Razzia. Horst Bosetzky

Razzia - Horst Bosetzky


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als einer halben Stunde, zumal es bis jetzt noch kein richtiges Winterwetter gegeben hatte und die Bürgersteige eisfrei waren.

      Ruinen gab es auf ihrer Route nicht viele. Die Martin-Luther-Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite war wie die Gebäude kurz vor der Ossastraße zerstört worden, aber im weiteren Verlauf fehlte nur noch ab und an ein Haus. Um den Bayerischen Platz herum, wo die Engländer und die Amerikaner mit ihren Flächenbombardements alles in Schutt und Asche gelegt hatten, sah es anders aus. Es war ein trüber Tag, und die Straßen waren ziemlich leer. Auf dem Weichselplatz spielten keine Kinder, und rechts davon lag tief und schmutzig der Neuköllner Schifffahrtskanal. Schwäne gab es keine, die waren wohl schon lange in der Pfanne gelandet. Sie ging über die Brücke und kam in die Lohmühlenstraße und damit vom Bezirk Neukölln, gelegen im amerikanischen Sektor, in den Bezirk Treptow, der zum sowjetischen Sektor gehörte. Doch niemand kontrollierte sie. Es war überhaupt menschenleer in dieser Gegend. Wenn jetzt jemand aus den Büschen kam und über sie herfiel … Sie ging unwillkürlich etwas schneller und atmete auf, als sie kurz vor der Kiefholzstraße eine Brücke erreichte, die hinüber zum Görlitzer Ufer führte. Damit war sie in Kreuzberg und wieder im amerikanischen Sektor. Irgendwie fühlte sie sich hier sicherer. Über die Görlitzer kam sie zur Cuvrystraße. Die wollte sie hochgehen bis zur Schlesischen Straße, um dann zum Schlesischen Tor zu gelangen. Schon kamen ihr die ersten Schieber entgegen.

      Mittelpunkt des schwarzen Marktes am Schlesischen Tor war das Restaurant Hackepeter an der Schlesischen Straße, Ecke Cuvrystraße. Hierher kamen auch viele Bewohner des sowjetischen Sektors, vor allem aus Friedrichshain über die nahe Oberbaumbrücke. Da der Schwarzhandel verboten war und man immer Angst vor einer plötzlichen Razzia haben musste, hielt man seine Waren nicht wie auf einem gewöhnlichen Markt feil, sondern benahm sich wie ein ganz normaler Spaziergänger und sprach leise vor sich hin, was man anzubieten hatte.

      «Stoff», murmelte Marianne Migola. «Nadelstreifen-Gabardine …» Sie kam sich dabei vor wie ein Kind, das von seiner Mutter losgeschickt worden war und auf den Weg zum Kaufmann ständig wiederholte, was es einkaufen sollte. Doch niemand interessierte sich für ihr Angebot, so dass sie sich schließlich entschied, ihr Glück in der Gaststätte zu versuchen. Das Hackepeter war gut besucht, doch hinten an der Tür zur Toilette konnte sie noch einen freien Zweiertisch entdecken. Die Männer blickten ihr hinterher, offensichtlich in der Hoffnung, dass sie sich für einen Packen Butter und Speck selbst anbieten würde. Das war ihr furchtbar peinlich, und sie verfluchte ihre Idee, hier in der Gaststätte nach einem Interessenten für ihren Stoff zu suchen. Sie entschloss sich, das Lokal wieder zu verlassen, drehte sich um – und prallte gegen einen Mann, der gerade aufgestanden war, um die Toilette aufzusuchen. Sie schrie auf.

      «Gott, habe ich Ihnen weh getan?»

      «Nein, nein», stammelte sie, «es ist nur …» Dass er ihrem Gerhard, ihrem verstorbenen Verlobten, zum Verwechseln ähnlich sah, wollte sie dem Fremden nicht auf die Nase binden.

      «Gestatten Sie, Peter Rembowski, Herrenausstatter. Ich bitte vielmals um Entschuldigung für mein kleines Missgeschick.» Er verbeugte sich mit einer Eleganz, die einem Willy Fritsch alle Ehre gemacht hätte. «Darf ich Sie als Wiedergutmachung zu einem Glas Glühpunsch einladen?»

      Und führe mich nicht in Versuchung … Doch Marianne Migola hörte nicht auf ihre innere Stimme und folgte dem Mann an seinen Tisch. Als Herrenausstatter hatte er sicherlich Interesse an ihrem Stück Nadelstreifen-Gabardine.

      Komm, Karlineken,

      komm, Karlineken, komm,

      Wir woll’n zu Pankow gehen,

      da ist es wunderschön!

      Während sie das Treppenhaus fegte, sang Frieda Kopisch mit Inbrunst dieses Lied. Sie hätte es sicherlich nicht gesungen, wenn sie gewusst hätte, dass ein gewisser Adolf Spahn es 1888 komponiert hatte – denn jeder, der Adolf hieß, war ihr grundsätzlich suspekt.

      Herr Göritz, der einarmige Lehrer aus dem vierten Stock, der gerade vom Unterricht nach Hause kam, störte sich hingegen an etwas anderem.

      « Nach Pankow, Frau Kopisch, nicht zu Pankow.»

      «Nee, Sie, da wette ick jede Summe druff, det et zu Pankow heißen tut.»

      «Heißt, nicht heißen tut.» Göritz konnte nicht anders.

      Frieda Kopisch überhörte die erneute Verbesserung. «Mein Mann is ja aus Bremen jekommen, und da sagen se: Ick jehe nach Karstadt und nich wie wir zu Karstadt, also is det doch jehuppt wie jesprungen. Ach ja, mein Karl-Heinz mit seine Ausdrücke: Wurzeln zu Mohrrüben und Feudel zu Wischlappen. Und wenn wa spazierjegangen sind, eenmal um’t Karree rum, hatta jesagt: Um’m Pudding rum.» Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Ihr Mann war in den letzten Kriegstagen ums Leben gekommen, als sich der Volkssturm im Bereich Prenzlauer Promenade und Binzstraße verschanzt hatte, um die Rote Armee an der Einnahme Berlins zu hindern.

      Göritz hatte seinen rechten Arm bei einer Schlacht am Dnjepr verloren, klagte aber nicht weiter darüber, weil er der Meinung war, dass dieser «Heimatschuss» ihm das Leben gerettet habe. Und zum Glück war er Linkshänder. Dass er nun amtlich als Krüppel geführt wurde, störte ihn auch nicht weiter, und er zeigte gern auf seinen leeren rechten Ärmel und erzählte dabei seinen Lieblingswitz. Auch die Portiersfrau bekam ihn heute zu hören. «Ein Soldat hat seinen linken Arm und beide Beine verloren. Als er von der Front nach Hause kommt, sieht er, dass sein Wohnhaus in Schutt und Asche liegt, und erfährt, dass seine Frau und seine drei Kinder bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sind. Da reißt er seinen verbliebenen Arm zum Hitlergruß hoch und ruft: ‹Hauptsache, Danzig ist deutsch!›»

      Frieda Kopisch konnte darüber nicht so recht lachen, zumal sie wusste, dass Herr Göritz in der SED war. «Det is ma zu hoch», sagte sie dann auch.

      «Dann man noch einen schönen Tag!», sagte Herr Göritz, während er seinen Weg nach oben fortsetzte.

      «Ihnen ooch.» Die Hauswartsfrau sah ihm hinterher, griff wieder zu Handfeger und Müllschippe und arbeitete sich Treppenstufe für Treppenstufe langsam nach unten. Als sie auf dem Podest der ersten Etage angekommen war, hörte sie, wie unten die Haustür aufgestoßen wurde und Kinder lachten. Sie ahnte, was nun kommen würde, denn ein Lieblingsspiel der Jungen war «die Alte ärgern» – also sie. Und dies nur deshalb, weil sie tat, wozu sie da war: die Bengel vom Innenhof jagen, wenn sie dort auf den Mülltonnen spielten und lärmten. Eine Stinkbombe flog in den Hausflur, und der ätzende Qualm zwang sie, nach oben zu laufen und eines der schmalen Fenster aufzureißen, trotz der Kälte draußen. «Aasbande!», schrie sie nach unten. Wie man Stinkbomben baute, wusste sie von ihrem Enkel: Man nahm einen alten Rollfilm, den man den Eltern geklaut hatte, wickelte ihn in Zeitungspapier, so dass er aussah wie ein Knallbonbon, den man zu Silvester gebrauchte. Man zündete das Ganze an, warf es auf den Boden und trat es so schnell aus, dass es gewaltige Rauchwolken erzeugte.

      Als sich der Qualm verzogen hatte, wollte Frieda Kopisch ihre Arbeit fortsetzen, doch da kam die Heinze die Treppe hoch, dieses aufgetakelte Ami-Flittchen. Die machte jetzt auf große Dame, dabei war sie die erste Mieterin gewesen, die im letzten Winter, als alle Abflussrohre eingefroren waren, auf Zeitungspapier gekackt und das stinkende Paket dann aus dem Fenster in den Hof geworfen hatte. Eine Ladung war dicht neben Frieda Kopischs Füßen gelandet. «Vor dem Haus unten ist es glatt, da muss einer was ausgekippt haben!», rief ihr die Heinze nun zu. «Sie sollten wieder mal wischen!»

      «Nee, ick warte, bis Sie sich de Beene jebrochen ham», murmelte Frieda Kopisch, wusste aber, dass die Heinze recht hatte. Also machte sie sich auf den Weg in den Keller, um sich einen Eimer voll Asche zu holen und auf dem Bürgersteig vor ihrem Mietshaus zu verteilen. Sie hasste das, denn die Leute trugen ihr hinterher die ganze hellbraune Scheiße ins Treppenhaus, doch ihr Sand war schon aufgebraucht. Der Hauseigentümer war zu geizig, davon mehr anliefern zu lassen, und so gab es nur noch Asche zum Streuen.

      Gewiss, sie hatte Haare auf den Zähnen und fürchtete weder Gott noch den Teufel, doch vor dem Gang in den Keller hatte sie doch einen ziemlichen Bammel. Wie oft hatte sie im Krieg bei Fliegeralarm hier unten gesessen, zitternd, weil sie einen Volltreffer erwartete. Das war jetzt schon drei Jahre her, aber noch


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