Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


Скачать книгу
genau das macht die Realität zu einem gefährlichen Ort für sie. Jemand muss ein Auge auf sie haben. Jemand, der ständig in ihrer Nähe ist. Jemand, der in ihrer Nähe lebt und arbeitet. Jemand wie Sie.«

      Jetzt glaubte ich, verstanden zu haben. Und ich beschloss geistesgegenwärtig, das Beste für mich aus dem Dilemma meines Gegenübers herauszuholen. »Haben Sie einen Zettel und einen Stift?«, fragte ich Maiberg.

      Der Mann zog wortlos einen teuer aussehenden Kugelschreiber aus der gut bestückten Innentasche seines Jacketts und fand in der Tasche seiner Hose die Quittung einer Tankstelle. Beides reichte er mir. Ich drückte den Zettel an die weiße Küchenwand und notierte rasch eine Reihe von Zahlen.

      »Was soll das?«, fragte Maiberg.

      »Das ist meine Kontonummer und die Summe, die Sie mir monatlich überweisen werden. Beginnend mit dem Monat, in dem Katalie hier einzieht.« Ich reichte den Zettel an Maiberg zurück. »Und erwarten Sie bitte nicht, dass ich für den Preis eines gewöhnlichen Kindermädchens arbeite. Dass das ein Fulltimejob ist, den Sie mir da anbieten, ist Ihnen ja wohl klar.«

      Maiberg zückte nun seinerseits eine Visitenkarte, die er mir überreichte. »Und dies ist die Mailadresse, an die Sie jeden Abend einen Bericht über Katalies Tätigkeiten der vergangenen Stunden schicken werden. Ist das auch klar?«

      »Völlig klar.« Ich warf einen Blick auf die Visitenkarte.

      Maiberg Industries.

      Ich hätte eine höhere Summe auf dem Kassenzettel vermerken sollen. »Der Betrag, den ich von Ihnen für meine Arbeit verlange …«

      »Ja?« Maiberg zog eine Augenbraue hoch.

      »Liegt er oberhalb oder unterhalb ihrer ursprünglichen Preisvorstellung?«

      Maiberg bleckte die Zähne zu einem kalten Grinsen. »Er liegt weit unter dem, was ich zu zahlen bereit gewesen wäre.«

      Mist. Aber vielleicht ließ sich noch etwas mehr aus dem Mann rausholen. »Wenn der Job sich als anstrengender als erwartet entpuppen sollte, werde ich eine Lohnerhöhung fordern.«

      »Er wird viel anstrengender, als Sie es erwarten, verlassen Sie sich darauf.« Maibergs Unterkiefer verkrampfte sich grimmig.

       Drei Wochen später

      Missgelaunt saß Tom Sawbarn am Steuer seines Kleintransporters und rumpelte viel zu schnell über den ausgefahrenen Kiesweg. Die leuchtenden Ziffern am Armaturenbrett ließen ihn wissen, dass es stramm auf fünf Uhr morgens zuging. Was für eine verschwendete Nacht, was für eine sinnlose Herumfahrerei, was für eine alberne Idee. Rund um Esbjerg gab es die herrlichsten Strände, aber nein, sie mussten ja die Küste hochfahren, bis zu dem einen, dem besten, dem vielversprechendsten aller Strände.

      »Da vorne musst du abbiegen, Tom. Gleich dort drüben bei den zwei niedrigen Kiefern ist der nächste Parkplatz«, rief Kalle vom Beifahrersitz aus und fuchtelte mit seiner Hand vor Toms Gesicht herum. Kalle stank nach Schweiß, Frittenfett und Armut und wechselte nie seine Jogginghose oder seinen Pullover mit dem aufgedruckten Maskottchen eines Möbelhauses. Kalle war eine Nervensäge und hatte immer wieder blöde Einfälle, so blöde wie eben diesen. Aber er war noch immer einer von Toms besten Freunden. Und war es etwa Kalles Schuld, dass in seinem Leben seit ihrer gemeinsamen Schulzeit alles schiefgelaufen war? Manches war schon seine Schuld, dachte Tom und bog auf den nahezu verlassenen Parkplatz vor den grasbewachsenen Dünen ein. An der Einfahrt zu dem steinigen Platz wuchsen wenige krüppelige Kiefern und warfen bizarre Schatten im Mondlicht.

      Manches war ganz eindeutig Kalles eigene Schuld gewesen. Vielleicht nicht der Verlust seines ersten Jobs, aber der Verlust aller folgenden schon. Vielleicht nicht das Scheitern seiner letzten Ehen, doch das der allerersten schon. Und jetzt hatte Kalle aufgegeben. Nicht alles und nicht völlig, aber die Dinge, auf die es Toms Meinung nach ankam, die hatte Kalle endgültig hinter sich gelassen. Das Streben nach einem festen Wohnsitz beispielsweise, die Suche nach einer Arbeit, einer richtigen Arbeit, die ihn ernähren und kleiden konnte. Stattdessen unternahm er Ausflüge wie diesen hier und Tom half ihm auch noch dabei.

      »Nur ein anderes Auto zu sehen«, sagte Kalle und spähte hinaus auf den vom Vollmond beschienenen Parkplatz inmitten der Dünenlandschaft. »Das gehört sicher ein paar Teenagern, die sich gerade nackt und eng umschlungen durch die Dünen wälzen.«

      Tom bezweifelte das. Der Strand am Gammelgab wurde selbst bei Tage nur von wenigen Sonnenanbetern heimgesucht, er lag weiter abseits der Ferienhäuser als die beliebten Touristenstrände. Und jetzt, da die Sommersaison vorbei war und die ersten kühlen Herbstnächte Einzug hielten, hatte dieser Ort auch für die einheimischen Liebespaare an Reiz verloren.

      Kalles guter Laune tat der verlassene Wagen, der ganz vorn am Dünenweg geparkt war, keinen Abbruch. »Wir sind konkurrenzlos, Tom. Alles, was wir heute Nacht finden, gehört uns.«

      Sein Freund schlug ihm mehrmals hintereinander auf die Schulter und riss die Beifahrertür auf. Tom zog den Zündschlüssel ab und stieg ebenfalls aus. Augenblicklich fuhr ihm der Wind durch das schwarze Haar und zerzauste es. Im Gegensatz zu Kalle, der jetzt mit Ende dreißig fast kahl war, hatte Tom sein volles Haar behalten.

      »Der Wind steht richtig«, jubelte Kalle, schlug die Wagentür zu und marschierte zielstrebig in Richtung eines mit Stroh ausgelegten Pfades, der sie durch die Dünen zum Meer führen würde.

      »Der Wind schon«, rief Tom und folgte dem Freund mit schnellen Schritten. Bald hatte er ihn eingeholt und fuhr etwas gedämpfter fort: »Aber abgesehen von der Windrichtung ist so ziemlich alles verkehrt. Es ist noch viel zu warm, um wirklich etwas zu finden. Dunkel ist es auch noch.«

      »Es wird schon hell werden«, erwiderte Kalle. »Wird es jeden Tag. Und heute werden wir die ersten an der Wasserlinie sein. Alles gehört uns. In Blåvand hat man mir versichert, dass man mir alles abkaufen würde, was ich zusammenbringe.«

      »In Blåvand? Du warst also wieder bei Sven«, stellte Tom fest und verdrehte die Augen. Sven hatte ebenfalls mit ihm und Kalle die Schulbank gedrückt. Und genau wie Tom hatte Sven, wann immer Kalle stinkend und hungrig bei ihm auftauchte, das Gefühl, seinem Freund aus Kindertagen irgendwie helfen zu müssen. Obwohl Sven als Juwelier seinen Bernstein längst zu günstigen Konditionen aus Russland bezog, kaufte er Kalle dessen Funde noch immer für viel zu viele Kronen ab.

      »Diese Gegend ist perfekt für Bernstein.« Kalle verließ den mit Stroh ausgelegten Strandweg zugunsten eines Trampelpfades und erklomm die erste Düne. »Hier habe ich vor zwei Jahren meinen größten Bernstein gefunden. Und noch viele andere schöne Brocken.«

      »Es ist nicht kalt genug für Bernstein. Und Sturm wäre besser als das bisschen Wind, das weiß doch jeder.«

      Tom kam das ganze Unternehmen noch immer blödsinnig vor. Er wusste, dass der Bernstein bei niedrigen Wassertemperaturen nach oben getrieben und durch Sturm bis an die Küste gespült wurde. Der Sommer war keine gute Zeit zum Bernsteinsuchen, auch der frühe Herbst war es nicht. Je schlechter das Wetter, umso besser die Chancen auf Bernstein. Warum kurvte er also mehr als eine Stunde in aller Herrgottsfrühe durch die Landschaft, um Kalle an seinen Bernsteinstrand zu bringen, wo sie jetzt im September und ohne Sturm kaum fündig werden würden? Er konnte verstehen, dass Kalle lieber die unsinnigste und unproduktivste Arbeit auf sich nahm, als um Geld betteln zu müssen. Er konnte verstehen, dass es einen Rest von Stolz unter Kalles Dreckschicht gab, Stolz, den er hegte und pflegte, um ihn nicht auch noch zu verlieren. Aber dass er, Tom Sawbarn, ein hart arbeitender Gastwirt aus Esbjerg, deswegen um seinen Schlaf gebracht wurde, das sah er nicht ein. Rebecca hatte eben doch recht gehabt, als sie ihn vor Ausflügen mit Kalle gewarnt hatte. Der Schlafmangel würde ihm den Rest des Tages zu schaffen machen.

      Der volle Mond hing wie ein großer, gelber Käse über den Dünen, die, je näher sie dem Wasser kamen, an Bewuchs einbüßten und in sandigem Weiß schimmerten. Tom konnte die Brandung des Meeres bereits hören, ohne den Strand zu sehen. Sie war nicht laut genug. Es würde kein guter Morgen für Bernstein werden, der, leicht wie er war, auf dem Wasser


Скачать книгу