Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner


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Gelegenheit für eure One-Night-Stands, sich durchs Fenster abzuseilen«, flachste Tobey mit breitem Grinsen.

      »Hey, Tobey!« Überschwänglich flog ich ihm in die Arme, denn ich hatte ihn schon sehr lange nicht gesehen. »Du bist schon hier! Das ist ja eine Überraschung!«

      »Ja, allerdings. Wolltest du nicht erst um zehn Uhr hier sein?«, raunzte Charlie ihn an, da sie nicht annähernd fertig war.

      Innerlich rollte ich mit den Augen. Anstatt sich zu freuen … Genau diese unbedacht ausgestoßenen Zickereien verringerten meiner Meinung nach die Chance auf ein Happy End.

      »Ich habe eine Maschine eher genommen. Weil ich solche Sehnsucht hatte … Schatz«, fügte er leicht bissig hinzu, deutlich enttäuscht von Charlies Begrüßung.

      Vielleicht hatte sie meinen tadelnden Blick gesehen, jedenfalls entschied sie sich nun doch noch zu einem freudigen Gesichtsausdruck und sprang ihm entgegen. »Wenigstens konnte ich noch meine Zähne putzen«, maulte sie nach einer verspäteten, leidenschaftlichen Umarmung. »Ich wollte noch die Spuren der Nacht verschwinden lassen, bevor du kommst. Ich sehe doch so fertig aus.« Sie eilte wieder zum Spiegel und prüfte ihr Äußeres noch genauer als vorher.

      »Sorry, ich dachte, du freust dich«, sagte er trocken.

      »Tu ich doch auch«, rief sie quengelnd und versuchte, den Kampf mit der Bürste zu gewinnen.

      »Übrigens finde ich überhaupt nicht, dass du fertig aussiehst«, meinte er und zauberte damit ein kurzes, erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. »Was habt ihr denn gestern Abend getrieben?«

      »Och, na ja, wir haben ein bisschen abgefeiert in so einer Bar auf der Siebten, wo sie es mit dem Alkoholausschank nicht so genau nehmen. Eine Empfehlung von Keira.« Sie blinzelte mir zu, da dieser Tipp von meiner Schulfreundin kam. »Ich glaube, ich hatte fünf Bier und zwei Kurze«, gab sie zu Protokoll. Sie übertrieb maßlos, um ihr Aussehen zu rechtfertigen, denn sie konnte in Wahrheit kaum zwei Drinks ab, was Tobey mit Sicherheit bekannt war.

      »Respekt … Alle Achtung.« Tobey nickte mit gespielter Anerkennung und pfiff durch die Zähne. »Das qualifiziert dich zweifelsohne für jeden Stammtisch.« Er ließ sich schräg in den einzigen Sessel fallen und ein Bein lässig über der Lehne baumeln. Dann strich er sich mit beiden Händen durch seine flachsblonden kurzen Haare und verschränkte sie hinter dem Kopf. Grinsend beobachtete er Charlie, die sich immer noch ihrem Spiegelbild widmete und in Windeseile mit einem Abdeckstift ihre Augenringe zu kaschieren versuchte.

      Während er seiner Freundin zusah, die nun sorgfältig die Tusche auf ihren Wimpern verteilte, musterte ich ihn unauffällig. Er war schon ein cooler Typ, dieser Tobey Marshall, ein Junge, auf den die Mädels flogen, einundzwanzig, gut aussehend, smart und intelligent. Dass er an der Harvard University studierte, flößte vielen zu Hause außerdem Respekt ein. Ich mochte seine unkomplizierte Art und mein Verdacht, dass seine gelegentlichen Abwehräußerungen von Charlie provoziert wurden, bestärkte sich heute wieder.

      »Kannst du nicht woanders hingucken?«, zischte sie ihn an.

      Er lachte und sie zog finster ihre Brauen zusammen und schnitt eine Grimasse.

      »Ich geh dann mal ins Bad«, sagte ich, klaubte meine graue Röhrenjeans und mein weißes Lieblingsshirt mit der aufgesetzten Knopfleiste vom Bett und trippelte aus der Schusslinie.

      Das Frühstück nahmen wir noch gemeinsam ein. Ich staunte über die Mengen, die Tobey verschlang. Mit vollem Mund murmelte er etwas von „Mal ne Abwechslung vom Mensafraß“. Zwischen den nacheinander verdrückten Portionen Müsli mit Obst, Rühreier mit Speck und Brötchen mit allem, was da war, erzählte er ein bisschen von Boston, den Leuten, mit denen er dort meistens abhing, und wie es im Studium voranging. Ich bekam nicht alles genau mit, da ich von Charlies Gesichtsausdruck abgelenkt war, den ich zu lesen versuchte. Sie kaute nervös auf der Unterlippe herum, lachte ein paarmal, was mir allerdings etwas künstlich erschien, und die Gesichtszüge entglitten ihr einmal gänzlich, als Tobey von bereits jetzt winkenden verlockenden Jobangeboten aus Boston und New York berichtete. Ihre Mundwinkel zuckten und die Muskeln unter ihren Wangenknochen tanzten, während ihre Zähne mahlten. Das war die höchst angespannte Charlie. Ich kannte dieses Mienenspiel sehr gut. Tobey berichtete kauend weiter und schien es nicht wahrzunehmen; oder er ging darüber hinweg. Dass Jungs dazu neigen, Stimmungen, die zu unangenehmen, für sie lästigen Diskussionen führen könnten, einfach zu ignorieren, hatte ich inzwischen schon mitbekommen.

      Charlie entspannte sich erst, als er verkündete, seine Möglichkeiten ganz in Ruhe zu checken und auch etwaige Angebote in England zu prüfen. Mit einer wedelnden Geste seiner Hand, wobei sich eine Tomatenscheibe vom Schinkenbelag des Brötchens löste und dicht neben Charlies Kaffeetasse auf dem Tischtuch aufklatschte, erklärte er uns, dass der erste Job nicht gleich der beste sein müsse, auch wenn er vielversprechend klinge. Ihr Gesicht hellte sich auf und sie bestärkte ihn sogleich eifrig nickend. »Das solltest du auf jeden Fall tun.«

      Nach dem Frühstück wollten sich die beiden wieder nach oben verziehen, so, wie wir es vorher geklärt hatten, und ich erhielt noch eine genaue Wegbeschreibung zum Museum. »Viel Spaß, Val«, wünschten sie mir, als sie eng umschlungen zum Fahrstuhl gingen.

      Ich grinste, die Augenbrauen zweimal hintereinander kurz hochziehend. »Euch auch!«

      Es nieselte immer noch etwas, aber das störte mich nicht. Ich zog mir die Kapuze meiner dunkelblauen Regenjacke tief ins Gesicht und lief in Richtung U-Bahn. Ohne Probleme fand ich den Weg zum American Museum of Natural History am Central Park, Ecke neunundsiebzigste Straße, und stand nun auf der Treppe vor dem monumentalen, mit imposanten Säulen aus hellgrauem Stein verzierten Eingangsportal. Feierlich schritt ich die Stufen empor und betrat gespannt das Foyer.

      Riesige Dinosaurierskelette begrüßten mich auf meiner Entdeckungstour durch die Geschichte der Menschheit. Neugierig und aufmerksam durchwanderte ich Raum für Raum, staunend über die Artenvielfalt der Tiere, die hier zusammengetragen war. Das Museum war der Wahnsinn. Von der Decke eines Saales hing ein gigantischer, lebensgroßer Wal herab. Ich setzte mich darunter auf den Fußboden und stellte mir vor, wie er über mich hinwegschwamm. Vertieft in diese Vorstellung, verlor ich mal wieder die Zeit. Erst ein Blick auf die Uhr trieb mich weiter.

      In einem Raum mit ausgestopften Vögeln hatte ich auf einmal das starke Gefühl, beobachtet zu werden. Irritiert sah ich mich um. Die Anzahl der Besucher war recht überschaubar und alle waren nur mit den Exponaten beschäftigt. Und trotzdem. Ich spürte es deutlich und das Gefühl blieb. Eine logische Erklärung war, dass die vielen Augenpaare der Vögel zu eindringlich auf mich wirkten. Ich musste an „Nachts im Museum“ denken und kicherte leise, während ich das Weite suchte.

      Nach fast drei Stunden Kultur begann meine Aufnahmefähigkeit rapide abzusacken und so trabte ich in Richtung Rose Center for Earth and Space, um das Versprechen an meinen besten Freund Ben einzulösen, einige Fotos von dem hier ausgestellten Meteoriten Willamette zu machen. Ich verzichtete darauf, Kopfhörer mitzunehmen, und betrat die Ausstellung. Sie war sehr umfangreich und so überflog ich die einzelnen Bereiche nur – Galaxien, Planeten, Sterne –, die Ben sicher stundenlang mit Begeisterung aufgesogen hätte. Willamette war nicht schwer zu finden. Ich stand vor einem fünfzehneinhalb Tonnen schweren, oval geformten und total zerklüfteten Eisenklumpen, dem größten, der jemals auf der Erde gefunden worden war. Auf der Beschreibung las ich weiter, dass er wohl der Eisenkern eines vor Milliarden von Jahren zerborstenen Planeten sei, der vor Tausenden von Jahren mit 40.000 Meilen pro Stunde auf die Erdoberfläche geknallt sei. Muss ein gewaltiges Loch gegeben haben, dachte ich. Schrecklich, wie viel er heutzutage auf der Erde vernichten könnte. Ich fotografierte das Eisengerippe von allen Seiten, die Beschreibung und auch die Halle, in der er ausgestellt war. Meinen Auftrag wollte ich zu Bens vollster Zufriedenheit erledigen.

      Plötzlich hatte ich wieder dieses eigenartige Gefühl, jemand würde mich beobachten. Unauffällig taxierte ich die umstehenden Leute, konnte aber auch jetzt nichts Auffälliges entdecken. Meine Wahrnehmungsfähigkeit anzweifeld, wandte ich mich noch einmal dem Eisenklumpen zu und begann, die Fotos auf dem Display zu checken. Dann kam das Gefühl noch intensiver zurück. Ich hielt den Kopf gesenkt, als würde ich


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