Mississippi Melange. Miriam Rademacher

Mississippi Melange - Miriam Rademacher


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Augenblick später die Gestalt, die reglos im Sand lag, und beugte sich über sie. Während er mit der einen Hand nach dem Puls am Hals tastete, wanderte sein Blick immer wieder unruhig zum Dünenkamm hinauf. Was, wenn der andere doch noch zurückkehrte?

      Nach einer gefühlten Ewigkeit war er sich sicher, dass der Kerl vor ihm im Sand keinen Puls mehr besaß. Der Körper war auch schon recht kalt und von seiner Kleidung ging ein deutlicher Uringeruch aus. Tom betrachtete das schmale Gesicht des Enddreißigers mit dem albernen Oberlippenbärtchen genauer. War er dem Typ nicht irgendwo schon einmal begegnet? Vielleicht in seinem eigenen Café? Nein, dort verkehrten einfache Leute, keine Männer mit Oberlippenbart im schwarzen Anzug. Und trotzdem kam ihm der Kerl irgendwie bekannt vor. Da bemerkte Tom auf Brusthöhe des Mannes eine Ausbuchtung im schwarzen Anzugstoff. Der Tote trug etwas in der Innentasche seines Jacketts spazieren. Vielleicht ein Handy oder eine Brieftasche, möglicherweise etwas, das Tom Aufschluss über die Identität des Mannes gab?

      Er zögerte nur kurz. Dann schob er seine Hand zwischen Hemd und Revers, ertastete im Innenfutter die gesuchte Tasche und zog einen Gegenstand heraus. Das Ding sah aus wie ein Zigarettenetui. Tom war enttäuscht. Ohne sich etwas davon zu versprechen, ließ er das silberne Etui aufschnappen und blickte auf ein zusammengefaltetes Taschentuch, das einen seltsamen Geruch verströmte. Tom konnte sich keinen Grund vorstellen, warum jemand ein feuchtes und müffelndes Taschentuch in ein Zigarettenetui sperren sollte. Gerade wollte er das Kästchen schließen, um es zurückzustecken, als er instinktiv spürte, dass er nicht mehr allein war.

      »Was machen Sie denn da?«, fragte eine fremde Stimme hinter seinem Rücken.

      Tom fuhr zusammen, sprang auf die Füße und sah sich um. Die Stimme war vom oberen Rand der Düne her gekommen. Schon sah er eine einsame Gestalt, die sich ihm rutschend näherte. Ein Mann, groß gewachsen und auffallend dünn. Er kam allein und trug einen Benzinkanister in der linken Hand. Tom erkannte augenblicklich die Gestalt wieder, erkannte in ihr den Mann, der gerade diesen toten Körper mit sich geschleift hatte. Jetzt durfte er keinen Fehler machen, durfte nichts Falsches sagen. Der Mann könnte ein Mörder sein. Ein Mörder, der in Ermangelung einer Schaufel beschlossen hatte, sein Opfer mit Benzin zu übergießen und zu verbrennen. Was sollte einen solchen Kerl davon abhalten, einen weiteren Mord zu begehen, um einen lästigen Zeugen zu beseitigen? Tom öffnete den Mund, um eine Lüge zu erfinden, irgendeine Erklärung dafür, was er hier tat.

      Doch der Fremde kam ihm zuvor. »Tom? Bist du das etwa? Junge, ich glaube, du hast gerade einen schlimmen Fehler gemacht.«

       Nur wenig später in der Havnegade in Esbjerg

      Seit einer geschlagenen Stunde versuchte Marta Jorgensen vergeblich, ihren Hausarzt zu erreichen. Natürlich waren die frühen Morgenstunden keine Zeit, um einen schwer arbeitenden Mann aus dem Bett zu klingeln. Doch die einzige Alternative für Marta war, eines der Krankenhäuser von Esbjerg aufzusuchen, und das war etwas, was sie unter gar keinen Umständen wollte.

      Etwa seit Mitternacht hatte sich Marta nicht recht wohlgefühlt. Zunächst hatte sie an den Anflug einer Grippe geglaubt, denn die Symptome wie Kopf- und Gliederschmerzen inklusive einer schnell ansteigenden Körpertemperatur waren wie aus dem Nichts über sie hereingebrochen. Doch von einer Grippe ließ sie sich nicht Bange machen. Marta Jorgensen war achtundsiebzig Jahre alt, dies war nicht ihre erste kleine Influenza. Mit einer Grippe gehörte man eben ins Bett und in ein paar Tagen würde dann alles wieder gut sein.

      Doch als sie weit nach Mitternacht aus dem Schlaf aufgeschreckt war, hatte sie am ganzen Körper gezittert und die Lymphknoten in Achseln und Leisten waren zwischenzeitlich so groß und so hart geworden wie Hustenbonbons. Kurz darauf hatte Martas Sehfeld angefangen, sich zu verzerren, und das war der Moment gewesen, in dem sie eingesehen hatte, dass sie dringend Hilfe benötigte. Nichtsdestotrotz war ein Krankenhaus der letzte Ort, in dem Marta sich wiederfinden wollte. Krankenhaus war für sie gleichbedeutend mit Endstation. Noch nie war jemand, den sie gekannt hatte, gesünder aus einem Krankenhaus herausgekommen, als er es betreten hatte. Man ging mit einer lästigen Blasenentzündung hinein und kam mit einer Krebsdiagnose wieder heraus. Da konnte man mal sehen, was Krankenhäuser den Menschen antaten.

      Mit zitternden Fingern wählte sie erneut die Nummer ihres Hausarztes Jonas Bager. Er musste doch längst zu Hause in seinem Bett liegen. Aber der Mann schien einen gesunden Schlaf zu haben. Nach einer Weile sprang, wie schon bei den Versuchen zuvor, der Anrufbeantworter an, der sie aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Bis zu diesem Moment war Marta dieser Aufforderung nicht nachgekommen. Was sie wollte, war einen Arzt, nicht die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen. Jetzt aber, gepeinigt vom Schüttelfrost, kam sie der Bitte nach.

      »Marta Jorgensen hier. Jonas, ich fühl mich, als ob ich sterben muss. Kommen Sie schnell und bringen Sie etwas von diesem Antispirin mit oder wie das Zeug heißt.«

      Marta hustete ein paar Spritzer Blut auf das Telefon und legte auf. Kein Aspirin und kein Antibiotikum konnten ihr jetzt noch helfen. Doch das wusste sie natürlich nicht. Der Gedanke kam ihr erst, als das Atmen von Moment zu Moment anstrengender wurde. Jetzt wählte sie den Notruf, kam aber nur noch bis zur zweiten Ziffer. Ein Ende im Krankenhaus blieb Marta Jorgensen erspart.

      »Sie streicht die Wände schon wieder um«, hörte ich meinen Vater sagen, der mit einem hellblauen Plastikfeldstecher vor den Augen an der Gardine vorbei aus dem Fenster spähte. Das Fernglas, das er dabei nutzte, hatte ich noch vor Katalies Einzug in einem Spielwarenladen in der Innenstadt erstanden. Obwohl es sich um billigen Schrott aus dem Reich der Mitte handelte, war es uns bei der täglichen Überwachung unserer Zielperson eine kleine Hilfe. Es verriet uns Details aus der gegenüberliegenden Wohnung, die uns ansonsten verborgen geblieben wären.

      »Welche Farbe ist es diesmal?«, fragte ich und biss in mein geröstetes Weißbrot, auf dem die noch warme Leberpastete fettig glänzte. Endlich hatten wir wieder einen vollen Kühlschrank, endlich gab es alles, worauf wir gerade Lust und Appetit hatten. Und diesen Luxus verdankten wir der kleinen Katalie. Kaum zu glauben, wie leicht man sein Geld verdienen konnte. Hier saß ich an meinem Schreibtisch und genoss das Leben, sah gelegentlich nach Katalie und den anhaltenden Bussen und schrieb auch hin und wieder einen Brief für die Kummerkastentante der Daisy. Bei Lasse im Antiquariat und auch im Fitnessstudio ließ ich mich immer seltener sehen. Durch Maiberg verdienten wir genug, um uns kleine und größere Wünsche erfüllen zu können. So konnte es weitergehen.

      »Die Grundfarbe bleibt erhalten. Sie bereichert das Grün lediglich um eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Blumen. Vielleicht sollten wir dem Kind ein Malbuch schenken. Anonym, versteht sich. Wir könnten es nachts in ihren Briefkasten werfen.«

      Meinem Vater war die Kleine bereits ans Herz gewachsen. So wie jedem anderen im näheren Umkreis, wie es mir schien. Es war kaum zu glauben, aber ich hatte Jahre hier an der Gammelgade gewohnt, bevor ich auch nur den Vornamen meiner direkten Nachbarin erfuhr. Katalie hingegen kannte nach drei Wochen scheinbar jeden, grüßte jeden und wurde von jedem gegrüßt. Morgens saß sie auf den Gehwegplatten vor dem Haus und erwartete den Briefträger. Obwohl er so gut wie nie Post für sie hatte, bekam er von ihr eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne und ein paar nette Worte, auch bei Regenwetter.

      Kaum anders erging es dem Zeitungsboten, dem alten Schuster, der regelmäßig mit seinem Gehwägelchen die Gammelgade kreuzte, und der Kioskbesitzerin an der Ecke, die es immer eilig zu haben schien, sowohl vor als auch nach den Öffnungszeiten. Katalie saß häufig auf der Stufe zur Gammelgade 104, um die Herzen aller Nachbarn im Sturm zu erobern. Und ich als ihr Chronist durfte Zeuge dieses Siegeszuges werden, ohne dass sie mich auch nur zur Kenntnis nahm. Unbemerkt hatte ich, nein: hatten wir, stets ein wachsames Auge auf sie. Es schien fast, als wären wir hinter den gegenüberliegenden Fenstern kein Teil ihrer Welt, und wir legten auch keinen Wert darauf, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Eine gewisse Distanz machte es mir leichter, meinem Arbeitgeber gegenüber loyal zu bleiben. Und mein Arbeitgeber war Maiberg. Der Mann, der einmal täglich von mir einen knappen Bericht über Katalies Aktivitäten erhielt. Den Bericht lieferte ich bereits gewohnheitsmäßig


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