenhäusern oder Arztpraxen roch. »Sie meinen, er roch nach Desinfektionsmitteln?«

      »Genau.« Agnes Thomsen brachte ein kräftigeres Nicken zustande.

      »Na, das lässt doch hoffen, dass seine Spritze sauber ist.« Der Polizeimeister hörte das Horn eines Krankenwagens, der sich der Wache mit hohem Tempo näherte. »Jetzt werden Sie erst einmal in ein Krankenhaus gebracht, Frau Thomsen. Keine Angst, die werden sicher nur ein paar harmlose Untersuchungen machen. Blutproben und so. Sicher auch eine kleine Gewebeprobe von der Einstichstelle. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind bald wieder auf den Beinen.«

      »Wirklich?« Sie klang erleichtert. »Es war also nicht das Attentat eines Wahnsinnigen? Ich bin nicht vergiftet worden? Oder infiziert? Ich hatte schon an Aids gedacht oder an Hepatitis.«

      Henk versuchte zuversichtlich zu klingen. »Der Kerl ist vermutlich nur ein armer Irrer und seine Spritze nur eine Art Wasserpistole.«

      Agnes Thomsen richtete sich halb auf, als jetzt die Sanitäter zur Tür hereinkamen, und sah Henk Mandven fest in die Augen. »Aber Sie werden ihn doch einfangen und bestrafen, nicht wahr?«

      Henk schenkte ihr noch ein freundliches Nicken und überließ dann den Rettungskräften das Feld. Eine Viertelstunde später war auf der Wache im Stengårdsvej wieder Ruhe eingekehrt, und Henk hatte endlich Gelegenheit, seinen Kaffee vom Linoleum zu wischen. Dann rückte er sein Toupet zurecht und nahm hinter seinem leidlich aufgeräumten Schreibtisch Platz. Henk Mandven war ein leicht übergewichtiger Mann, der ungebremst auf die Vierzig zuging. Dass er noch immer Junggeselle war, hatte er sich nicht ausgesucht. Die Damenwelt übersah ihn schon seit Jahren, daran hatte, ganz entgegen aller Werbeversprechen, auch dieses alberne Toupet nichts ändern können. Doch nun hatte er einmal damit angefangen und war zu stolz, um es einfach abzunehmen und sich und allen Kollegen damit zu gestehen, dass nicht einmal Haare seine private Situation verbessern konnten. Immerhin war er mit seiner Karriere bis vor kurzem noch recht zufrieden gewesen.

      Bis vor kurzem. Doch seit der Spritzenmann in Es­bjergs Straßen sein Unwesen trieb, war Henk auch diese Zufriedenheit abhandengekommen, und der Grund war einfach: Diese Art von Kriminalität lag nicht in seinem Zuständigkeitsbereich. Als Polizeimeister war er Teil der Lokalpolizei, kümmerte sich um Alltägliches wie Wachbereitschaft, Streifendienste, häusliche Konflikte und Verkehrskontrollen. Der Fall des Spritzenmannes fiel unter personengefährdende Kriminalität. Vielleicht auch organisierte Kriminalität. Oder sogar Wirtschaftskriminalität? Wie auch immer, für solche Dinge waren andere Leute zuständig. Leute, denen er jetzt Meldung machen musste. Er war nur ein Telefonat davon entfernt, auch diesen Fall aus der Hand zu geben. Genau wie den des Mannes, der vor zwei Nächten schreiend in die Wache gestürzt war und immer wieder auf eine Einstichstelle in seinem Oberarm gedeutet hatte. Keine zwei Stunden später hatte sich die Szene wiederholt, nur diesmal war das Opfer weiblich gewesen. Ja, der Spritzenmann war fleißig, doch Henk Mandven verstand nicht, was der Kerl damit bezweckte. Nach langem Bohren an den richtigen Stellen hatte er einem höherrangigen Kollegen die Information aus der Nase ziehen können, dass man nach wie vor im Dunkeln tappte. Man befand sich, wie es von medizinischer und kriminalistischer Seite hieß, in der Findungsphase. Und Henk Mandven war so neugierig wie selten in seinem Leben, was es mit dieser obskuren Geschichte auf sich hatte. Zu gern wäre er an den Ermittlungen beteiligt gewesen, nicht nur, weil dieses letzte Opfer so hübsch gewesen war. Das redete er sich zumindest ein.

      Mit einem Seufzer griff er zum Telefon, um an höherer Stelle Meldung zu machen. Wenigstens die Streifendienste konnte er verstärken. Da fiel sein Blick auf die Bank ihm gegenüber, auf der Agnes Thomsen noch kurz zuvor gelegen hatte, und er entdeckte den flachen, schwarzen Gegenstand, der darauf lag. Mandven legte das Telefon aus der Hand und erhob sich. Wieder bei der Bank angekommen sah er, dass es sich ebenfalls um ein Telefon handelte. Ein Handy. Vermutlich


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