Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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nichts zu finden geben. Aber vielleicht fand sich im Müll des Meeres ja etwas anderes Brauchbares, das Kalle zu Geld machen konnte. Irgendetwas, das dieser Aktion einen Sinn gab.

      In diesem Moment entdeckte Tom die beiden Gestalten im Dünental zu seiner Linken. Und kaum, dass er wirklich begriffen hatte, was er dort sah, sank er schon in die Hocke und zog Kalle mit sich.

      Kalle war nicht dumm. Er stellte keine Frage, ging kommentarlos zwischen dem lichter werdenden Strandgras in Deckung und spähte vorwärts. Tom suchte den Blick des Freundes und tippte sich vielsagend an das linke Ohr. Zum Rauschen des Meeres hatten sich die angestrengt klingenden Flüche eines Fremden gesellt. Die gesprochenen Worte endeten so abrupt, wie sie begonnen hatten. Stille folgte.

      »Was geht da vor?«, raunte Kalle schließlich und machte Anstalten, sich aus der Hocke zu erheben.

      Tom hielt ihn zurück. »Da vorn ist jemand. Da scheint etwas sehr Eigenartiges vor sich zu gehen.« Dieser Jemand war seiner Meinung nach ein Mann. Ein Mann, der etwas hinter sich herzog. Und dieses Etwas hatte Tom stark an einen schlaffen menschlichen Körper erinnert.

      »Was meinst du damit?« Kalles Stimme war auf minimale Lautstärke herabgesunken, während er selbst jetzt den Hals reckte, um mehr sehen zu können. »Braucht jemand Hilfe?«

      Tom schüttelte den Kopf. Die Gestalt vor ihnen hatte ihre Last nicht in Richtung Parkplatz geschleppt, sondern tiefer in die Dünen, fort von der Zivilisation. Was immer sich dort abspielte, sollte bestimmt in aller Heimlichkeit geschehen. Tom glaubte nicht, dass Zeugen wie er und Kalle zu diesem Zeitpunkt sehr willkommen gewesen wären. »Ich glaube, da schleppt jemand einen Toten mit sich herum«, erklärte er seinem Freund die Lage.

      »Ach du Scheiße«, raunte Kalle zurück. Er schien angestrengt nachzudenken. Dann sagte er: »Jemand, den wir kennen?«

      »Woher soll ich das wissen, kenn’ ich ganz Dänemark persönlich, oder was?«, zischte Tom. »Außerdem habe ich die zwei doch nur für eine Sekunde gesehen.«

      In diesem Moment tauchte die Gestalt vor ihnen auf der Kuppe einer höher gelegenen Düne auf. Noch immer zog sie einen reglosen menschlichen Körper hinter sich her. Tom warf Kalle einen raschen Blick zu und stellte fest, dass sein Freund die Situation ähnlich einschätzte wie er selbst. Kalles Augen waren vor Entsetzen geweitet, seine linke Hand hielt er sich vor den Mund gepresst.

      »Duck dich tiefer«, befahl ihm Tom.

      Und während er selbst jetzt fast mit der Nase im Strandsand verschwand, sah er aus den Augenwinkeln, dass Kalle sich sogar noch weiter streckte, um einen besseren Blick auf das nächtliche Schauspiel zu haben.

      Gleich darauf hörte er seinen Freund flüstern. »Ich glaube, du hast hast Recht, Tom. Der zieht wirklich eine Leiche durch die Landschaft. Und jetzt, jetzt …«

      Kalles Gestammel war mehr, als Tom vertragen konnte. Auch wenn es ihm leichtsinnig erschien, hob er den Kopf, um zu sehen, was Kalle beobachtete, und stellte fest, dass die Silhouette des Mannes, jetzt scheinbar von aller Last befreit, Schritt für Schritt hinter dem Dünenkamm verschwand.

      »Was ist passiert?«, wollte Tom wissen.

      »Er hat den anderen einfach die Düne runtergeschubst und läuft nun seelenruhig hinterher«, stellte Kalle fest. »Da kullert gerade ein Toter über den Nordseestrand, ist das zu fassen? Ob er den hier draußen verbuddeln will? Den findet hier dann sicher keiner mehr wieder.«

      Doch, dachte Tom. Wenn die Dünen weiterwandern, dann wird man ihn finden. Aber das konnte eine ganze Weile dauern. Laut sagte er: »Was sollen wir denn jetzt machen?«

      »Abhauen natürlich«, antwortete Kalle. »Nur schade um den schönen Bernstein am Strand und all das Benzin, das du heute Nacht ganz umsonst verfahren hast.«

      »Abhauen? Ist das dein Ernst? Da vorne entsorgt jemand den Körper eines Menschen zwischen den Dünen. Da können wir uns doch nicht einfach umdrehen und abhauen.« Doch schon wich Toms Empörung plötzlicher Klarheit. Natürlich mussten sie abhauen. Auf direktem Wege mussten sie zur nächsten Polizeistation fahren und dort berichten, was sie hier im Gammelgab beobachtet hatten. Das Kennzeichen des zweiten verlassenen Wagens auf dem Parkplatz würde er sich vorsorglich notieren, wenn sie wieder daran vorbeikämen. Es könnte die Polizei direkt zum Täter führen.

      »Polizei«, entfuhr es ihm, und schon wollte er den Weg zurückkriechen, den sie gerade erst gekommen waren.

      Doch Kalle hielt ihn zurück. »Gute Idee, Tom. Aber ich geh’ lieber allein. Ich nehme dein Auto und hole die Polizei hierher. Du beobachtest, was sich hier weiter tut. Ohne Leiche glaubt uns das hier nämlich niemand. Wir müssen wissen, was er mit dem Toten macht.«

      »Wieso fährst du zur Polizei?«, begehrte Tom auf. »Wieso nicht ich? Es ist mein Auto.«

      »Schere, Stein, Papier«, flüsterte Kalle und hob die Hand.

      Einen Augenblick später hatte sein Stein Toms Schere geschlagen, und noch einen Augenblick später sah Tom seinen Freund den Weg zum Parkplatz zurückschleichen. Wie dumm, dass er Kalle nicht geraten hatte, sich das Kennzeichen des fremden Wagens zu notieren.

      Noch immer rauschte das Meer. Er beobachtete abwechselnd den Zeiger seiner Armbanduhr und die Kuppe der Düne, hinter der der Mann mit der Leiche verschwunden war. Wenn der Kerl den Toten noch tiefer in die Dünenlandschaft zerren wollte, dann müsste seine Gestalt so langsam auf einem der weiter entfernten Dünenkämme auftauchen, oder etwa nicht? Vergrub er den Toten bereits in einer Senke? Und wenn ja, womit?

      Tom dachte angestrengt nach, doch er konnte sich nicht erinnern, eine Schaufel bei dem Mann gesehen zu haben. Grub der Kerl etwa mit den bloßen Händen? Dann könnte die Polizei doch noch rechtzeitig genug eintreffen, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Was aber, wenn der Mann einen ganz anderen Plan verfolgte?

      Plötzlich fröstelte Tom. Er hockte hier noch immer auf dem Trampelpfad, der vom Strandweg zur Wasserlinie führte. Dieser Weg war nur einer von vielen im Gewirr der Dünen, doch wenn jemand zu eben jenem Parkplatz zurückkehren wollte, dann war es nicht unwahrscheinlich, dass er hier entlangkam, um zu seinem Fahrzeug zu gehen. Hier, zwischen den Dünen, konnte der Fremde sich ihm von allen Seiten nähern: von links, rechts, vorn oder …

      Tom blickte sich hektisch um. Er war ganz allein. Aber er saß auf dem Präsentierteller und musste wachsam bleiben. Noch zweimal drehte Tom sich in der Hocke um die eigene Achse, um alle Himmelsrichtungen im Blick zu haben. Dann war er es leid. Die Rolle des Verfolgten lag ihm nicht, lieber war er der Verfolger, und solange er noch nicht entdeckt worden war, befand er sich klar im Vorteil. Es war an der Zeit, diesen zu nutzen.

      Langsam und auf allen vieren kroch Tom durch das stachelige Strandgras. Keinesfalls wollte er auf sich aufmerksam machen, indem er aufstand und, wie der Kerl mit der Leiche zuvor, eine scharfe Silhouette im Mondlicht abgab. Er krabbelte vorwärts, bis es plötzlich steil bergab ging. Ein kleines Stück ließ er sich den Hang hinunterrutschen, dann kam er auf die Füße und lief bis zum tiefsten Punkt des Dünentals. Kalter, weicher Sand rann ihm in die Turnschuhe, machte sie schwer und unbequem, doch Tom ignorierte es. So schnell er konnte, erklomm er die nächste Düne und spähte wie ein Indianer auf dem Kriegspfad vorsichtig über den Kamm. Vor ihm breitete sich ein weiteres Dünental aus weißem Sand aus. Und unter ihm, dort wo der steile Hang endete, lag eine menschliche Gestalt und rührte sich nicht.

      Der Tote, dachte Tom und hielt nach dem Mann Ausschau, der die Leiche hierhergeschleppt hatte, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Inzwischen war die Nacht so weit vorangeschritten, dass der Himmel von Nachtblau in ein Bleigrau zu wechseln drohte. Tom konnte immer mehr Einzelheiten wahrnehmen und erkannte, dass der Körper unten im Dünental einen schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und ein weißes Hemd samt Fliege trug. Er war gekleidet, als wäre er noch Stunden zuvor Teil einer vornehmen Abendgesellschaft gewesen. Tom begann sich zu fragen, warum der Fremde diesen Anzugträger bis hierher geschleppt hatte, um ihn dann einfach liegen zu lassen. Hatte er keine Zeit mehr gehabt, sein Opfer zu vergraben? Oder war der Mann da unten gar kein Opfer? Lebte er vielleicht sogar noch?

      Tom kniff die Augen zusammen. Der Kerl unter ihm


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