Schuld ohne Reue. Günther Drutschmann

Schuld ohne Reue - Günther Drutschmann


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von dir höre, gibt es weitere Schläge. Ein Kind hat zu gehorchen, hat Vater und Mutter zu ehren, hast du das Verstanden?«

      »Nein«, entgegnete Minchen trotzig und erhielt prompt zwei Ohrfeigen.

      »Treibe es nicht zu weit Wilhelmine«, warnte Michael, »ich habe heute nicht viel Geduld. Ich kann solange auf dich einprügeln, bis du es verstehst.«

      Anna erschien in der Türe und sah die kritische Situation.

      Michael stand vom Stuhl auf. »Ich habe nicht viel Zeit, muss mich umziehen, heute Abend ist Chorprobe. Mine, ich höre nachher ein »Entschuldige Papa« oder du wirst etwas erleben, darauf kannst du dich verlassen.«

      Michael verließ den Raum und ging ins Schlafzimmer, um sich die Vereinsuniform anzuziehen. Die Zeit drängte.

      Im Kinderzimmer sprach Anna auf ihre Tochter ein. »Ich habe nun genug von deinen Ungezogenheiten. Wenn du nicht folgst, kommst du ins Heim, dann wollen wir dich nicht mehr haben. Überlege dir das gut. Ich höre heute Abend die Entschuldigung, sonst ist hier was los.«

      Sie verließ den Raum und überließ Mine ihrem Trotz. In der Küche bereitete sie das Abendbrot vor. Kurze Zeit später erschien Michael und setzte sich auf seinen Platz. Peter erschien von seiner Spieltour, »Abend Papa« und wusch sich die Hände. Michael grüßte freundlich zurück, Peter war sein Lieblingskind.

      Anna rief die Kinder, Wolfi erschien, danach Minchen. Peter sah die kritische Situation und gab der Schwester einen freundschaftlichen Stoß. »Reize Papa nicht weiter«, raunte er an der Türe.

      Mine ging zu Michael hin und sagte leise: »Entschuldigung Papa.«

      »Ist gut«, erwiderte diese, »setzt dich auf deinen Platz. Peter sage das Abendgebet.«

      Peter sprach ein kurzes Gebet und das Abendessen konnte seinen Lauf nehmen. Viel gesprochen wurde nicht mehr, Mines Trotz lastete noch etwas auf der Runde. Die Stimmung entspannte sich, als Michael kurze Zeit später aufstand, Anna einen Kuss gab, seine Mappe und Mütze nahm, den Kindern zunickte und verschwand. Er war zufrieden, er hatte Minchens Trotz gebrochen. Kinder brauchen eine harte Hand, nur so lernen sie Gehorsam.

      Zuhause nahm der Abend den gewohnten Gang. Papa hatte die Mahlzeit vorzeitig aufgehoben. Normalerweise durfte kein Kind aufstehen, wenn die Eltern nicht die Erlaubnis dazu gaben. Die Kinder halfen Anna beim Abräumen des Tisches und gingen danach ins Kinderzimmer. Hier nahm sich Peter die Geschwister vor, vor allem Minchen.

      »Wenn Papa etwas sagt, haben wir zu gehorchen, du auch Minchen, auch du Wolfi, auch wenn du ein Schreihals bist. Minchen lass die Faxen. Das reizt Papa nur und wir bekommen es alle ab. Reiß dich zusammen.«

      Minchen nickte, auf Peter hörte sie. Anna kam ins Zimmer und sah sofort die Situation. Sie nickte Peter aufmunternd zu, ihrem Großen, der auch ihr Lieblingskind war.

      »Fertigmachen zum Bettgehen«, ertönte es jetzt von ihr und die Kinder begannen die gewohnten Rituale.

      Der Probenraum des 1903 gegründeten Post-Männerchors lag nicht weit von Michaels Wohnung entfernt, im Gebäude des Hauptpostamtes. Vor dem weitläufigen Haus traf er seinen Schwiegervater Bernhard Bläsius, den pensionierten Postillion und beide gingen nach kurzer Begrüßung in den Probenraum. Hier waren schon mehrere Sangesbrüder versammelt, man begrüßte sich und schwatzte noch etwas herum.

      Der Dirigent erschien und mahnte alle, ihre Plätze einzunehmen. Jeder wusste, wohin er gehörte. Der Chor war ungefähr hundert Mann stark, davon heute ungefähr sechzig anwesend und hatte in der Region einen guten Ruf. Es dauerte eine Weile, bis alle auf ihren Stühlen saßen. Michael besaß eine gute Baritonstimme, er saß neben seinem Schwiegervater, mit dem er sich sehr gut verstand. Durch den Postmännerchor, dem er 1904 sofort nach seinem Eintritt in den Postdient beitrat, hatte er Anna kennengelernt. Michael und Bernhard verstanden sich von Anfang an gut und so ergab es sich, dass sie auch privat miteinander verkehrten.

      »Meine Herren, darf ich um Ruhe bitten. Wir haben nicht viel Zeit und noch viel zu tun.«

      Dirigenten in aller Welt und zu allen Zeiten sprechen so.

      »Wir wollen die Stücke probieren, die wir anlässlich des Kaiserbesuches vortragen wollen. Ihr wisst, wir haben die hohe Ehre, dem Kaiser eine Probe unseres Könnens vorzustellen.«

      Michael war in diesem Augenblick stolz, diesem Chor anzugehören, erstens weil er gerne sang, zum anderen, weil er dem geliebten und verehrten Kaiser sehr nahe sein würde. Welch eine große Auszeichnung .

      Nach einigen Lockerungsübungen begannen sie, das Programm durchzusingen. Aber schon beim ersten Lied stockte es. Der Dirigent schüttelte missbilligend den Kopf.

      »Männer, was singt ihr da? Singt ihr nach Noten oder nach was. Richtige Noten, aber nicht in der richtigen Reihenfolge. Der Kaiser wird sich alle Haare bei dem Singsang ausreißen.« Dies war natürlich stark übertrieben, aber bei allen Dirigenten der Welt so üblich.

      Die Chormitglieder waren nicht überrascht, sie kannten das Repertoire ihres Chefs.

      Was wurde nun geübt? Gutes deutsches Liedgut, von der Heimat, dem Walde, dem guten Mond, der so stille geht, das Ännchen von Tharau und vieles mehr. Lassen wir den Chor in Ruhe weiterüben, damit sie den hochverehrten Kaiser mit ihrer Sangeskunst erfreuen können.

      Nach ungefähr zwei Stunden war die Probe beendet. Der Chor zerfiel nun in viele Einzelgruppen, die noch etwas herumstanden und redeten. Langsam löste sich die Versammlung auf. Ein Teil des Chores ging nicht nach Hause, sondern in das nahegelegene Vereinslokal »Zur Kiste«, ein gutbürgerliches Speiselokal mit einer Schwemme. Dort traf man sich nach kurzem Weg gerne zu einem Glas Bier.

      »Na Michael«, fragte sein Schwiegervater, »wie geht es so auf der Post und zuhause?«

      Sie saßen mit vier oder fünf Sangesbrüdern an einem Tisch, jeder ein Glas Bier vor sich, außer Michael, der lieber Viez trank. Die Zigarren qualmten.

      »Auf der Post geht es gut. Ich bin seit vier Wochen nicht mehr im Außendienst. Mein Chef ist endlich damit einverstanden, dass ich als Anwärter für den einfachen Postdienst im Beamtenverhältnis vorgesehen bin. Ich mache jetzt mehrere Praktika im Innendienst, um zu sehen, wo ich am besten einzusetzen bin. Zurzeit bin ich im Telegraphenamt. Ist nicht schlecht, aber mir schwebt eine Schreibtischarbeit vor.«

      »Recht hast du«, sagte sein Tischnachbar, »der Schreibtisch ist immer das Beste. Sie haben sich lange Zeit gelassen, bis sie dich weiterförderten.«

      »Das bin ich auch ein bisschen Schuld. Wenn ich die Beamtenlaufbahn einschlagen will, verdiente ich am Anfang weniger als Angestellter. Die Ehre, dem Staat zu dienen, verlangt das von mir. Ich habe inzwischen eine große Familie und deshalb zögerte ich die Entscheidung auch etwas heraus. Natürlich wollte mich mein Chef auch nicht gehen lassen.«

      »Als Beamter hast du aber mehr Vorteile«, mischte sich sein Schwiegervater ein, »du bis unkündbar, bekommst später eine Pension und wirst dann auch mehr verdienen. Du hast gute Chancen für den mittleren Dienst.«

      »Soweit bin ich noch lange nicht«, schmunzelte Michael, »wenn alles gutgeht, werde ich zum ersten April nächsten Jahres als Postschaffner in das Beamtenverhältnis übernommen. Hoffentlich kein Aprilscherz«

      Die Runde lachte, fast alle waren im Beamtenverhältnis.

      »Bis zum mittleren Dienst wirst du aber noch viel büffeln müssen. Der Weg dahin ist lang und beschwerlich«, meinte ein anderer Sangesbruder.

      »Michael schafft das schon«, kam ihm sein Schwiegervater zu Hilfe.

      »Ich nehme etwas Unterricht bei einem alten Lehrer, der früher Annas Lehrer war. Du kennst ihn Bernhard, es ist der Lehrer Wagner. Er hilft mir vor allem in Deutsch und gibt mir den letzten Schliff, aber auch in Geschichte, Staatsbürgerkunde und Geografie.«

      Die anderen nickten. Da saßen sie nun in der Schwemme der Kiste, ein rustikal eingerichteter großer Schankraum, Angehöriger der Post, stolz auf ihre Stellung, bei der Behörde zu arbeiten,


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