Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner


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hier sehr stark. Eine Weile noch folgte ich ihr mit den Augen, dann schloss ich sie und konzentrierte mich ganz auf das Gefühl, ein Teil dieses Universums zu sein. Hier, so weit oben über der Stadt, zu stehen, war ein erhabenes Gefühl. Ich fühlte mich stark und lebendig und glaubte voller Intensität daran, dass mir nichts und niemand in diesem Moment etwas anhaben könnte. Was, wenn ich die Schutzgitter überwinden und mich einfach fallen lassen würde … In Gedanken breitete ich meine Arme aus.

      Dann würde ich dich auffangen, schien mir eine Stimme zuzuflüstern.

      »Was?« Verwirrt drehte ich mich um.

      Charlie hüpfte gut gelaunt auf mich zu. »Hey, Träumerin, können wir mal langsam weiter?«

      »Äh … ja klar.«

      Unsicher lauschte ich in mich hinein. Die Stimme war so deutlich gewesen. Aber Charlie konnte es nicht gewesen sein und auch niemand sonst stand so nah bei mir. Eine Bö schoss singend an meinem Ohr entlang und schleuderte mein Haar nach vorn. Es war nur der Wind, beruhigte ich mich. Kurz erschaudernd folgte ich Charlie zum Lift.

      Er raste nach unten und spülte uns wieder auf die Straße, rein ins quirlige, lärmende New York. Ich blickte mich um und versuchte hoch oben die Plattform auszumachen, auf der wir eben noch gestanden hatten. Nachdem ich anfänglich fast eine Genickstarre bekommen hatte, schaffte ich es mittlerweile, die gewaltigen Wolkenkratzer als normale Kulisse zu betrachten. Die endlosen Straßenschluchten, die Hupkonzerte und die Menschenmassen, die sich selbst von einer roten Fußgängerampel nicht stoppen ließen, waren mir schnell vertraut geworden. Vergnügt stiefelten wir die Treppe hinunter in den Untergrund und sprangen in die nächste Bahn.

      Konzentriert studierte Charlie den U-Bahn-Plan, um noch einmal die optimale Verbindung zu überprüfen. Sie murmelte etwas, aber ich hörte nicht mehr hin. Regungslos stand ich im Gang, eine Hand fest um die Haltestange gekrallt, die Augen starr geradeaus gerichtet.

      Am anderen Ende unseres Waggons stand ein Junge, genauso regungslos wie ich, und diesmal sah er mich direkt an. Es war der Junge aus dem Museum. Ich hätte ihn überall wiedererkannt. Sofort war der Kloß im Hals wieder da. Sein ebenmäßiges Gesicht, mit diesen Augen, in die man eintauchen wollte, stach aus der Menge heraus wie ein helles Licht. Seine braunen, fast schulterlangen Haare waren perfekt ungeordnet. Er trug eine dunkle Jeans, die ihm eine gute Nummer zu groß war, und eine dunkelgraue Kapuzenjacke mit Reißverschluss, die er offen über einem hellgrauen T-Shirt mit V-Ausschnitt trug. Er war groß und irgendwie schlaksig, aber ich konnte die Konturen eines trainierten Körpers unter seinem T-Shirt erahnen.

      Eine innere Unruhe, die ich so noch nie gespürt hatte, packte mich, als ob sämtliche Moleküle meines Körpers durcheinanderwirbelten und ihren Platz nicht mehr finden konnten. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Mist, dachte ich, man sieht es mir an, ich bin bestimmt knallrot im Gesicht. Sosehr ich mich bemühte, äußerlich cool zu wirken, während gigantische Tornados in meinem Innersten wirbelten, es war nahezu aussichtslos. Ich stand da wie gemeißelt und konnte meine Augen nicht in der vorgeschriebenen Zeit, die ein Desinteresse dokumentiert hätte, von diesem mich wieder magisch anziehenden Gesicht lösen.

      Doch auch er schaute nicht weg. In meinem Kopf drehte sich alles. Warum lächelte ich nicht wenigstens, um die Peinlichkeit, ertappt worden zu sein, zu überspielen, mich dann wegzudrehen und noch einen würdevollen Abgang hinzulegen. Er wird bestimmt hundertfach von schmachtenden Blicken verfolgt, so wie er aussieht, sagte ich mir und ärgerte mich einen kurzen Moment, dass auch ich in seinem Netz zappelte. Vielleicht war er ja total arrogant und machte sich über all die entflammten Mädels lustig. Aber das sollte mir nicht passieren, die mit Stolz sagen konnte, nicht auf irgendwelche Schönlinge hereinzufallen oder ihnen jemals hinterherzugeiern. Sein Fangstrahl hatte mich dennoch fest im Griff. Es gelang mir nicht, wegzusehen. Meine Gedanken rasten durcheinander, während ich nur dastand und vergeblich versuchte, meine Gesichtszüge zu entkrampfen.

      Merkwürdigerweise wirkte er jedoch überhaupt nicht überheblich, eher, als sei er sich seiner Schönheit gar nicht bewusst. Er schaute warm und freundlich mit offenem, festem, interessiertem Blick. Es schien, als ob sich sein Gesicht noch tiefer in mein Innerstes einzubrennen versuchte, falls das überhaupt möglich war.

      Bildete ich mir das alles nur ein? Konnte es sein, dass er wirklich mich meinte, oder hatte er vielleicht doch jemanden direkt hinter mir im Visier? Wahrscheinlich ist es so, versuchte ich meinen hämmernden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Ich schaffte es schließlich, den Blick niederzuschlagen und endlich wieder einen Atemzug zu nehmen. Doch ich musste wieder aufblicken und sah, erneut den Atem anhaltend, wie das längst gespeicherte Gesicht mit dem unwesentlichen Anhängsel dieses schlanken, sich anmutig bewegenden Körpers – Hab ich wirklich anmutig gedacht in Zusammenhang mit einem Jungen? – auf mich zukam.

      Seine wunderschönen braunen Augen waren, es war unverkennbar, auf mich geheftet. Meine Gedanken begannen wieder sich zu überschlagen. Wenn er mich nun ansprechen würde, was sollte ich dann bloß sagen, ohne profan rüberzukommen, ohne diesen Moment kaputt zu machen? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und der Gedanke an Flucht meldete sich. Manchmal ist es besser, einen perfekten Moment einzufangen und wie einen Schatz mit sich fortzunehmen. Nur ein einziges dumm gewähltes Wort oder eine Geste konnte alles wieder zerstören und so bliebe wenigstens die Illusion, einen perfekten Menschen getroffen zu haben, von dem man mit all den ihm angedichteten Wunschattributen träumen konnte. Aber meine Füße waren wie am Boden festgeklebt. Ich verharrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht, vom Licht geblendet und zu keiner Bewegung mehr fähig. Und hätte ich einen Fuß vom Boden lösen können, wären mir ohne Zweifel die Beine weggesackt. Nur mein verkrampfter Klammergriff um die Haltestange verhinderte das in diesem Moment. Ich hatte das verstörende Gefühl, gefunden zu haben, was ich unbewusst schon immer gesucht hatte.

      Plötzlich wurde ich am Arm gepackt.

      »Val, hörst du nicht? Wir müssen hier raus, das ist unsere Station. Los!«

      Bevor ich protestieren konnte, hatte sie mich schon aus dem Zug gezerrt und die Türen schlossen sich augenblicklich hinter uns. Sein Kopf flog herum, unsere Augenpaare trafen sich noch einmal und ich glaubte, eine maßlose Enttäuschung in seinem Blick erkannt zu haben. Mir ging es nicht anders. Als hätte mich eine Zeitmaschine aus dem Waggon katapultiert. Eben noch im Fegefeuer glühendster Gefühle, stand ich jetzt verloren auf dem Bahnsteig und schaute hilflos dem davonbrausenden Zug nach. Mein Magen verkrampfte sich, als mir allmählich schmerzlich bewusst wurde, dass dies einer der berühmten verstrichenen Momente war, in dem man nicht gehandelt hat und der nie wiederkam. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass ich ihn in dieser riesigen Stadt noch einmal treffen würde. Sich zweimal zu sehen, war schon ein Riesenzufall. Ich musste mich der schmerzlichen Wahrheit stellen. Das war’s, Chance vorbei.

      Eine unsagbare Leere ergriff mich. Es tat so weh.

      Meine Enttäuschung wich der Wut, die langsam in mir aufkeimte. Ich war so blöd. Stocksteif wie ein Fisch hatte ich dagestanden. Oouhhh! Ich ballte meine Fäuste und stampfte leicht mit dem Fuß auf. Wenn ich wenigstens gelächelt hätte. Vielleicht hätte er sich motiviert gefühlt und ein bisschen mehr beeilt und vielleicht … Ach, es ist müßig, darüber nachzudenken, dachte ich niedergeschlagen.

      Charlie, die wie immer Richtung und Schritttempo bestimmte, war bereits einige Meter vorausgelaufen, bis sie mein Fehlen bemerkte und mit fragendem Blick zurückkam. »Hey, wo bleibst du?«, rief sie, als sie auf mich zukam. »Komm schon! Ich fing gerade an, ein fremdes Mädchen vollzuquatschen, weil ich dachte, du wärst es.«

      Ich sah durch sie hindurch.

      »Sag mal, träumst du? Planet Erde an Val!« Während sie das sagte, wischte sie mit ihrer Handfläche zweimal dicht an meinem Gesicht vorbei und schaute mich verständnislos an, als ich nicht mal zuckte.

      »Glaubst du an die vollkommene Anziehungskraft zweier Menschen, so was wie die berühmte Liebe auf den ersten Blick?«, fragte ich sie kraftlos.

      »Ähm, wie kommst du denn jetzt darauf?«, fragte sie, die Brauen eng zusammenziehend.

      »Es könnte sein, dass mir das gerade passiert ist.« Meine Schultern fühlten sich so müde an, als wären sie mit Gewichten beschwert.


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