Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner


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Keuchen wachte ich auf.

      »Val, Schatz, was ist los?« Meine Mutter kam ins Zimmer gestürmt.

      »Ich weiß nicht, ich … ähm … ich … nichts. Ich hab nur schlecht geträumt.« Ich war noch völlig benommen und versuchte, langsam wieder in der realen Welt anzukommen.

      »Na, das hörte sich aber nicht nach nichts an«, sagte sie mit prüfendem Blick.

      »Es geht mir gut, wirklich. Wie lange habe ich geschlafen?«

      »Vier Stunden.«

      »Vier Stunden? Oh shit, ich hatte doch Ben versprochen, mich gleich zurückzumelden. Hat Charlie angerufen?«

      »Nein, ich denke, sie schläft auch noch ein bisschen.«

      »Wohl kaum, die hat acht Stunden am Stück geratzt. Wahrscheinlich skypt sie mit Tobey.« Ich setzte meinen Dackelblick auf. »Momsy, können wir gleich essen? Ich habe so einen Hunger. Und dann möchte ich noch rüber zu Ben.«

      Den Kosenamen benutzte ich seit Jahren eigentlich nur noch, um etwas durchzusetzen, wie den Trip nach New York, im Gefühlsüberschwang oder wenn ich drohender Schelte vorbeugen wollte. Ich hatte ihn meiner Mutter rigoros und unwiderruflich verpasst, als ich im Alter von sieben Jahren lernte, dass Mummys auch tote Menschen mit Ganzkörperbandagen waren. Ab dem Moment hatte ich es unpassend gefunden, sie so zu nennen.

      »Klar, ich mach uns was Leckeres.«

      Sie war ein Schatz.

      Einem plötzlichen Impuls folgend, fuhr ich meinen Rechner hoch und googelte »Unfall Central Park« und dann noch das Datum. Vielleicht konnte ich irgendetwas erfahren. Ein Autounfall eines Starlets, das angetrunken einen Blechschaden an einem anderen Fahrzeug verursacht hatte, wurde erwähnt. Das war’s.

      Enttäuscht schleppte ich mich in die Dusche und fühlte mich nach der gründlichen Reinigung wenigstens etwas frischer. Nachdem ich meine Fotos auf einen USB-Stick geladen hatte, schickte ich schnell noch eine SMS an Ben, worin ich versprach, nach dem Essen rüberzukommen. Ich hatte kaum begonnen, meine Sachen auszupacken, da kam schon die Rückmeldung: Freu mich.

      Mit der Schmutzwäsche auf dem Arm stolperte ich die Treppe herunter, um den Wäschekorb in der Kammer zu füttern. Eine Fahne von gegrilltem Fisch waberte durch das gesamte Erdgeschoss, worauf mein Magen voller Ungeduld knurrende Laute von sich gab. Erwartungsvoll setzte ich mich zu Mom in die Küche an den bereits gedeckten Tisch und beobachtete, wie sie die Fische in der zischenden Pfanne geschickt wendete. Dass ich den Geruch in den Haaren mitnehmen würde, war mir heute egal.

      Nicht nur, weil ich ausgehungert war, schlang ich große Happen der Meeräsche herunter. Ich versuchte, Mom wenig Gelegenheit zu geben, mich auszuhorchen. Sie versuchte es trotzdem, überschüttete mich förmlich mit Fragen. Da Charlie schon viel berichtet hatte, entschied ich mich zum Beitrag der unverfänglichen Episode Shoppingtour und erstickte dabei fast an einer Gräte. Das war für Mom ein alarmierendes Signal, mich nicht weiter vom Essen abzulenken, und so begann sie zu meiner Erleichterung, über die nette neue Arbeitskollegin im Reisebüro zu berichten. Als ich den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, stand ich sofort vom Tisch auf.

      »Das war super, danke, Mom. Ich muss jetzt los. Ben wartet schon sehnsüchtig auf meine Fotos.«

      Sie stellte meinen, bis auf die Gräten, leer gefutterten Teller auf ihren und erhob sich ebenfalls. »Ja, geh nur. Aber komm nicht zu spät nach Hause. Auch wenn du noch in Ferienstimmung bist, morgen ist Schule«, rief sie mir noch nach.

      »Okay.« Woher sollte sie wissen, dass ich nicht im Geringsten in Ferienstimmung war, sondern in einer ganz anderen, mir nicht zu erklärenden Stimmung. Mein Körper war hier, aber mein Geist hing noch in New York fest.

      Bevor ich zu Ben ging, brauchte ich noch ein paar Minuten für mich. Ich musste versuchen, den Kopf wieder freizukriegen, falls das möglich war. Zielstrebig nahm ich den vertrauten Weg Richtung Kliff. Ich rannte über die Wiese am Ende unserer Straße, die lange Steinmauer entlang, die einen verwilderten Garten begrenzte, in dem die Ruine eines kaum noch erkennbaren kleinen Cottages stand, über den sandigen Weg hinter dem Golfplatz, auf dem ich hin und wieder weiße und gelbe Bälle fand, die ich auf das Grün zurückschleuderte, bis hin zum breiten Uferweg und endlich zu dem immer enger zuwachsenden schmalen Weg zur Steilküste, der nur noch von sehr wenigen genutzt wurde. Hier gab es einen Ort für mich, der mir immer geholfen hatte, meine Gedanken zu ordnen und wieder Bodenhaftung zu erlangen, wenn irgendetwas passiert war, über das ich nachdenken oder mit dem ich fertigwerden musste – so wie vor einigen Jahren mit dem Tod meiner Großmutter, der sehr schlimm für mich gewesen war. Ich hatte diesen Platz für mich ganz allein und nur durch Zufall gefunden, als ich ein Frisbee gesucht hatte, das ein entfernter Nachbar und gleichfalls mein früherer Chemielehrer, Mr Benson, mithilfe einer starken Böe versehentlich ins Off geschleudert hatte. Sein Hund Sammy, weiß-braun, undefinierbar, aber vermutlich ein Jack Russel-Mischling, hatte keinerlei Anstalten gemacht, das verirrte Spielzeug wieder herbeizuschaffen. Also hatte ich mich hilfsbereit durch die Büsche gewühlt und dabei die Lichtung entdeckt, die am Ende durch das Geflecht der Sträucher schimmerte.

      Es war nur eine kleine, mit verschiedenen Gräsern bewachsene, von Büschen umgebene Fläche, hoch oben auf den Klippen über dem Strand, mit einem Ausblick auf nichts als das Meer und den, verglichen mit den übrigen Stränden, eher schmalen Sandstreifen. Es gab weitaus bequemer zu erreichende Aussichtspunkte, die auch sicherer zu betreten waren, daher war dieser offenbar nicht bekannt. Wenigstens hatte ich in den Jahren hier niemals jemanden getroffen, und ich kam ziemlich oft her.

      Wenn man, was nicht empfehlenswert war, sehr dicht an die Kante trat, konnte man weiter unterhalb hier und da abgerutschte Brocken entdecken, die wie kleine Halbinseln von der Steilwand Richtung Meer ragten. Jahr für Jahr schleuderten die wilden Herbststürme das Wasser gegen die Steilküste und höhlten sie nach und nach immer mehr aus, sodass der Klippenweg schon weiter nach hinten verlegt werden musste. Ich befürchtete, dass auch mein Platz irgendwann mal Opfer der Naturgewalten werden würde. Der große, abgeflachte Stein, der hier lag und auf dem ich manchmal stundenlang saß, würde sich dann am Strand bei den anderen wiederfinden, die vor Jahren dasselbe Schicksal ereilt hatte. Doch das würde erst in unzähligen Jahren passieren, hoffte ich, und so lange war dies mein persönliches Fleckchen Erde. Ich nannte es nur für mich Val Harbour, meinen Hafen, in den ich mich zurückziehen konnte. Hier oben auf dem Kliff zu stehen, weit auf das mal sanft an den Strand plätschernde oder auch wild tosende Meer hinauszuschauen, den Sonnenuntergang zu beobachten oder sich gegen den Wind zu stemmen und eins mit den Naturgewalten zu werden, war eine Reinigung von allem Schlechten und ein so erhabenes Gefühl, dass die Bedeutung vieler zu wichtig genommener Dinge klein wurde. Alles relativierte sich, alles wurde weniger schlimm. Und wenn ich glücklich war, fühlte sich alles noch besser an. In sternenklaren Nächten konnte man oft einen Mond sehen, der klarer, heller und größer erschien als irgendwo sonst. Für mich war es ein magischer Ort. Hier konnte ich meine Seele auftanken. Und das brauchte ich einfach hin und wieder.

      Ich stand eine ganze Weile still da und versuchte nicht zu denken, nur zu fühlen. Meinen Kopf hatte ich ein wenig nach hinten geneigt, die Augen halb geschlossen. Ich lauschte nur auf das Brechen der Wellen, die Schreie der Möwen, das Rascheln der Gräser und Blätter in dem ein wenig stärker werdenden Wind, der meine Haare flattern ließ. Er war nicht kühl und duftete herrlich frisch nach einer Überdosis Sauerstoff. Langsam und intensiv sog ich die Luft bis tief in die feinsten Kapillaren meiner Lunge. Sie erschien mir heute noch viel intensiver als sonst, selbst ein schwacher Rosenduft hatte sich hineingemischt. Ich schmeckte einen Hauch von Salz auf den Lippen, das vom Meer herübergetragen wurde, und leckte es mit der Zunge ab. Der Himmel war noch blau, durchzogen von einzelnen rosafarbenen Schleierwolken, doch am Horizont waren dunkle Wolken aufgetaucht, die nun Kurs auf die Küste zu nehmen schienen.

      Ich war zu Hause.

      Allmählich kehrte eine wohltuende Ruhe in meinen Körper und meine Gedanken ein. Die Beklemmung, die ich in meiner Brust gespürt hatte, wich etwas und mein Herzschlag wurde ruhiger. Ich entspannte mich mehr und mehr. Hier fühlte ich mich so sicher, als hätte jemand eine riesige Hängematte aufgespannt, in die ich mich flüchten konnte. Tief in mir


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