Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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Wohnung oder auf der Stufe zum Hauseingang und ging nur selten aus.

      In den ersten Tagen meiner Überwachung war ich ihr nie gefolgt. Maiberg hatte schließlich keine Außer-Haus-Beschattung bei mir bestellt, ihm war es wichtig gewesen, dass ich Katalie in ihrem Heim im Auge behielt. So hatte ich zunächst nur die Zeiten notiert, wenn sie fortging und wenn sie wieder heimkehrte. Inzwischen aber hatte ich mir angewöhnt, sie gelegentlich auf ihren Streifzügen zu begleiten und ihr Treiben zu beobachten. Diese Beschattungen erwiesen sich als erstaunlich abwechslungsreich. Denn Katalie sammelte nicht nur Herzen, sie sammelte auch eine Menge anderer Dinge. Garagenflohmärkte und Haushaltsauflösungen zogen sie nahezu magisch an. Und nach und nach füllte sie die gegenüberliegende Wohnung mit einem Sammelsurium an Möbeln, die sie tapfer nach Hause schleppte. Oder schleppen ließ. Zwei Tage nach ihrer Ankunft in der Gammelgade war sie nach einem ihrer Ausflüge mit einem Bauernschrank und zwei dazugehörigen Möbelpackern wiederaufgetaucht. Mit letzteren hatte sie bis spät in den Abend mit Chips und Cola gefeiert. Ein ganzes Rudel von Helfern hatte ihr nur einen Tag später eine wirklich scheußliche Einbauküche von rotzgelber Farbe in die Wohnung geschleppt, alle Hänge- und Unterschränke aufgebaut und die nötigen Installationen getätigt. Trotz jetzt funktionierendem Herd servierte sie auch diesen Helfern Cola und Chips. Überhaupt war ihre Ernährung ein Punkt, den ich als recht bedenklich empfand. Während eine meiner wenigen Schwächen die warme Leberpastete war, bestand Katalies gesamte Ernährung aus fettigen und übersüßten Speisen. Die Bäckereien und Fast-Food-Restaurants der näheren Umgebung mussten durch sie einen wahren Aufschwung verzeichnen. Akribisch hatte ich Maiberg in meinen täglichen Berichten auf diesen Umstand hingewiesen, was vermutlich dazu geführt hatte, dass Katalie jetzt regelmäßig mit Gemüse beliefert wurde. Dies ließ sie erst vergammeln und entsorgte es danach im Müll. Maiberg mochte in der Lage sein, Katalie nahrhafte Kost zu schicken, aber er konnte nicht dafür sorgen, dass sie sie auch aß.

      Auf ihren Spaziergängen erfuhr ich weit mehr über Katalies Vorlieben und Gewohnheiten als durch das Spähen in ihre Fenster. Ich kannte jetzt bereits ihr Lieblingscafé und ihre Lieblingseisdiele, ein Ort, an dem sie skrupellos die seltsamsten Geschmacksrichtungen in ein und derselben Waffel vereinte. Wer hatte je zuvor gehört, dass man Lakritz-Eis mit Eischnee und Marmelade genießen konnte?

      Überrascht hatte mich die Kleine, als sie in ihrer zweiten Woche einen Job bei Brugsen am nördlichen Ende der Gammelgade annahm. Akribisch und mit einer unglaublichen Ruhe hatte sie einen Nachmittag lang die Regale im Supermarkt mit frischen Waren bestückt, und trotz ihres Schneckentempos schien man dort von ihr entzückt zu sein, weswegen sie wohl zukünftig jeden Freitag dieser Beschäftigung nachgehen würde.

      »Sie hat genug vom Malen«, hörte ich meinen Vater sagen, der das Fernglas absetzte und zu mir an den Schreibtisch kam, wo ich noch immer mein Frühstück einnahm. »Sie hat sich umgezogen.«

      »Was trägt sie?«, wollte ich wissen und schob mir den letzten Rest meiner warmen Leberpastete in den Mund.

      »Das bunt gestreifte Sommerkleid und die rosa Ballerinas.« Mein Vater lächelte milde, und sein früh gealtertes Gesicht hellte sich auf. »Sie sieht richtig süß aus.«

      »Dann geht sie bummeln«, stellte ich fest. Vor einigen Tagen war mir aufgefallen, dass Katalies Garderobe bestimmten Gesetzen folgte. Zur Arbeit im Supermarkt trug sie ausschließlich Blautöne. Hatte sie vor, den Tag in ihrer Wohnung zu verbringen, bevorzugte sie Kleidung in knalligem Rot, und ein buntes Outfit deutete stets auf eine Einkaufstour und einen Cafébesuch hin.

      »Sie nimmt die Hundeleine mit«, ergänzte mein Vater in diesem Moment.

      Ich gab ein abfälliges Schnauben von mir. Die Hundeleine gehörte zu den Dingen, die wirklich seltsam waren. Verhielt Katalie sich ansonsten fast wie ein ganz normaler Durchschnittsmensch, so war es eben diese Hundeleine, die mir und jedem anderen klar verriet, dass mit diesem Mädchen etwas nicht stimmte. Die Leine war aus dunkelgrünem Leder und etwa drei Meter lang. Zu jedem ihrer Spaziergänge wickelte sich Katalie die Schlaufe um ihr Handgelenk. Das andere Ende, das mit dem glänzenden Karabiner, war an einem enorm großen Halsband befestigt, und jetzt kam das eigentlich Bemerkenswerte: In diesem Halsband fehlte das Tier. Tag für Tag zog Katalie ein leeres Halsband an einer Hundeleine hinter sich her, wenn sie die Wohnung verließ. Man konnte sich vorstellen, welche Blicke sie von Passanten erntete, die sie noch nicht kannten, doch Katalie grüßte nur höflich und zog mit ihrer Hundeleine an ihnen vorbei. Erwähnte ich schon, dass sie mich niemals grüßte? Der Grund dafür war einfach: Da ich stets hinter ihr ging, lief ich nie Gefahr, Katalie entgegenzukommen. Und was hinter ihr lag, existierte genauso wenig für sie wie unsere gegenüberliegenden Fenster. Sie wandte sich niemals um.

      »Willst du ihr heute wieder nachgehen?«, fragte mein Vater und sah aus dem Fenster. »Sie verlässt jetzt die Wohnung.«

      »Ja«, erwiderte ich, entschied rasch, dass in den kommenden vier Bussen jeweils elf Fahrgäste zusteigen würden und erhob mich von meinem Schreibtisch. Ich hatte bereits drei Weißbrotscheiben mit warmer Leberwurst verdrückt und fand, dass ein wenig Bewegung mir nicht schaden konnte.

      So nahm ich meine gefütterte Jacke vom Haken und griff mir mein Belegexemplar der Daisy. Für gewöhnlich las ich den Käse, den ich selbst und andere für dieses Blättchen verfassten, nicht. Doch während der Beschattung stellten sich manchmal Wartezeiten ein, die ich mit der Daisy überbrücken konnte.

      In dem Moment, als ich meine Wohnungstür hinter mir zuzog, öffnete sich die der Nachbarwohnung, und Fridegard Mortensen erschien auf ihrer Fußmatte, in den Händen einen prall gefüllten Müllbeutel.

      »Ach bitte, Smiljan, wärst du so gut, das hier für mich zu den Tonnen zu tragen? Meine Knie wollen heute nicht so recht.«

      Die Knie von Fridegard wollten eigentlich nie so recht, was daran lag, dass ihr Lebendgewicht jenseits der Hundertkilogrenze bei nur recht bescheidener Körpergröße lag. Von unserer ersten Begegnung an hatte ich mir strikt untersagt, ihr diesbezüglich Ratschläge zu erteilen, denn ich ging davon aus, dass sie bereits genug Diättipps und andere unaufgeforderte, aber gut gemeinte Kommentare aus ihrem Umfeld erhielt. Für mein Schweigen und das Erledigen kleiner Gefälligkeiten wurde ich ab und an mit einer kulinarischen Köstlichkeit aus ihrer Küche belohnt, und wer einmal von Fridegards Buttercreme genascht hatte, der wusste, warum sie so war, wie sie war.

      »Kein Problem«, gab ich zur Antwort und griff schon nach den zusammengeknoteten Plastikzipfeln am Beutel, als sie plötzlich ausrief:

      »Hast du denn diesmal deinen Fernseher ausgemacht?«

      Mit fragendem Unterton wiederholte ich arglos: »Fernseher?«

      »Ja, oder vielleicht ist es auch ein Radio. In letzter Zeit höre ich oft Stimmen und Musik aus deiner Wohnung, auch wenn du gar nicht da bist.«

      Ich verfluchte meinen Vater insgeheim und nuschelte etwas von einem defekten Gerät, das sich selbst einschaltete.

      Fridegard hob erstaunt die gezupften Brauen. »Ach? So etwas kann wirklich passieren? Was es nicht alles gibt.«

      Ich beeilte mich, ihr den Beutel zu entwinden und rannte die Treppe hinunter, entsorgte den Müll in einer der Tonnen im Hinterhof und stand kurz darauf allein auf der Hauptstraße. Die Gammelgade lag still da, Nebelfetzen trieben an ihrem Ende dahin, von Katalie fehlte jede Spur. Ich hob den Kopf und sah zu meinen Fenstern empor. Oben stand mein Vater, halb verdeckt von einer Gardine, und deutete in eine Richtung. Ich folgte seinem Fingerzeig und entdeckte bald darauf die Hundeleine samt Halsband, die fürsorglich an einen Fahrradständer geknotet worden war. Katalie stattete dem Kiosk einen Besuch ab.

      Durch das mit Plakaten fast ganz ausgefüllte Schaufenster beobachtete ich, wie sie eine Auswahl an Schokoriegeln bezahlte. Schon fast gewohnheitsmäßig trat ich in den nächsten Hauseingang und wartete dort ab, bis ich ihre Schritte auf dem Gehweg hörte. Diesen und dem Schleifen der Hundeleine auf den Steinen lauschte ich, bis es leiser wurde. Jetzt trat ich aus meinem Versteck und folgte ihr mit einigem Abstand.

      Der Herbsttag war nasskalt. Wir begegneten nur wenigen Menschen, und die meisten kannten Katalie und ihre Hundeleine bereits. Sie grüßten freundlich und hasteten an uns vorbei,


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