Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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der sich hier auskennen musste. Und wer sich mit dem Warensortiment auskannte, kannte auch Katalie. Mit einem großen Satz sprang ich der Supermarktangestellten in den Weg. Diese zuckte erschrocken zurück und drückte eine Hand auf ihre Brust.

      »Müssen Sie mich so erschrecken? Meine Güte nochmal! Ich kann doch auch nichts dafür, dass der Vanillequark schon fast ausverkauft ist. Hier: der letzte.« Sie hielt mir eine gelbe Plastikverpackung unter die Nase, die ich keines Blickes würdigte.

      »Ihr Vanillequark ist mir egal«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Es geht um Katalie.«

      »Oh.« Sie riss überrascht die Augen auf, ließ die Packung zwischen den Havarti plumpsen und umklammerte mein Handgelenk. »Sind Sie etwa der Geheimagent, für den sie spioniert? Ist sie jetzt untergetaucht?«

      Hatte ich es doch geahnt. Auch im Supermarkt hatte Katalie eine neue, sagenhafte Geschichte ersonnen, und mit meinem Flüstern war es mir gelungen, diese auch noch zu stützen. Geheimagent also. Das kam mir gelegen. Dieses Mal würde ich die Gesprächsführung übernehmen.

      Leider war ich im Erfinden von Geschichten nicht so talentiert wie Katalie und so knurrte ich nur eine recht vage Botschaft in das Ohr der sommersprossigen Verkäuferin mit Goldrandbrille: »Das Codewort lautet ›Lakritz-Eis‹. Sie müssen mir jetzt bedingungslos vertrauen.«

      »Wirklich?« Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch.

      Ich hatte mir eine etwas andere Reaktion erhofft, aber ich spielte meine Rolle weiter und nickte grimmig. »Wir müssen Agentin Katalie finden. Sie gefährden den Auftrag, wenn Sie mir nicht alles erzählen, was Sie wissen.«

      Die Angestellte schob eilig ihre Brille zurecht und musterte mich. »Ich habe immer geglaubt, Sie wären größer. Und auch weniger blond. Eher dunkel, verstehen Sie? Dunkel und unheimlich.«

      »Alles Tarnung, Teuerste. Eigentlich bin viel größer.«

      »Oh«, entfuhr es ihr, und ich überlegte kurz, ob es mir tatsächlich auf Anhieb gelungen war, das dümmste Mädchen im Laden aufzutreiben, als sie plötzlich breit grinste. »Sie spielen das wirklich gut. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so ablaufen würde. Aber Katalie hat mich ja vorgewarnt. Sie meinte, ich würde einfach in das Spiel hineingeschubst werden.«

      »Spiel?« Ich vergaß vor Überraschung zu knurren.

      »Das Agentenspiel.« Sie grinste noch etwas breiter. »Früher habe ich ja nur bei Mittelalterspielen mitgemacht. Aber das wurde mir auf die Dauer wirklich zu aufwändig: Jedes Wochenende das volle Kostüm anlegen und aus der Stadt rausfahren, um in irgendwelchen kalten Fellhütten zu übernachten. Nein, das war nichts mehr für mich. Da ist das hier doch viel lustiger und spontaner. Was muss ich also tun?«

      Ein Agentenspiel, das sich fröhlich in den Alltag integrieren ließ, war also meine neue Bühne. Ich verfluchte Katalie und auch mich selbst, weil ich einfach nicht spontan genug für diese Welt war, und log aufs Geratewohl drauflos.

      »Katalie hat uns verraten. Es muss einen geheimen Ort geben, an dem sie sich derzeit aufhält. Ich muss sie finden.« So schlecht klang das für meine Ohren gar nicht.

      »Spannend.« Die Sommersprossige klatschte in ihre Hände. »Das hat bestimmt irgendetwas mit Bosse zu tun, meinen Sie nicht?«

      »Bosse? Wer ist denn Bosse?« Ich war aus der Rolle gefallen, doch es wurde mir nicht allzu übel genommen.

      »Na, Bosse ist doch der tote Briefkasten. Dort kann man Nachrichten für Katalie hinterlassen oder auch bekommen, wenn sie abgetaucht ist.«

      Ein toter Briefkasten. War das Teil des Spiels oder gab es diese Person und ihre Funktion wirklich? Wenn ja, dann konnte das bedeuten, dass ich bereits seit geraumer Zeit einer Schnitzelspur folgte, die Katalie eigens für mich ausgelegt hatte. War das möglich? Handelte ich nach einem von ihr ausgeheckten Plan? Der Gedanke hatte etwas Beunruhigendes. Denn wenn ja, dann kannte Katalie mich viel besser als ich sie.

      »Wer ist Bosse?«, wiederholte ich noch einmal.

      Jetzt zuckte eine Spur des Zweifels in ihrem Gesicht. Ihre Augenlider begannen nervös zu flattern, und schon hielt sie Ausschau, sah über meine Schulter hinweg in den Laden hinein, um sich zu vergewissern, dass sie nicht allein mit mir war. Dann ließ sie mein Handgelenk los, griff nach dem Vanillequark, der noch immer zwischen den Käsepackungen lag, und antwortete eine Spur zu laut: »Na, wenn du das nicht weißt, wer denn dann?«

      Aus. Das Spiel war aus, ich war meiner Rolle nicht gerecht geworden, und jetzt war ich aus dem Stück geflogen. Die Sommersprossige nutzte die erstbeste Gelegenheit in Form einer ratlosen Kundin, um mir zu entkommen. Langsam verließ ich Brugsen und schwankte zwischen Niedergeschlagenheit und Hoffnung. Noch gab es eine Spur. Wer war dieser Bosse?

      »Und du hast uns wirklich keinen Havarti mitgebracht?« Mein Vater saß mit unglücklichem Gesicht am Küchentisch, während ich selbigen umkreiste und ihm dabei eindringlich schilderte, was mir an diesem Abend widerfahren war.

      »Hast du mir überhaupt zugehört?« Für den Fall, dass nicht, fasste ich meine Gedanken noch einmal zusammen. »Katalie war für jeden, den ich befragte, jemand anderes. Und auch ich war jedes Mal jemand ganz anderes.«

      »Es ist doch gar nicht wichtig, wie andere sie sehen«, antwortete mein Vater und signalisierte mir damit, dass ich doch nicht nur tauben Ohren gepredigt hatte. »Wichtig ist doch, wie du sie siehst.«

      »Ich kenne sie doch gar nicht!« Meine Selbstbeherrschung schwand, da half auch keine Atemübung mehr.

      »Dann, mein lieber Junge«, sagte mein Vater und stand auf, »wirst du auch nicht in Erfahrung bringen, wer Bosse ist, und somit auch das Mädchen nicht wiederfinden, was wiederum zur Folge haben könnte, dass ein großer Kerl namens Maiberg hier auftaucht und dir die Knochen bricht.«

      »Hat er schon angerufen?«, fragte ich erschrocken.

      »Nein. Und er war auch noch nicht hier. Aber dein Postfach lässt dich wissen, dass er dir eine Nachricht geschrieben hat.« Mein Vater verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Du warst an meinem Rechner?«

      »An den Fernseher durfte ich ja nicht.«

      Ich gab ein leises Stöhnen von mir, ging zum Schreibtisch und öffnete voller Unbehagen Maibergs ungelesene Nachricht. Sie war kurz.

      Was ist passiert?

      Tja, das hätte ich auch gern gewusst, und noch viel lieber hätte ich es ihm gesagt, aber das war nicht so einfach. Oder sollte ich es einfach mit der Wahrheit versuchen? Probehalber tippte ich ein paar Wörter:

      Ich habe Katalie verloren.

      Ich las mein Geschreibsel noch einmal und drückte nicht auf Senden. Stattdessen löschte ich die Mail Buchstabe für Buchstabe und blieb noch lange vor dem leeren Bildschirm sitzen.

      »Was soll ich ihm bloß schreiben?«, fragte ich meinen Bildschirm, doch die Antwort gab mir mein Vater.

      »Füttere ihn ein bisschen. Gib ihm ein kleines bisschen Wahrheit, das ihn dir für eine Weile vom Leib hält.«

      »Und wenn das nicht funktioniert?«, fragte ich lahm.

      »Dann würde ich es an deiner Stelle mit einem guten Versteck versuchen. Hat bei mir auch geklappt.«

      Einige Minuten lang starrte ich unverwandt auf Maibergs Zeilen. Dann formulierte ich eine Antwort, die mir entweder Zeit verschaffen konnte oder direkt in eine Katastrophe führte.

      Katalie hat eine Hundeleine gekauft und schleift sie hinter sich her, wenn sie durch die Straßen geht.

      Ohne noch einmal darüber nachzudenken, schickte ich die Nachricht ab.

      »Petze.« Die Stimme meines Vaters klang heiter, als er das Zimmer verließ und pfeifend in Richtung Schlafzimmer verschwand.

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