Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner


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ich nicht aufhören, an ihn zu denken. Doch jetzt gerade empfand mein Geist so etwas wie einen kleinen Urlaub von den quälenden Erinnerungen.

      Ich bekam Lust, Ben zu sehen und ihm Bericht zu erstatten. Die Sache im Park, beschloss ich, allerdings vorerst auszulassen. Im Moment erschien mir alles so weit weg und wie ein Traum, jetzt, da ich wieder in meiner vertrauten Umgebung war.

      Für den Rückweg nahm ich den alten, nicht mehr als sicher gekennzeichneten Wanderweg direkt an der Klippe entlang, um das sich anbahnende Schauspiel am Himmel noch ein wenig zu beobachten. An manchen Stellen, wo die Pflanzen sich ihren Raum zurückerobert hatten, war er sehr eng, nur noch ein schmaler Pfad, übersäht mit Pfützen von vergangenen Regengüssen, über die ich hüpfte. Nach einer Weile wurde der Weg wieder breiter, es gab kaum noch dichtes Buschwerk auf der Wasserseite und schließlich hatte ich den freien Blick auf das Meer.

      Aus der Ferne rollten fast bedrohlich aussehende dunkelgraue Wolken heran. Es war eine sonderbare Formation, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Wie Millionen kleine, fast schwarze Wattebäuschchen. Die Dreidimensionalität wurde durch die hellgrauen Ränder sehr deutlich ausgeprägt. Fasziniert beobachtete ich, wie sie mit dem auffrischenden Wind immer schneller landeinwärts drängten. Ein breiter blauer Streifen war noch wolkenfrei. Daraus lugte die Sonne hervor und beleuchtete die bunten Segel von vier Windsurfern, die weiter draußen, über die Gischtkronen springend, hin und her fegten und sich von dem kabbeligen, schwarzen Wasser abhoben wie Leuchtkörper.

      Ich war so vertieft in diesen Anblick, dass ich nicht merkte, wie ich der Kante der Steilküste zu nah kam. Plötzlich brach ein Stück unter mir ab und ich rutschte mit den Armen rudernd mit der Abbruchkante nach unten. Selbst der Schrei war mir in der Kehle stecken geblieben, so schnell ging alles. Bevor ich meine sich überschlagenden Gedanken, ob ich den tiefen Sturz überstehen konnte oder unten auf einen großen Steinbrocken knallen würde, richtig greifen konnte, geriet mein Körper plötzlich zwischen die harten, glitschigen Wurzelstränge eines Baumes und wurde in einer sanften Kurve zur Seite umgelenkt. Ich wurde auf einen mit Gräsern bewachsenen Vorsprung gespuckt, der wie eine kleine Terrasse an der Kliffwand saß. Ächzend klatschte ich auf den durchweichten Untergrund.

      Ich fühlte mich wie ein an Land gespülter Fisch, hatte den Mund weit geöffnet, japste und bekam kaum Luft. Eine ganze Weile blieb ich wie versteinert liegen und starrte auf die von Wind und Wetter freigelegten, feucht glänzenden Baumwurzeln, die fast parallel angeordnet im Bogen auf mich zuliefen wie Schienen einer Achterbahn. Was für ein unglaublicher und glücklicher Zufall.

      »Danke, danke, danke«, schickte ich seufzend in die Dämmerung hinaus. Als würde der Wind mit einem Flüstern antworten, zischte er durch meine Haare und verwirbelte sie.

      Nachdem mein Puls eine Frequenz erreicht hatte, die wieder eine Bewegung zuließ, strich ich meine Haare zurück und begann vorsichtig zu überprüfen, ob alle meine Gliedmaßen einwandfrei funktionierten. Meine rechte Schulter und meine Rippen schmerzten. Ich wollte meine brennende Haut begutachten und schob den Pulli weit nach oben. An beiden Seiten meines Körpers entdeckte ich Rötungen und leichtere Abschürfungen. Schmerzvoll stöhnte ich auf, als ich sie berührte. Trotzdem, mir war bewusst, was für ein sagenhaftes Glück ich gehabt hatte. Unfälle dieser Art hatte es hier immer mal wieder gegeben und sie waren meistens nicht so glimpflich ausgegangen.

      Ich schaute mich um. Die kleine Landscholle, auf der ich saß, musste vor längerer Zeit abgerutscht sein und war etwa auf dem oberen Drittel der Steilküste stecken geblieben. Mit einem kritischen Blick nach oben schätzte ich die Entfernung zur Kliffkante ein. Wenn ich mich nicht allzu blöd anstellte, müsste ich es schaffen, mich an den Wurzeln wieder nach oben zu ziehen. Der Vorsprung unter mir gab mir etwas Sicherheit, ich könnte immer nur auf ihn zurückstürzen.

      Die Wurzeln waren feucht und meine Hände glitten immer wieder ab, sodass ich sie um meine Hände schlang, wo sie sich tief in die Haut bohrten. Es war mühsam und schmerzhaft, aber Stück für Stück arbeitete ich mich nach oben, immer wieder mit den Füßen im aufgeweichten Sand nach steinigem oder pflanzlichem Halt suchend.

      Als ich die Kante oben erreichte und sorgfältig prüfte, ob sie mich halten würde, schwang ich mit einer letzten Anstrengung meine Beine nach oben und rollte mich schnell ein weites Stück von ihr weg. Mein Atem ging schwer und keuchend, als hätte ich einen Marathon hinter mich gebracht. Ich pfiff durch die Zähne, als ich die tiefen Abdrücke meiner Hände in dem lehmigen Boden des Klippenrandes sah. Das hätte richtig böse ausgehen können. Ich ärgerte mich über meinen Leichtsinn, während ich zittrig meine Hände in einer klaren Pfütze säuberte.

      Die Sonne war inzwischen gänzlich von den dunkelgrauen Wattebauschwolken verdeckt und in weiter Ferne hörte ich das typische Gewittergrollen. Auch ein paar Blitze erhellten einige Wolkenabschnitte. Zwei der Surfer waren zum Strand zurückgekehrt, hatten ihre schwarz glänzenden Neoprenanzüge abgelegt und sich in große Badehandtücher gewickelt. Während sie sich die klatschnassen Haare abrubbelten, beobachteten sie nun die beiden anderen, die weiterhin in atemberaubendem Tempo durch die Wellen glitten. Nur auf ihre spektakulären Manöver konzentriert, hatten sie nichts von meinem Sturz mitbekommen. Und auch niemand sonst. Damit konnte ich wenigstens sicher sein, mit diesem peinlichen Auftritt nicht bei YouTube aufzutauchen.

       Unerklärliche Phänomene

      So gut es ging, klopfte ich mir noch ein paar kleine Erdbrocken von Jacke und Hose ab, als ich vor dem roten Backsteinhaus mit der weißen Tür der Cummings stand. Sie wohnten nur zwei Straßen von uns entfernt, aber ich hatte keine Lust, mich zu Hause umzuziehen und Moms nachträgliche Panik über mein Missgeschick über mich ergehen zu lassen. Ben war nicht der Typ, der viel Gewicht auf Äußeres legte. Er würde den Schmutz auf meinen Klamotten wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Trotzdem entfernte ich mit einem Stück Ast die letzten Erdbrocken aus dem Profil meiner Sohlen und zog die schmutzige Jacke aus, bevor ich den schweren schwarzen Klopfer betätigte.

      Ich hatte Ben eine Woche lang nicht gesehen, fiel mir jetzt auf. Das war ungewöhnlich bei uns. Wir hingen seit der ersten Klasse ständig zusammen, eigentlich, seit er mich vor einem fürchterlichen Mitschüler namens Clark Mahony beschützt hatte, dessen Lehmbombenattacken in den Pausen damals gefürchtet waren. Außer Charlie, die ich fast genauso lange kannte, war er der Einzige, den ich wirklich nah an mich heranließ. Anderen begegnete ich eher mit abwartender Zurückhaltung, weil ich eigentlich ein Eigenbrötler war, wie Mom immer sagte. Das stimmte wohl, denn allein zu sein, war noch nie mein Problem gewesen, aber zu viel Nähe konnte mir Unbehagen bereiten.

      Bens Mutter öffnete die Tür. »Oh, hallo, Val, du bist zurück? War es schön?«

      »Guten Abend, Mrs Cummings, ja, es war klasse. Ist Ben oben?« Aus seinem Zimmer dröhnte laute Musik. »Oh, ich hör schon«, beeilte ich mich, zu sagen, und nahm zwei Stufen auf einmal hoch in die erste Etage.

      »Ja, geh nur rauf«, lächelte Mrs Cummings mit einem irritierten Blick auf meine Kleidung und schloss die Tür.

      Sie war sehr nett, ich mochte sie. Von ihr hatte Ben die gerade kleine Nase und das volle dunkelblonde Haar. Die Größe und die sportliche, athletische Figur hatte er von seinem Vater. Ein Bild von ihm in seinem College Baseballdress stand in einem silbernen Rahmen auf dem Wandregal, gleich neben einem Foto von Ben, mir und meinem Dad beim Drachensteigenlassen am Strand, als wir etwa zehn waren. Da Bens Vater sehr früh gestorben war, hatte mein Dad ihn oft zu Ausflügen mitgenommen.

      Ben lag auf seinem Bett, in der einen Hand ein Buch, das er gerade aufmerksam las, und in der anderen ein Trommelstock, mit dem er im Rhythmus gegen die Wand schlug. Er hatte sein taubenblaues Lieblingsshirt und eine Boxershorts an. Sein Zimmer war wie immer unaufgeräumt, aber gemütlich. Er hatte es an zwei Wänden dunkelblau gestrichen und in der Ecke über seinem Bett hingen verschieden große Poster mit Fotos von der Erde, die vom Weltall aus gemacht worden waren. In der gegenüberliegenden Ecke stand sein Schreibtisch und darüber befanden sich Regale mit jeder Menge Bücher, viele davon über Astronomie und Raumfahrt. Das war sein Ding.

      Er bemerkte mich. »Hallo, Hübsche!«

      Erfreut sprang Ben vom Bett


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