Razzia. Horst Bosetzky

Razzia - Horst Bosetzky


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wusste das und hatte sich eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer in die Schürzentasche gesteckt. Sie zog die Kellertür auf und kramte danach. Um sich Mut zu machen, begann sie wieder zu singen:

      Beim ersten Mal, da tut’s noch weh,

      da meint man noch, dass man es nie verwinden kann.

      Doch mit der Zeit, so peu à peu,

      gewöhnt man sich daran.

      Als sie mit dem Text nicht weiter wusste, pfiff sie nur – zwar nicht so schön wie Ilse Werner, aber immerhin. Endlich hatte sie alles gefunden, das Streichholz flammte auf, die selbstgegossene Kerze brannte, wenn auch nicht gerade hell. Frieda Kopisch machte sich auf den Weg. Links und rechts von ihr lagen die Keller der einzelnen Mieter, die im Grunde nur Bretterverschläge waren, jeder gesichert mit mindestens einem Vorhängeschloss. Die Kiste mit der Asche stand am Ende des Kellers in einer kleinen Nische. Als sie die erreicht hatte, prallte sie zurück, und ihr Schrei hallte hinauf bis ins oberste Stockwerk. «Hier liegt’n Tota! Hier ham se eenen erschlagen! Hülfe!»

      Hartmut Kappe saß am Frühstückstisch und schmierte sich eine Schmalzstulle. Zu Weihnachten hatten sie ein sehr nahrhaftes Paket von seinem Onkel aus Wendisch Rietz erhalten, und noch reichten die Vorräte. Seine Frau war schon in aller Herrgottsfrühe zur Arbeit gegangen. Sie war Schaffnerin bei der Straßenbahn. So konnte er jetzt in aller Ruhe die Berliner Zeitung vom 15. Januar studieren. Obwohl durch und durch ein politischer Mensch, überflog er die erste Seite nur. Westliche Mißklänge. Die Diskussion um den imperialistischen Marshall-Plan der US-Amerikaner kannte er, und auch die anderen Überschriften reizten ihn nicht, sich in die Materie zu vertiefen. Holland pocht auf Eroberungsrecht. Die Kolonialpolitik der Niederlande in Indonesien interessierte in wenig. Trumans «Kriegshaushaltsplan». Dass die Amerikaner Unsummen in die Rüstung steckten, war bekannt. Libyen als USA-Sprungbrett. Man musste kein Prophet sein, um zu erahnen, was sich da global zusammenbraute. Schnell blätterte er weiter und kam zu den Berliner Seiten. US-Soldaten werden gesucht – Hundert Angehörige der Besatzung desertiert. Und nun regten sich die Amis auf, dass sie im sowjetischen Sektor kontrolliert wurden. Evakuierung Berlins schreitet fort. Immer mehr Firmen ließen ihre Betriebsausrüstungen per Schiff in den Westen bringen, auch die Möbeltransporte nahmen zu. Einbruch bei der Polizei. Bei seiner Dienststelle, also bei der Kriminalpolizei in der Dircksenstraße, hatten Einbrecher den Tresor der Asservatenkammer geknackt und Gegenstände von mehreren hunderttausend Mark mitgehen lassen. Sturmschäden verursachten Todesopfer. Der heftige Sturm am Mittwochabend hatte überall Ruinen zusammenfallen lassen, und in der Grünberger Straße hatte eine einstürzende Zimmerdecke eine Frau und ein Kind getötet. Das war tragisch. Eher schmunzeln aber ließ ihn, was in der Rubrik Notizbuch für Hausfrauen zu lesen war: In Kreuzberg gab es 500 Gramm Gemüse- oder Heringssalat für alle Männer über siebzig Jahre, und in Spandau konnte man beim «Amt für Aufbau» bis zum 11. Februar Anträge auf Fensterverglasung einreichen.

      Seine Gedanken schweiften ab, denn am 11. Februar hatte sein Vater Geburtstag, da wurde er sechzig Jahre alt. «Mein Gott!» Er zuckte bei seinem Ausruf unwillkürlich selbst zusammen: Als Kommunist brachte man Gott besser nicht ins Spiel. Er wusste, das waren Überbleibsel bürgerlichen Denkens. Es reichte schon, dass sein Vater Hermann hieß – obwohl man ja bei seiner Geburt im Jahre 1888 kaum an Hermann Göring gedacht haben konnte.

      Ehe er sich auf den Weg in die Dircksenstraße machte, warf er noch schnell einen Blick auf die hinteren Seiten der Zeitung. Raparations-Saboteure. Er stutzte, ehe er bemerkte, dass es sich hier um einen Druckfehler handelte. In Nürnberg standen fünf Angestellte der Chillingworth-Werke vor einem amerikanischen Militärgericht, weil sie in einem geheimen Keller wertvolle Maschinen eingemauert hatten, um sie der Demontage zu entziehen. Schiebungen von Großformat – Rauschgiftschmuggel, weiße Sklaven und Schwarzmarkt auf Interzonenbasis. Ein alter Nazioffizier, Angehörige der US-Armee und die Tochter eines deutschen Großindustriellen hatten sich in Bayern zu einem Schmugglerring zusammengeschlossen. Die deutschen Behörden waren ihm auf die Schliche gekommen, als die tizianrote Königin der Unterwelt ermordet und verstümmelt aufgefunden worden war. Im Westen waren wieder einmal herrliche Zeiten angebrochen!

      Hartmut Kappe beendete seine Zeitungslektüre und machte sich auf zum Dienstantritt. Seit Oktober 1946 war auch die Berliner Polizei in Sektoren aufgeteilt, und die Verfolgung von Straftaten war weithin dezentralisiert, obwohl in der Dircksenstraße noch immer eine zentrale Dienststelle der Kripo existierte. Doch die lag im sowjetischen Sektor, was die Westalliierten mit großem Misstrauen erfüllte, hatten es doch die Kommunisten von Anfang an verstanden, die Leitungsfunktionen der Kripo ausschließlich ihren Leuten zu übertragen. Davon hatte auch Hartmut Kappe profitiert, der in Stalingrad als Leutnant in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und nach dem Besuch einer Antifa-Schule zum Nationalkomitee Freies Deutschland gestoßen war. Paul Markgraf, den amtierenden Berliner Polizeipräsidenten, kannte er seit dieser Zeit persönlich, sehr gut sogar.

      Man hatte Hartmut Kappe und seiner Frau eine Altbauwohnung in der Fruchtstraße zugewiesen, gleich an der Frankfurter Allee. Das hatte ihn sehr gefreut, denn in diesem Kiez hatte er gelebt, bei seinen Eltern noch, ehe er eingezogen worden war. Ein Stückchen weiter hin zum Alexanderplatz war das gewesen, in der Großen Frankfurter Straße, wo jetzt alles in Schutt und Asche lag.

      Er hatte sich vorgenommen, zur Dircksenstraße zu laufen. Als er aber vor die Haustür getreten war, ging gerade ein kräftiger Schneeregenschauer nieder. Bei diesem Sauwetter nahm er doch lieber die U-Bahn. Er rannte zum Bahnhof Memeler Straße. Als er am Alexanderplatz ausstieg, wurde er von einem Kollegen angepflaumt.

      «Na, Genosse Kappe, hart wie Kruppstahl scheinst du aber nicht zu sein, obwohl du vor Stalingrad gekämpft hast!» Es war Erich Mielke, der ihn da angesprochen hatte, der Leiter der Polizeiinspektion Lichtenberg.

      Es entspann sich ein Gespräch über Mielkes Weigerung, ehemalige Polizeiangehörige wiedereinzustellen. «Ich will mir keine neuen Sozialdemokraten ins Haus holen, wir haben schon genug damit zu tun, die alten loszuwerden», erklärte er und warf Hartmut Kappe einen Blick zu, der einer Maßregelung gleichkam. «Dein Vater ist gerade in die SPD eingetreten, habe ich gehört?»

      Hartmut Kappe senkte den Blick. «Ich habe in nächtelangen Gesprächen versucht, ihn davon abzubringen, aber vergeblich. Bitte lasten Sie es mir nicht an, dass er nun bei den Speichelleckern des Kapitalismus gelandet ist.»

      Im Büro angekommen, wurde Hartmut Kappe schon von seinem engsten Mitarbeiter erwartet, dem Kriminalhauptwachtmeister Heinz Rösler, einem alten Spanienkämpfer, der ein wenig an Ernst Busch erinnerte, zumal wenn er sang: Wir sind die Moorsoldaten / Und ziehen mit dem Spaten ins Moor.

      «Mord in Pankow», meldete Rösler, «Wolfshagener Straße. Die Hauswartsfrau hat einen gewissen Peter Rembowski tot im Keller aufgefunden.»

      «Dann auf in den hohen Norden!»

      Das alte Gennat’sche Mordauto gab es nicht mehr, aber wenigstens stand ihnen für ihre dienstlichen Zwecke ein betagter Mercedes zur Verfügung. Zwar mussten die beiden hinteren Türen mit einem Bindfaden verschlossen werden, aber immerhin. Die Trümmerwüste des Alexanderplatzes war schnell passiert, dann ging es die Prenzlauer Allee hinauf. Sie kamen über die Danziger Straße zur Schönhauser Allee und fuhren auf der Berliner Straße weiter nach Pankow. Die Wolfshagener Straße zog sich gleich hinter der Pfarrkirche Zu den vier Evangelisten, die auf dem Dorfanger in der Breite Straße hoch aufragte, in nordöstlicher Richtung durch ein Wohngebiet, das man als gutbürgerlich bezeichnen konnte. Die Kollegen vom örtlichen Revier, die schon alles abgesperrt und organisiert hatten, führten die beiden zum Fundort der Leiche.

      Hartmut Kappe holte erste Informationen ein. Der Mann war ganz offensichtlich durch einen Schlag mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf getötet worden.

      «Wahrscheinlich hat der Täter einen Hammer oder die stumpfe Seite eines Beiles benutzt», erklärte ihm der Kriminaltechniker, ein alter Hase seiner Zunft und Akademiker.

      «Ist der Fundort der Leiche auch der Tatort?», fragte Rösler so schematisch und ein wenig naiv, wie man es ihm im Schnellkurs für Berufsanfänger beigebracht hatte.

      «Das ist doch ganz offensichtlich.» Der Kriminaltechniker gab sich


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