Gott hat viele Fahrräder. Richard Fuchs
es sinnvoll sein, ein paar Zeilen über mein Leben zu schreiben, das über die eigene Familie hinaus vielleicht sogar auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren könnte? Wer je den preisgekrönten Film Das weiße Band von Michael Hanecke gesehen hat, wird ahnen, dass ein Leben nicht nur in einem evangelischen Pfarrhaus, sondern erst recht in einer evangelikalen Familie anders sein kann als in einer weltoffenen liberalen Familie. In einer solchen Familie mit strengen Regeln, Mutterliebe und Mutterhieben wuchs ich auf. Mein Vater, ein Prediger, zählte wie auch andere Geistliche zum Bodenpersonal Gottes und glaubte, dessen Weisungen für viele Lebensbereiche zu kennen. Die wurden uns verzehrfertig, mehr oder weniger gut verdaulich serviert. Vater hatte biblisch begründet eindeutige Erziehungs- und Lebenskonzepte und war damit unser Maßstab – unhinterfragt und unwidersprochen. Informationen zu dem, was wir durften oder unterließen, speisten sich fortan aus der von Gott inspirierten Normenquelle der Bibel. Zweifel an Vaters Deutungs- und Meinungshoheit hatten wir nicht. Wer sollte schon dem Wort Gottes und dem seines Interpreten widersprechen?
Unsere Eltern Gretchen Fuchs, geb. Schwarz, und Friedrich Ferdinand Fuchs, 1928
Wenn ich es heute als Erwachsener dennoch wage, kritisch, wahrheitsgetreu, aber subjektiv meine Erlebnisse aus der Sicht des Kindes zu thematisieren, ist es unumgänglich, auch ein Stück der Geschichte meiner Eltern und deren Erziehungsmethoden zu beschreiben und, wie sie selbst erzogen wurden. Bei der Retrospektive geht es mir weder um eine Anklage gegenüber meinen Eltern noch um eine Verherrlichung, sondern um Erinnerung an meine Gefühle von damals und um meine heutige Sicht der Vergangenheit.
Das Buch soll aber mehr sein als ein Stück Religionsgeschichte, sondern auch Kultur-, Regional- und Zeitgeschichte. Deshalb ist ein Blick auf die Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre meiner Kindheit ebenso von Bedeutung. Abgesehen von den selbst erlebten und erlittenen Kriegsereignissen, interessiert mich heute ein spezielles Thema jener Zeit: Eugenik und Rassenhygiene wie auch deren Entstehungsgeschichte. Ich schrieb ein Buch darüber1 und stellte fest, dass jede Art von Ethnozentrismus, Lebenswert/-unwert-Kriterium und Diskussion, aber auch ein Alleinstellungsanspruch der großen monotheistischen Religionen, Konfessionen wie auch deren Untergruppierungen zu Ausgrenzung anderer führen können, wenn nicht sogar zu unausgesprochener oder offener Feindschaft. Ab- und Ausgrenzungen waren auch meinen evangelikalen Herkunftsgemeinden und meiner Familie nicht fremd. Wir waren anders als die meisten und pflegten unsere Exklusivität.
Bei allen, zum Teil auch den Zeitumständen geschuldeten, Belastungen und einer strengen Erziehung habe ich andererseits meinen Eltern wie auch meinen Geschwistern zu danken – im Übrigen auch den vielen Tanten und Onkeln des großen Clans der Familie Schwarz im Siegerland – für ihre Fürsorge, ihre Verlässlichkeit und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Ohne diese Erziehung wäre ich vielleicht nicht das geworden, was ich trotz ungünstiger Startbedingungen zu meinem eigenen Erstaunen doch noch geworden bin. Das mag dem Umstand zuzuschreiben sein, dass es sinnvoll ist, mit zunächst strengen Regeln aufzuwachsen, um sich dann teilweise davon zu verabschieden – ohne jedoch das Kind mit dem Bade auszuschütten. Mangels Doppelblindversuch bleibt das allerdings nur graue Theorie, denn eine tolerante Erziehung, die Fehler verzeiht, habe ich nicht genießen können.
Die eigene Erziehung kann nicht losgelöst von dem beschrieben werden, was unsere Eltern erlebt haben, in welchem Zeitgeist sie selbst erzogen worden sind und was sie an uns weitergegeben haben. Während wir Kinder nur einen Weltkrieg und eine Nachkriegszeit ertragen mussten, erlebten und erlitten unsere Eltern den Ersten Weltkrieg, die Turbulenzen der Zeit zwischen den beiden Kriegen, Inflation, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Randale und Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, das Dritte Reich, den Krieg und die Bombenangriffe, Existenzvernichtung und schließlich die karge Nachkriegszeit. Sie mussten ihre Existenz, ihren Alltag bewältigen und sieben Kinder großziehen in Zeiten und unter Bedingungen, von denen sich Nachgeborene keine Vorstellung mehr machen können: enge Wohnungen, keine Zentral-, nur Ofenheizung, kein Bad, WC im Treppenhaus oder später im Dorf sogar auf dem Hof, bei Eiseskälte, keine Waschmaschine, geschweige denn Spül- oder Küchenmaschinen, kein fließend heißes Wasser, keine Krankenkasse und auch sonst knappe Kasse. Luxusgüter wie Radio, TV oder Telefon, Handy, Computer, bequeme Sessel oder Sofas gab es ohnehin nicht. Doch – in den fünfziger Jahren hatten wir ein Radio, das aber nur auf Kurzwelle zu bestimmten Zeiten eingeschaltet wurde, um auf den Sendern Monte Carlo oder Luxemburg Evangeliums-Rundfunk zu hören. Was auf anderen Sendern zu hören gewesen wäre, weltliche Nachrichten oder gar Musik, war tabu.
Das vorliegende Buch, „Gott hat viele Fahrräder“ – ein Originalzitat meines Vaters –, bietet ein breites Spektrum an Kindheitsgeschichten, spezieller Religionsgeschichte, Regionalgeschichte, Zeitgeschichte plus Randbemerkungen und Kulturgeschichte, ungewohnte Einblicke in eine Welt, die den meisten Menschen verborgen ist. Schließlich beschreibt das Buch den langen, aber gelungenen Weg einer Emanzipation zu einem selbstbestimmten, glücklichen und auch erfolgreichen Leben, der anderen Mut machen könnte, erste Schritte zur Individuation zu unternehmen.
Die älteste Schwester Magdalene, die fleißigste Chronistin
Auch alle meine Geschwister sind erfolgreich durchs Leben gegangen – keine Selbstverständlichkeit nach dem schwierigen Start. Das wohltuende Zusammengehörigkeitsgefühl unter uns Geschwistern und der Austausch über die gemeinsame Vergangenheit sind bis heute geblieben. Dafür bin ich dankbar.
Wenn ich heute, mehr als sechzig Jahre später, aus der winterlichen Kälte in unsere rundherum zentralbeheizte Wohnung mit alten, dicken Mauern trete, tun und lassen kann, was ich will, überkommt mich auch dafür immer noch ein dankbar wohliges Gefühl. Das ist der Vorteil einer kargen Kindheit, dass ich heute alles, was mir geschenkt wurde und wir erarbeitet haben, dauerhaft, täglich und sehr bewusst genieße.
Richard Fuchs, Düsseldorf 2014
Familie Fuchs 1938, die Jüngste fehlt noch. Mutter mit kleinem Richard auf dem Arm. Kinder v. l. n. r.: Ferdinand, Magdalene, Mathilde, Gustel, Gretel.
Prolog
Am Sonntag um 10:15 Uhr am 18. April 1937
erblickte unser kleiner Richard
unter Gottes Beistand das Licht der Welt.
Mutter und Kind geht es gut.
Gretchen Fuchs (geb. Schwarz), Friedrich Ferdinand Fuchs.
Vaters handgeschriebene Geburtsanzeige, Siegen, An der Alche 21
1937, als ich in Siegen/Westfalen geboren wurde, war die Welt nicht in Ordnung, sondern bestimmt von Ausgrenzungen, sei es religiöser, ideologischer oder politischer Art, durch Bewertung von Menschen nach Wert und Unwert, nach Rasse, körperlicher Disposition und gesellschaftlicher Herkunft. 1934 – also drei Jahre vor meiner Geburt – begann man bereits mit Zwangssterilisation von Erbkranken im Stadtkrankenhaus Siegen. 1935 kam es gegen vierzehn Zeugen Jehovas vor dem Sondergericht Dortmund in Siegen zu einem Prozess. Jüdische Händler wurden vom Krombacher Viehmarkt ausgeschlossen. Eine Wanderausstellung in Berleburg und Laasphe zu Rassenbiologie und Erbhygiene stellte 1936 jüdische und zigeunerische Familien erbarmungslos bloß. Wittgensteiner Zigeuner und Zigeunermischlinge wurden 1937 durch eine Arbeitsgruppe der Rassenhygienischen und Bevölkerungspolitischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt rassenbiologisch erfasst.
1937 beschloss man die illegale Sterilisation aller farbigen deutschen Kinder, der sogenannten Rheinlandbastarde, und setzte sie in einer Nacht- und Nebelaktion um, obwohl diese Kinder laut Erbgesundheitsgesetz nicht hätten sterilisiert werden dürfen. Nach einem Besuch in Deutschland sagte der schwedische Pfarrer M. Liljeblad bereits 1919: „Diese Bastarde werden in Zukunft ein Fluch für ganz