Gott hat viele Fahrräder. Richard Fuchs

Gott hat viele Fahrräder - Richard Fuchs


Скачать книгу
es sich um Nachkommen aus der Verbindung von deutschen Frauen und farbigen Besatzern der französischen Armee nach dem Ersten Weltkrieg.

      Am 28. April 1937 überraschte ein Zeitungsartikel die Christen meiner Herkunftsgemeinde unter der Überschrift Verbotene Sekten mit der Mitteilung, dass durch Anordnung des Reichsführers SS und Chefs der Polizei die Gemeinden mit sofortiger Wirkung im gesamten Reichsgebiet aufgelöst und verboten seien. 1938 kam es zu Verhaftungen und KZ-Einweisungen einer nicht genannten Zahl von Siegerländern und Wittgensteinern im Zuge der Aktion gegen Volksschädlinge und Arbeitsscheue in Buchenwald und Dachau. Im selben Jahr brannte die Siegener Synagoge – vor den Augen aller. Männliche Mitglieder der regionalen jüdischen Gemeinde im Alter von vierzehn bis siebzig wurden in das KZ Sachsenhausen deportiert.3 1938 standen die Zeichen bereits auf Krieg. Im selben Jahr rückte unser Vater zu einer ersten Wehrübung aus, der mit Kriegsbeginn 1939 eine weitere folgte. Nun war er einfacher Soldat, was ihn schon im Ersten Weltkrieg nicht begeistert hatte.

      Rassenhygiene und Ahnenforschung hatten im Dritten Reich Hochkonjunktur. Jeder deutsche Staatsbürger verpflichtete sich, einen Arier-Nachweis zu führen. Arier, eine nicht einfach zu identifizierende Rasse, sollten erhalten bleiben und vermehrt werden; Arier waren privilegiert, andere nicht. Die Ironie der Geschichte: Speziell die Führungselite des Dritten Reiches, Hitler, Goebbels und Göring etc., entsprach nicht prototypisch dem Bild des reinrassigen Ariers. Der Rassenhygieniker/Eugeniker Prof. Dr. Max von Gruber (1853–1927) urteilte 1923 in einem Gutachten über Adolf Hitler: „Gesicht und Kopf schlechte Rasse.“ Dennoch verfügte Hitler: Juden oder Zigeuner und auch Rassenmischungen mit Juden seien nicht nur unerwünscht, sondern sollten verfolgt werden. Juden liefen – wie die furchtbare Geschichte des Dritten Reiches zeigt – Gefahr, ermordet zu werden. Die Pseudowissenschaft Eugenik/Rassenhygiene – lange vor 1933 von der akademischen Elite im angelsächsischen Raum vorgedacht, in den USA, Europa, auch in Deutschland verbreitet – ging von der längst widerlegten These aus, der Mensch sei mit seinen Eigenschaften und Fähigkeiten im Wesentlichen das Produkt seiner ererbten Gene.

      Anders als damals besteht mein heutiges Interesse an der in Verruf geratenen Ahnenforschung lediglich darin, zu wissen, was unsere Vorfahren den nachfolgenden Generationen weltanschaulich und religiös an Erziehungsmodellen vermittelt haben. In diesem Zusammenhang kann autobiografisches Schreiben Fragen beantworten wie: Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Was habe ich von meinen Eltern gelernt, was von einer strengen christlichen Erziehung übernommen, was kritisch hinterfragt und korrigiert, zum Beispiel im Verhalten den eigenen Kindern gegenüber? In welchen Zeiten und mit welchem Zeitgeist bin ich erzogen worden, in welcher Gesellschaft und mit welcher religiösen (früh-)kindlichen Indoktrination?

      Kinder hatten damals bedingungslos zu gehorchen und wurden mit dem Ziel erzogen, schließlich so zu werden wie die Eltern – eine Art Selbstverdoppelung. Das setzt zunächst ein ungetrübtes Selbstbewusstsein der Erwachsenen voraus, überspitzt gesagt: Hybris. Denn woher sollen Eltern wissen, welche Persönlichkeit in ihrem Kind schlummert, die geweckt werden könnte oder aber durch falsche Erziehung unterdrückt wird? Warum gibt es nicht eine Alternative zu dem Gebot: Ehre deinen Vater und deine Mutter, in der es heißen könnte: Ehret die Kinder! Jesus, unser Vorbild, zum Beispiel wurde von seinen Eltern sehr geehrt und geachtet.

      Abgesehen von biblisch empfohlenen Erziehungsanweisungen unterschied sich christliche Erziehung wenig von der gesellschaftlich allgemein verbreiten Erziehung des 19. und 20. Jahrhunderts. Erziehungsbücher, wie die des deutschen Arztes Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808–1861), leisteten in Sachen Schwarzer Pädagogik ganze Arbeit. Seine Bücher mit den grausamen Erziehungsvorschlägen erreichten mit über vierzig Auflagen eine große Verbreitung. Die zum Erreichen des Gehorsams empfohlenen Schläge, wie sie auch die Bibel empfiehlt, konditionierten die Kinder so nachhaltig, dass sie im Erwachsenenalter dieselbe Art der Erziehung an ihren Nachwuchs weitergaben. Bis schließlich Generationen später die so dressierten Kinder als Erwachsene zu willigen Helfern Hitlers wurden. Obwohl Jean-Jacques Rousseau schon vor 300 Jahren mit seinem Erziehungsratgeber Emile das Kind als eigenes Wesen entdeckte, hatte sich diese Erkenntnis noch nicht in allen Gesellschaftsschichten herumgesprochen. Rousseau selbst wurde allerdings seinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Er setzte seine eigenen fünf Kinder mit dem Argument im Findelhaus aus, sie würden sonst seine Karriere belasten.

      Meine Familie und auch deren Vorfahren gehörten zu einer exklusiven christlichen Glaubensrichtung, die heute unter dem Namen Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde firmiert, früher auch unter Brüderbewegung (Elberfelder Brüder), Darbysten oder Christliche Versammlung, einer Bewegung, die im 19. Jahrhundert in England unter dem Reformer John Nelson Darby (1800–1882) seinen Ausgang nahm. Darby war Aristokrat, Jurist und vormals Priester der anglikanischen Kirche, bevor er dem Pomp der Hochkirche abschwor, sich dem vertieften Bibelstudium widmete und schließlich der geistige Führer und Kopf der Brüderbewegung wurde. Anfangs und im kleinen Kreis traf man sich privat, doch mit zunehmender Mitgliederzahl entstanden Versammlungsräume, oftmals in Hinterhöfen. Im Dritten Reich waren die Gemeinden vorübergehend verboten und ihre Vermögen beschlagnahmt, weil sie mangels straffer Organisation nicht dem Führerprinzip entsprachen und nur schlecht zu kontrollieren waren. In einer Verordnung des Reichsführers der SS hieß es, die Darbysten seien im gesamten Reichsgebiet aufgelöst und verboten, da sie jegliche positive Einstellung zu Volk und Staat verneinten. Als die christlichen Gemeinden unter bestimmten Bedingungen im Bund freikirchlicher Christen (BfC) wieder zugelassen wurden, erklärte ein Teil der Mitglieder sich mit den von oben verordneten Bedingungen nicht einverstanden. Sie sonderten sich ab, gingen in den Untergrund und riskierten sogar Gefängnisstrafen, wenn sie sich trotzdem „unter dem Wort Gottes“ versammelten. 1941/42 kam es zu einem Zusammenschluss zwischen dem BfC und den Baptisten unter der Bezeichnung Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.

      Der Schock des überraschenden Verbots 1937 hielt die christlichen Brüder allerdings nicht davon ab, in aller Naivität für den „Führer, den wir ja alle so lieben“4, zu beten. Dass für den Führer und seine willigen Helfer gebetet wurde, war nicht außergewöhnlich, denn das forderte sogar die Bibel und die musste man in diesen Kreisen wörtlich nehmen. Sie mahnt, für alle zu beten, „die in Hoheit sind“5. Peinlich war nur, dass damals für einen Kriegsverbrecher gebetet wurde, wie später auch in den USA unter anderem für George W. Bush. Wer aber ein offizielles Schuldbekenntnis der Brüder nach 1945 – wie etwa das der evangelischen Kirche – erwartet hatte, sah sich getäuscht. Kein NSDAP-Mitglied wurde später von den Gemeinden ausgeschlossen.6

      Kennzeichnend für diese Art der evangelikalen Theologie und Frömmigkeit sind die Zugangsrituale, wie Wiedergeburt durch Bekehrung, persönliche Glaubenserfahrung, Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit und schließlich die Erwachsenentaufe. Wer wie ich in einer Familie mit strengem Verhaltenskodex, täglichen Gebeten und Bibellesungen aufgewachsen ist und einer Erwartungshaltung von Seiten der Eltern, sich bereits im Kindesalter zu bekehren, weiß nicht unbedingt, was das bedeutet. Um sicherzugehen, habe ich mich als Kind gleich zweimal bekehrt und wurde von meinem Vater als Halbwüchsiger in einer Badewanne getauft – nicht etwa mit ein paar Spritzern auf den Kopf, wie es bei Babys am kirchlichen Taufbecken geschieht, sondern mit Haut und Haaren ganz unter Wasser, wie es die Bibel lehrt. Die Taufe, in biblischen Zeiten von Johannes dem Täufer am Jordan eingeführt, war ein Novum. Johannes wies damit einen neuen Weg, sich von Sünden reinzuwaschen. Als Jesus von Johannes getauft wurde, hatte er ein ekstatisches Erlebnis. Es wird allerdings nirgends berichtet, dass Jesus selbst von dem magischen Ritus Gebrauch machte, indem er jemanden taufte, obwohl sich der See Genezareth als Arbeitsstätte dazu angeboten hätte. Überliefert ist jedoch, dass Jesus in seiner Abschiedsrede, bevor er emporgehoben in einer Wolke den Blicken seiner Anhänger entschwand, versprach: „Johannes taufte zwar mit Wasser, ihr aber werdet mit Heiligem Geiste getauft werden“7, was zu Pfingsten dann auch geschah.

      Eine mir eng vertraute Person bekannte im hohen Alter, sie habe sich im Alter von neun Jahren zwar bekehrt, aber erst als Siebzehnjährige Heilsgewissheit erlangt. Das erklärt, wie schwierig es für Kinder ist, sich für die Nachfolge Jesu – wie es heißt – zu entscheiden. Eine Bekehrung beziehungsweise Umkehr setzt ja zunächst die Erkenntnis voraus, dass ich nicht so bin, wie ich eigentlich sein


Скачать книгу