Gott hat viele Fahrräder. Richard Fuchs

Gott hat viele Fahrräder - Richard Fuchs


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es sei eigentlich in Ordnung, muss das Bedürfnis, sich bekehren zu sollen, einen anderen Weg einzuschlagen, durch Erwachsene zunächst künstlich geweckt werden. Man möge mir den folgenden banalen Vergleich verzeihen: Ich war Jahrzehnte in der Werbung tätig. Da gab es Produkte und Dienstleistungen, für die ein Bedarf erst künstlich geweckt werden musste, und zwar durch einen hohen Aufwand an Werbung, damit die Konsumenten von dem Angebot Gebrauch machten. Auf die christlichen Zugangsrituale übertragen, bedeutet das, Kindern muss zunächst ein Schuldbewusstsein implantiert/suggeriert werden, damit die Bereitschaft entsteht, sich zu bekehren.

      Ich fragte mich später: Bedeutet Bekehrung, die Ethik, die Jesus lehrte, zu verinnerlichen und danach zu leben, damit eine bessere Welt entsteht, oder im Erwachsenenalter seinem Vorbild folgend zunächst Vater und Mutter zu verlassen, den Tischlerberuf im väterlichen Betrieb an den Nagel zu hängen, Jünger zu animieren, es ihm gleichzutun, um dann bedürfnislos, von Almosen lebend, predigend auf Wanderschaft zu gehen? Die Geschichte, in der die Jünger ihr gewohntes Leben, wie etwa die familiären Verpflichtungen, fristlos und gänzlich aufgaben, um Jesus zu folgen, spiegelt einerseits die Labilität des Charakters solcher Schüler wider, andererseits die Sogwirkung, die von dem charismatischen Lehrer ausging.

      Einer, der es Jesus gleichtun wollte – allerdings unter Verzicht einer Schar von Jüngern, aber mit Unterstützung seiner familiären Fan-Gemeinde – war mein Vater, nachdem 1945 seine Existenz als Inhaber eines Schreibwarengeschäfts in Siegen durch Bomben vernichtet war und eine krankheitsbedingte Kündigung ein Intermezzo in einem ihm fremden Beruf beendete. Ab 1949 fühlte er sich berufen, wie Jesus predigend auf Wanderschaft zu gehen. Er war einerseits Prediger in der örtlichen Gemeinde, jetzt im tiefen Westerwald, andererseits Reisebruder, so die offizielle Berufsbezeichnung dieser Freiberufler. Im ersten Fall zum Nulltarif, als Reiseprediger mit einem mäßigen, ungeregelten Einkommen. Das Einstandskapital war die Bibel, die Finanzierung der neunköpfigen Familie von nun an ungewiss.

      Nicht erst jetzt waren wir arm. Obwohl ich mir dafür nichts kaufen konnte, war ich aber mit gewissem Stolz The Son of a Preacher Man, wie es 1968 in dem Song von Dusty Springfield heißt. Das verpflichtete zum Wohlverhalten. Jeder Fehltritt seiner sieben Kinder hätte dem Prediger einen Image-Schaden zufügen können, wie etwa die Heirat mit einem Partner einer anderen Glaubensrichtung. Der lange Arm der strengen Erziehung reichte wirkmächtig auch noch bis in die Ferne, als die Kinder weit weg in anderen Städten wohnten und arbeiteten. Gefordert wurde außerdem, vor jeder richtungweisenden Entscheidung zu beten. Da auf direktem Wege keine Weisung von oben einzuholen war, mussten sogenannte Zeichen Antwort geben – mit anderen Worten, eine Art Wink des Himmels.

      Von dem für mein Lebensgefühl zu eng gewordenen Gemeindeleben habe ich mich später, im Alter von 28 Jahren, emanzipiert. Was ich gewonnen habe? Eine neue innere und zeitliche Freiheit und die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit elterlichen und geistlichen Instanzen wie deren Lehren. Was mir bleibt, ist das Bewusstsein für eine christliche Ethik der Nächstenliebe, die Anders- oder Nichtgläubige nicht ausgrenzt, nicht missioniert, auch nicht ungefragt bedrängt. Das tat Jesus auch nicht. Er half denen, die freiwillig zu ihm kamen und ihn um Hilfe baten. Er lehrte Gewaltfreiheit und Nächstenliebe, kümmerte sich um Menschen am Rande der Gesellschaft. Man könnte auch sagen: Er war ein Mann in schlechter Gesellschaft, mit Zöllnern und Sündern ohne Berührungsängste. Im Gegensatz dazu haben es Christen jeder Konfession oder Glaubensrichtung immer wieder verstanden, sich abzugrenzen, auf Andersgläubige oder Ungläubige herabzusehen. Bei dem Bemühen, den biblischen Missionsauftrag zu erfüllen, spielen Vokabeln wie du sollst oder wenn du nicht, dann droht oftmals eine entscheidende Rolle.

      So sehr der Glaube orientierungsstiftend, lebensspendend und befreiend ursprünglich gedacht war und heute auch noch sein kann, so sehr kann Religion auch destruktiv sein. Sie kann missbraucht werden zur Ausübung von Autorität, Macht, Druck (Gruppendruck) und Gewalt. Die Geschichte des Christentums ist außer allem Positiven auch eine Geschichte der Abspaltung, der Verfolgung und Verteufelung.8 Speziell fundamentalistische Christen haben eine „besonders große Neigung, menschliches Verhalten durch Strafe und Gewalt zu kontrollieren und Konflikte autoritär zu lösen. Sie werten Zwang, Gewalt und deren rechtfertigende Autorität positiv.“9 Das Drehbuch dafür liefert die Bibel in gewissem Umfang selbst mit vielen Beispielen von Gewalt. Was im ungünstigsten Fall für die davon Betroffenen bleibt, sind Zweifel, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle, Unfreiheit und Abhängigkeit, bis hin zu Neurosen. Wer kann schon ein Selbstbewusstsein entwickeln, der mit der sogenannten Erbsünde geboren sein soll? Nach meinem Verständnis kann man eher von Erbsünde sprechen, wenn ein destruktives Verhalten der elterlichen Gewalt – das heißt Züchtigung – von Generation zu Generation weitergegeben wird.

       Gott hat viele Fahrräder

       Und mögen die Alten auch schelten,

       So laßt sie nur toben und schrei’n,

       Und stemmen sich gegen uns Welten,

       Wir werden doch Sieger sein.

       Wir werden weiter marschieren,

       Wenn alles in Scherben fällt;

       Denn heute da hört uns Deutschland

       Und morgen die ganze Welt.

      Text aus dem Jahr 1932 von Hans Baumann (1914–1988), Sohn eines Berufssoldaten, seit 1933 NSDAP-Mitglied und Jungvolkführer. Ab 1934 zählte das Lied Es zittern die morschen Knochen zum Standardrepertoire der NSDAP, SA und Hitlerjugend.

      Um es gleich vorwegzunehmen: Der Titel des Buches Gott hat viele Fahrräder entspringt nicht dem Hirn eines Kreativen nach einer fiebrigen Nacht, sondern ist ein wörtlich und auch ernst zu nehmendes Zitat aus dem Munde meines Vaters, wie am Ende dieses Kapitels zu lesen ist.

      Mein Vater Friedrich Ferdinand Fuchs (1898–1977), verheiratet mit seiner Frau Gretchen, geborene Schwarz (1905–1971), Vater von sieben Kindern, Inhaber eines kleinen Schreibwarengeschäftes in der vor dem Krieg so wunderschönen Kleinstadt Siegen/Westfalen, war ein rechtschaffener, gottesfürchtiger Mann, Mitglied der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde, auch Brüdergemeinde genannt. 1928 heiratete er seine um sieben Jahre jüngere Frau. 1933 zog die junge Familie aus dem Ruhrgebiet nach Siegen. Kurz vor Ende des Krieges 1945 rückte unser Vater noch einmal aus – unfreiwillig –, um in sprichwörtlich letzter Minute den Feind, der bereits bis tief ins Ruhrgebiet vorgerückt war, aufzuhalten oder ihn sogar zu besiegen. Vater war 47 Jahre alt. Lust auf das letzte Gefecht verspürte er nicht, wie er auch generell keine Neigung verspürte, als Soldat zu dienen.

       Vater im Alter von siebzehn Jahren im Ersten Weltkrieg

      Bereits im Ersten Weltkrieg war er als Siebzehnjähriger zur Front in die Vogesen abkommandiert worden. Bis auf ein paar Wehrübungen und Ersatzdienste hatte er sich im Zweiten Weltkrieg dem Wehrdienst – Gott sei Dank – weitestgehend entziehen können. Darüber freuten sich Gretchen, seine Ehefrau, und natürlich auch wir Kinder. Als er eingezogen werden sollte, verwies er auf seinen Kinderreichtum, sieben an der Zahl. Es würde teuer werden für den Staat, wenn er fiele, so die verharmlosende Bezeichnung für den Tod im Gefecht an der Front. Dennoch musste Vater – wie viele andere ältere und junge Männer auch – ganz am Ende des Krieges zum Deutschen Volkssturm ausrücken, obwohl nichts mehr zu retten war.

      Zunächst sammelten sich die Siegener Männer und halbwüchsigen Jugendlichen in dem kleinen Dorf Alchen, unweit von Siegen. Dann galt es für Vater und seine Mitstreiter, den Feind im Sauerland aufzuhalten.

      Ein Führererlass vom 25.09.1944 sah vor, alle noch in der Heimat verbliebenen Männer im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren zur Verteidigung des Heimatbodens einzuziehen. Betroffen waren insgesamt sechs Millionen Männer, die bisher aus Altersgründen oder aus beruflichen Gründen verschont geblieben oder noch zu jung waren.


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