Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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einigen Minuten erreichten wir das Sukkertop-Café und Katalie mühte sich ab, die Leine um den Fahnenmast nahe der Eingangstür zu knoten. Glöckchen bimmelten, als sie im Innern verschwand. Wie immer, wenn Katalie das Sukkertop besuchte, wechselte ich die Straßenseite, um mir in der gegenüberliegenden Kneipe einen Fensterplatz zu suchen. Das Bier, das ich hier trinken würde, während Katalie im Café saß, würde ich Maiberg als Spesen in Rechnung stellen.

      Der Wirt kannte mich und meine Gewohnheit bereits, das Bier fand sich an meinem Fensterplatz unaufgefordert ein, und ich legte die noch druckfrische Daisy vor mir auf den Tisch.

      Mit mäßigem Interesse las ich ein paar Schicksalsgeschichten und blätterte dann bis zur letzten Seite vor. Dort fand sich die Bitte-melde-dich-Rubrik, wo sich die ein oder andere amüsante Anzeige fand. So auch heute. Zwischen

      Komm zurück, es ist alles vergeben und vergessen. Ich liebe dich. Deine Maike

      und

      Jonas, wo bist du nur abgeblieben? Seit unserem Gespräch auf dem Balkon habe ich nichts mehr von dir gehört oder gesehen. Du wirst ja wohl nicht runtergefallen sein? Isabel

      fand sich eine Anzeige, die so seltsam war, dass ich eine Weile über sie nachgrübelte:

      Wer weiß etwas über den Kerl, der mir am Sonntagmorgen in der Havnegade in Esbjerg eine Spritze in den Oberarm gerammt hat? Möchte mich mit dem Schwein mal unterhalten, also Hinweise direkt an mich …

      Es folgte eine Handynummer.

      Wer um alles in der Welt rannte denn mit einer Spritze im Anschlag durch die Straßen und stach auf unschuldige Passanten ein? Und wer war so dumm, Geld für eine derartige Anzeige auszugeben? Vielleicht war Katalie gar nicht so seltsam. Vielleicht war ein leeres Hundehalsband auch nicht merkwürdiger als eine Spritze in der Hosentasche. Auf jeden Fall war es ungefährlicher.

      Ich sah hinüber zum Café, wo sich noch immer nichts rührte, und bestellte ein weiteres Bier. Eine halbe Stunde später orderte ich ein drittes. Über das vierte dachte ich kurz nach, ging aber stattdessen rasch auf die Toilette. Als ich wieder an meinen Fensterplatz trat, sah ich die noch immer fest verknotete Leine am Fahnenmast. Was trieb das Mädchen nur so lange da drüben? Stellte sie einen neuen Rekord im Rumkugel-Essen auf? Das Sukkertop war berühmt für seine Rumkugeln, die keinen Rum enthielten, wie Touristen oft vermuteten, sondern nach Lebkuchen schmeckten und ihren Namen allein durch das Rumkugeln in Schokostreuseln erlangt hatten.

      Nach einer weiteren halben Stunde ungeduldigen Wartens siegte die Neugier. Ich ließ die ausgelesene Daisy auf dem Tisch liegen, bezahlte und trat auf die Straße hinaus. Ein Bus fuhr an mir vorüber und ich schätzte die Zahl seiner Insassen auf über fünfzehn. Ich würde meine Zahlen nach oben korrigieren und sie alle meiner Haltestelle zuschlagen, sobald ich zu Hause ankam. Dann wechselte ich die Straßenseite und betrat das Café.

      Fröhlich bimmelnder Glöckchenklang kündigte meinen Besuch an und ein rundlicher Herr mit Halbglatze hinter der Kuchentheke hob den Kopf.

      »Was darf’s sein?«, fragte er. »Wir schließen gleich, aber ich kann Ihnen den Kuchen gern einpacken.«

      Irritiert blickte ich auf meine Armbanduhr. Wahrhaftig, es war bereits kurz nach der Mittagszeit und das Sukkertop schloss für eine Stunde, damit auch der Herr hinter dem Tresen zu einer Pause kam. Rasch sah ich mich in dem kleinen Café um und stellte fest, dass alle Tische verlassen waren.

      »Nun?« Der Herr hinter seinen Kuchen wartete noch immer auf meine Bestellung.

      »Tja …« Ich war noch nie besonders schlagfertig gewesen.

      »Oder wollen Sie gar nichts kaufen?« Er beugte sich vor. »Sind Sie der Kerl, dem ich etwas ausrichten soll?«

      »Ausrichten?«

      »Ja, von der kleinen Prinzessin.«

      »Von wem?« Meine Güte, ich wusste, dass ich mich wie ein Vollidiot anhörte, aber mein Hirn kam einfach nicht schnell genug mit.

      »Na, von Prinzessin Katalie. Die suchen Sie doch, oder?« Der Mann sah mich erwartungsvoll an.

      Was hatte es für einen Sinn, zu leugnen? Ich war aufgeflogen. Ich wusste nicht wie und wann, aber es war so.

      »Die Kleine ist durch die Hintertür abgedampft. Meinte, es sei ganz wichtig, dass sie mein Café mal nicht durch den Haupteingang verlässt. Und dem Ritter, der kommen würde, um nach ihr zu fragen, soll ich bestellen, dass er bitte das Ding heimbringen soll. Ich nehme an, Sie wissen, wovon die Kleine redet.«

      Er deutete mit dem Daumen auf die hinter mir liegende Tür. Verunsichert drehte ich mich um und fragte: »Ding? Was denn für ein Ding?«

      »Na das, das sie nicht mit hereinbringen will. Meint, es nimmt zu viel Platz weg.« Der Mann lachte schallend über seine eigenen Worte und mir dämmerte, wohin er gewiesen hatte. Zum Fahnenmast, wo eine Hundeleine und ein leeres Halsband auf mich warteten. Nur, dass es für Katalie niemals leer gewesen war. Sie hatte ein unsichtbares Ding über die Gammelgade gezerrt? Und nun befand sich dieses Ding plötzlich in meiner Obhut?

      Hastig sah ich mich um. »Ist sie schon lange fort?«

      »Ja.«

      »Und hat sie gesagt, wohin sie geht oder wann sie wiederkommt?«, versuchte ich mein Glück noch einmal.

      »Nee.« Mein massiges Gegenüber schüttelte sein Haupt. »Aber dass das Ding nur Chips frisst, das hat sie gesagt.«

      Grußlos wandte ich mich zum Gehen und ließ die Glöckchen über der Tür kräftig bimmeln. Draußen starrte ich Leine und Halsband feindselig an. Teufel stand in geschwungenen Lettern auf letzterem. Teufel war also ein Ding. Ein großes unsichtbares Ding. Nicht, dass ich mir viel darunter vorstellen konnte, aber das musste ich ja auch nicht. Gut, ich würde Katalie den Gefallen tun und ihren imaginären Freund nach Hause bringen. Aber ich würde ihn nicht hinter mir herziehen. Teufel würde in meiner Jackentasche reisen und im Briefkasten auf die Rückkehr seiner Herrin warten müssen. Sollte das Ding sich doch ein bisschen zusammenrollen.

      Ich besah mir das gewaltige Halsband noch einmal und empfand plötzlich einen heftigen Widerwillen dagegen, es zu berühren. Es musste zu einem recht prächtigen Ding gehören, das wahrscheinlich kaum durch den Briefschlitz zu quetschen war. Auch in meiner Jackentasche würde das Untier nicht glücklich sein.

      Ich sah die Straße hinauf und hinab. Niemand war unterwegs. Keiner würde es bemerken, wenn ich die Leine hinter mir herschleifte. Ich könnte … Hastig schüttelte ich den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Wer war ich denn, dass ich ein leeres Halsband spazieren führte?

      Mit schnellen Bewegungen löste ich den Knoten am Fahnenmast und wollte die Leine schon zusammenknüllen, brachte es aber einfach nicht über mich. Stattdessen zog ich aus unerfindlichen Gründen daran. Das Halsband machte ein scharrendes Geräusch auf dem Fußweg. Es hörte sich vertraut und richtig an.

      Teufel also. Ein Ding war er. Schade nur, dass ich ihn nicht sehen konnte. »Na, dann komm, Teufel.« Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

      Fast trotzig wandte ich mich zum Gehen und lief mit schnellen Schritten voraus. Hinter mir scharrte und schlurfte Leder auf Stein.

      »Jetzt ist es soweit, Smiljan«, sagte ich laut zu mir selbst. »Jetzt wirst du bescheuert.«

      Nie werde ich die drei Tage vergessen, die auf Katalies Verschwinden folgten. Wie hatte ich auch so blöd sein können, zu glauben, sie würde mich nicht bemerken? Natürlich hatte sie mich bemerkt, vielleicht schon am Tag ihres Einzugs. Und nun hatte sie einen Weg gefunden, um meiner Bewachung zu entgehen.

      Aber musste sie nicht trotzdem irgendwann zurückkehren? Dort drüben auf der anderen Straßenseite befand sich ihre Wohnung, dort drüben hatte ich die Leine an einem Straßenschild angebunden und einen Napf mit Chips danebengestellt, der sich wie durch Zauberei immer wieder leerte, ohne dass ich erfuhr, wohin der Inhalt verschwand,


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