Razzia. Horst Bosetzky

Razzia - Horst Bosetzky


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morgen die ganze Welt.

      Jetzt war er Mitglied der LDP, der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. Forsch war sein Auftreten, schneidig seine Sprache.

      Als Karl-Heinz Kappe an seinem Gartentor stand und klingelte, ließ Arthur Schlattke ihn gerne eintreten. Er hielt viel von ihm, und das, obwohl sein Vater wie auch sein Bruder und sein Onkel bei der Kripo arbeiteten. Das war vielleicht mit gewissen Gefahren verbunden, gleichzeitig aber hatte man mit ihm eine Art Spion im feindlichen Lager.

      Er begrüßte Karl-Heinz Kappe im Windfang, ließ ihn dann in der Diele ablegen und führte ihn ins Herrenzimmer, wo sie sich erst einmal eine Lucky Strike ansteckten. Im Ton suchte er eine Mischung von Spieß und väterlichem Freund zu treffen.

      «Nun, mein Lieber, was melden die Buschtrommeln: Wer hat den Rembowski in Pankow aus dem Verkehr gezogen?»

      «Tut mir leid, keine Ahnung …»

      «Und von den Verwandten ist nichts zu erfahren gewesen?»

      «Nee.» Karl-Heinz Kappe zuckte bedauernd mit den Schultern.

      Schlattke fixierte ihn und gab sich inquisitorisch. «Und du schwörst mir, dass du damit nichts zu tun hast, auch nicht mit dem ermordeten Ami in Tempelhof?»

      «Ich schwöre es!» Karl-Heinz Kappe legte die rechte Hand aufs Herz und hob die linke wie zur Eidesleistung.

      «Gut, du hältst aber die Augen offen!»

      «Ja, mache ich.»

      Schlattke rückte nun dichter an ihn heran und sprach ein wenig leiser. «Ich habe nämlich noch einiges mit dir vor und möchte nicht, dass du … Folgendes: Ich werde in den nächsten Wochen an große Ladungen Schokolade herankommen, Cadbury, und jetzt geht es darum, einen Verteilerring aufzubauen …»

      Hermann Kappe war von seinem Sohn Hartmut in einem streng privaten Gespräch von einer abgelegenen Telefonzelle aus gebeten worden, sich auf den schwarzen Märkten in den westlichen Sektoren ein wenig umzuhören, ob es zweckdienliche Hinweise auf den Mörder von Peter Rembowski geben würde. Im Westen zu ermitteln war ihm ja generell von seinen Oberen untersagt.

      «Gut, ich grase mal mit deiner Tante Hertha alles ab, die macht gerade was für den RIAS über den Berliner Schwarzmarkt.»

      Nun war ihm ja Hertha Börnicke nicht gerade ans Herz gewachsen, aber sie hatte zu diesem Thema schon so viele Informationen gesammelt, dass Kappe sich eigenes Recherchieren ersparen konnte. Dass er ein Mensch war, der unnütze Arbeit mied, hatte er nie abgestritten. Also rief er seine Cousine im RIAS an und fragte sie, wo und wann man sich am besten treffen könne.

      Sie lachte. «Sagen wir, morgen früh um zehn an der Uhr am Bahnhof Zoo.»

      Kappe schluckte, bevor er zustimmte, denn dort trafen sich im Allgemeinen nur frischverliebte Paare. Aber nun ja …

      «Wenn du schon in der Gegend bist, kannst du gleich mal deine Mutter besuchen», sagte Klara, als er ihr am Abend von seinem geplanten Treffen mit Hertha Börnicke berichtete. «Du warst jetzt schon zwei Wochen nicht mehr bei ihr, und mir liegt sie deswegen ständig in den Ohren.»

      «Gut, wenn du meinst.» Kappe hatte in seinen langen Ehejahren gelernt, welch hohen Wert die Kunst der Resignation doch hatte.

      Und so stand er am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr bei seiner Mutter auf der Matte, wie er es ausdrückte. Bertha Kappe hatte am östlichen Ende der Pestalozzistraße in der dritten Etage eines Hinterhauses Stube und Küche gemietet und war immer froh und guten Mutes. Sie hatte sich als alte Theaterliebhaberin natürlich Thornton Wilders Wir sind noch einmal davongekommen angesehen, mehrmals sogar, und sich dessen Botschaft zu eigen gemacht. Eine Rezension hatte sie sich aus der Zeitung ausgeschnitten und hinter den Spiegel gesteckt:

      Das Stück führt vor Augen, dass das Böse und das Gute ewige Bestandteile des Lebens sind, und dessen Sinn liegt im Lebendigsein selbst. Das Schicksal der gesamten Menschheit wird am Beispiel einer typischen Durchschnittsfamilie unseres Jahrhunderts gezeigt. Die moderne Allegorie bringt zum Ausdruck, dass der Lebenswille des Menschen alle Katastrophen überdauert.

      Bertha Kappe würde im Sommer 82 Jahre alt werden. «Ich habe drei Kaiser überlebt», sagte sie zu ihrem Sohn, als der bei ihr am Küchentisch Platz genommen hatte, «Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. Ich habe Friedrich Ebert, Paul von Hindenburg und Adolf Hitler überlebt. Was will ich mehr? Nun sitze ich hier in meiner Ehrenloge in der Pestalozzistraße und schaue mir von oben an, was in der Welt so passiert. Und allein bei den Kappes passiert eine ganze Menge. Der eine Enkel ist Kommunist, der andere Schieber und Tunichtgut … Immer, wenn sie wieder einen Schieber umgebracht haben, dann zittere ich und denke: Hoffentlich war der Karl-Heinz nicht dabei!»

      «Und wer ist schuld daran?», fragte Kappe. «Ich natürlich. Meine Erziehung.»

      «Ach Kind, es gibt es viele Ursachen dafür, dass Kinder so sind, wie sie sind.»

      Die Anrede «Kind» ließ Kappe schmunzeln. «Du, ich werde am 11. Februar auch schon sechzig Jahre alt.»

      Seine Mutter lachte. «Mein Kind bleibst du trotzdem. Übrigens sitze ich schon an einem Gedicht für deinen Geburtstag.»

      «Schreck lass nach!», rief Kappe. «Da bekomme ich ja wieder alle meine Sünden zu hören.»

      «Und deine Heldentaten. Vor allem, dass du dir bei Adolf nicht die Finger schmutzig gemacht hast. Darauf kannst du stolz sein.»

      Kappe winkte ab. «Die Verdienstkreuze haben eher die anderen gekriegt. Aber lassen wir das.» Er sah auf ihre große Wanduhr, deren Perpendikel ihn von jeher irritiert und geängstigt hatte, weil er so unerbittlich darauf hinwies, dass die Zeit eines jeden Menschen einmal ablief. «Ich bin um zehn Uhr verabredet – mit Hertha.»

      Die Augen seiner Mutter leuchteten auf. «Was, ihr werdet doch noch ein Paar?»

      Er antwortet barsch: «Wir sind dienstlich verabredet. Sie bereitet eine Reportage für den RIAS vor, über den Schwarzmarkthandel in Berlin, und ich soll mich nach dem Mörder dieses Schiebers in Pankow umhören. Hartmut hat mich drum gebeten, der darf ja hier in den Westsektoren nicht mehr ermitteln.»

      «Gott, ist das eine Welt!»

      «Ja, aber keine Welt wäre auch nicht gut – denn was hätten wir sonst?»

      Hermann Kappe verabschiedete sich mit dieser Bemerkung von geradezu philosophischer Qualität von seiner Mutter, natürlich mit einer herzlichen Umarmung, und strebte in Richtung Bahnhof Zoo. Seine Cousine stand schon wartend unter der großen Uhr. Und tatsächlich küsste Hertha ihn, als sei es ihr erstes Rendezvous. Dabei wurde er in drei Wochen sechzig, und so viel jünger war sie auch nicht, Jahrgang 1893.

      «The main three black market centres in the british sector appear to be Bahnhof Charlottenburg, Bahnhof Zoo and Schlüterstraße», begann Hertha Börnicke. «At Schlüterstraße the crowd consists mostly of Polish, Allied and German nationals, while at Bahnhof Charlottenburg Polish, Yugoslav, Bulgarian and other foreigners predominate.»

      «Nur gut, dass wir nicht im russischen Sektor sind», murmelte Kappe.

      «Ich wollte ja nur andeuten, dass bei vielen Geschäften Displaced Persons ihre Hände im Spiel haben.» Damit waren die Zwangsarbeiter und die Verschleppten der Naziherrschaft gemeint, die aus vielerlei Gründen noch nicht in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren. Sie bekamen größere Lebensmittelrationen und konnten knappe Güter des täglichen Bedarfs leichter erwerben, hatten also mehr zum Tauschen.

      «Was wollen wir denn alles abklappern?», fragte Kappe.

      Hertha Börnicke holte einen Stadtplan aus der Handtasche, auf dem sie die wichtigsten Plätze für Schwarzmarktgeschäfte mit roten Kreisen versehen hatte. Es waren neben den schon erwähnten drei Orten – den Bahnhöfen Zoo und Charlottenburg sowie der Schlüterstraße – die Brunnenstraße, das Areal zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, der Potsdamer Platz, der Alexanderplatz und die Gegend am Schlesischen Tor.

      «Hier am Zoo ist noch nicht viel los», stellte Hertha Börnicke fest.


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