Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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die sich an dem Anblick der hübschen Häuser mit ihren Fahnenmasten in jedem Vorgarten erfreuten, pflegten wir unser Image als beschauliches Fleckchen am Rande der großen Stadt. Der Mensch glaubt, was er glauben will. Meistens. Ich bin seit Beginn meines Abenteuers diesbezüglich eine Ausnahme. Mich lässt man nicht mehr glauben, was ich glauben will, mir werden Ansichten und Theorien aufgenötigt, die so abwegig und so haarsträubend sind, dass sich gesunde Menschen dagegen auflehnen würden. Aber ich habe keine Wahl. Nicht mehr.

      Doch um das zu erklären, muss ich wieder zurückgehen. Zurück zu jenem Tag, an dem ich zumindest sporadisch die Nutzer der Buslinie an der Gammelgade erfasste. Dem Tag, der mein Leben auf den Kopf stellen sollte.

      Der zweite Nachmittagsbus war gerade abgefahren, der letzte jammervolle Brief, den ich unter dem Namen Marijan, Alter 42, bei der Redaktion der Daisy abliefern würde, war geschrieben. Und so übte ich an einer von mir selbst erfundenen Yogafigur, die ich »Schwankende Schwalbe« getauft hatte. Sie sollte bei meinem nächsten Auftritt als Vertretungs-Yogalehrer zum Einsatz kommen.

      Aus dem Fenster starrend, war ich auf der Suche nach meinem Schwerpunkt und irgendetwas, auf das ich meinen Blick richten konnte. Dabei ein bewegliches Objekt als Fixpunkt zu wählen, war allerdings nicht clever gewesen. Doch der schwarze Vogel, seiner Größe nach zu urteilen ein Rabe oder eine ungewöhnlich fette Krähe, der am gegenüberliegenden Haus den Rand der Dachrinne für eine Rast genutzt hatte, war mir sofort ins Auge gefallen. Und ich entschied mich als Fixpunkt immer für das Objekt, das mir zuerst ins Auge fiel. So versuchte ich, nicht umzufallen, und dabei das Tier im Blick zu behalten. Der Vogel starrte zurück.

      Ich bin nicht sehr gut in Balanceübungen. Von allen selbst kreierten Yogafiguren waren es die einbeinigen, die mir die meisten Schwierigkeiten bereiteten. Und prompt begann ich zu wackeln, als die Rabenkrähe, oder was immer es war, ihre Flügel ausbreitete und majestätisch davonschwebte. Ich fiel ziemlich unmajestätisch in mich zusammen.

      »Er beobachtet dich.«

      Das war die Stimme meines Vaters. Er störte mich nicht oft bei der Arbeit, und wenn er es doch tat, dann ging es meist um etwas Wichtiges. Dieses Mal klang es eher nicht bedeutungsvoll.

      »Vater, ich bitte dich«, gab ich zur Antwort, löste die rechte Fußsohle von der Wade und wandte ihm den Kopf zu, um ihm einen vorwurfsvollen Blick zu schenken. Doch der Aufmerksamkeit meines Vaters entging nur wenig.

      »Du hast bereits gewackelt, bevor ich dich angesprochen habe, Smiljan. Versuch also bitte nicht, mir einzureden, dass es meine Schuld war.«

      Ich versuchte es nicht. Stattdessen warf ich einen erneuten Blick aus dem Fenster und sah hinunter auf die Straße. Herbstblätter säumten den Rinnstein vor der Bushaltestelle, Autos fuhren deutlich weniger als noch während des Sommers, und außer ein paar Kindern, die sich einen Spaß daraus machten, sich gegenseitig mit Laub zu bewerfen, war kaum jemand unterwegs. Der Tag war grau und ließ schon den nahen Herbst erahnen.

      »Niemand beobachtet mich«, stellte ich sachlich fest.

      »Nicht dort unten, mein Junge. Dort drüben. Im Nachbarhaus. Der Gammelgade 104.« Mein Vater streckte den Zeigefinger seiner rechten Hand in eben jene Richtung, in die ich noch kurz zuvor geblickt hatte.

      Unterhalb der jetzt vogelfreien Dachrinne fiel mein Blick auf eine Reihe von Fenstern. Hinter einigen hingen Gardinen, hinter anderen Jalousien, und in einem stand die Silhouette eines Mannes. Hinter ihm, in einer wie es schien leeren Wohnung, baumelte eine nackte Glühbirne von der Decke und sorgte dafür, dass ich ihn nur als Schatten wahrnehmen konnte. Die Gestalt hinter der Fensterscheibe im ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses stand ebenso still wie ich selbst noch Augenblicke zuvor. Sein runder, allem Anschein nach kahler Kopf saß auf einem kurzen Hals über massigen Schultern. Es machte tatsächlich den Eindruck, als würde er zu mir herüberstarren, doch ganz sicher war ich mir nicht.

      Bis vor Kurzem war diese gegenüberliegende Wohnung noch das Zuhause einer alte Dame gewesen. Auf ihren Fensterbänken hatten Petunien geblüht, und hinter eben jenem Fenster, durch das ich jetzt angestarrt wurde, hatte eine weiße Spitzengardine gehangen. Die Alte hatte mir manchmal ein Lächeln geschenkt, wenn sie am Fenster gestanden und ihre Blumen gegossen hatte. Doch eines Tages war die Dame buchstäblich weg vom Fenster, und ich war, während ich auf meine Busse wartete, dazu verdammt gewesen, den Petunien beim Welken zuzuschauen. Bald darauf waren die Spitzengardinen entfernt, die trockenen Petunien entsorgt, und die ganze Wohnung weiß gestrichen worden, was nur bedeuten konnte, dass die Alte dahin gegangen war, von wo niemand jemals zurückkam. So handelte es sich bei dem Beobachter hinter dem Fenster vermutlich um den neuen Mieter der Wohnung.

      »Der Mann sieht sich nur seine Umgebung an«, sagte ich. Meinen Vater und den Fremden hinter dem Fenster bewusst ignorierend, bereitete ich mich auf den »Kuss des Buddha« vor, eine ebenfalls von mir selbst erfundene Übung.

      Gerade hatte ich tief Luft geholt und die Arme gehoben, als mein Vater unser Gespräch fortsetzte. »Wie ein Insekt unter dem Mikroskop.«

      Ich ließ die Arme wieder sinken. »Was willst du mir damit sagen?«

      »Ich beobachte ihn schon eine ganze Weile dabei, wie er dich beobachtet, Junge. Er studiert dich. Der hat was vor, glaub mir.« Die Augen in dem früh gealterten Gesicht meines Vaters waren schmal geworden, und er nickte bedächtig, als habe er mir soeben eine große Weisheit verkündet.

      Ich atmete vorwurfsvoll und deutlich hörbar aus, gab meinem Vater aber doch eine Antwort auf seine absurde Theorie. »Ja, sicher hat der Mann etwas vor. Er zieht gerade in diese Wohnung dort drüben ein.«

      »Ach ja?« Die vielen Fältchen in seinem hageren Gesicht schoben sich zusammen. Er grinste sein wissendes Grinsen, das ich noch nie hatte leiden können. »Und wo hat er sein Leben gelassen?«

      Ich gab auf. Der Buddha würde ungeküsst bleiben müssen, jedenfalls für heute. »Sein Leben? Was meinst du damit: Wo hat er sein Leben gelassen?«

      Das Grinsen meines Vaters wurde noch eine Spur breiter. Überheblicher. Ich spürte einen Anflug von Ungeduld. »Niemand betritt eine neue Wohnung allein. Man bringt sein altes Leben mit.«

      Jetzt ahnte ich, worauf er hinauswollte, und antwortete: »Vermutlich stapeln sich außerhalb unseres Sichtfeldes Möbel und Umzugskartons.« Dann bückte ich mich, um meine Yogamatte aufzurollen.

      »Da ist nichts. Absolut nichts. Der Mann hat nichts mitgebracht, außer einen Kasten Bier. Und jetzt steht er da am Fenster und schaut dich an. Hast du was angestellt, Junge?«

      »Ich?« Ich gab mir Mühe, nicht ironisch zu klingen, versagte aber kläglich. »Ob ich etwas angestellt habe? Du versuchst, witzig zu sein, oder? Oder unterstellst du mir, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt?«

      Die Yogamatte unter dem Arm, schob ich mich an meinem Vater vorbei, dem meine Worte das Grinsen aus dem Gesicht gewischt hatten.

      Meine Wohnung über dem Buchladen war eher von bescheidener Größe. An einem quadratischen Flur, gleich hinter dem Eingang, stießen die Türen von Bad, Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer zusammen. Das heißt, sie würden, wenn ich nicht die Wohnzimmertür entfernt hätte, weil ihr Glaseinsatz bei meinem Einzug sowieso schon gefehlt hatte. Ich brauchte eigentlich gar kein Wohnzimmer, ich brauchte einen Arbeitsplatz, und genau das war es, was dieser Raum nun war: Hier stand mein Schreibtisch nahe an einem der Fenster und meine Yogamatte lag unter einem anderen. Ein Werkzeugkasten mit allerlei Nützlichem und jede Menge Kleinkram für zukünftige Projekte stapelten sich in den Ecken. Der Raum sah so planlos aus wie es mein Leben war, doch beides vermochte ich derzeit nicht zu ändern.

      »Er kommt rüber.« Mein Vater preschte an mir vorbei und rannte wie von Furien gehetzt in Richtung meines Schlafzimmers. Meines ehemaligen Schlafzimmers, denn ich hatte es auf unbestimmte Zeit an meinen Vater abgetreten. Seitdem schlief ich mehr schlecht als recht auf meiner Yogamatte.

      »Vielleicht ist er gar nicht hinter dir, sondern hinter mir her. Hätte ich auch gleich drauf kommen können.« Mein Vater riss die Tür zum Schlafzimmer auf und drehte sich noch einmal zu mir um. »Wenn er fragt, du hast mich seit Monaten nicht gesehen, verstanden?«


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