Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner
Der Babysitter war natürlich nur fürs Alibi. Meine zwei Jahre ältere Freundin wirkte auf Eltern ziemlich reif und souverän, was hauptsächlich mit ihrer kultivierten Erziehung zusammenhing, und ich hatte mehr Spielraum, wenn sie mit von der Partie war. Trotzdem gab es immer wieder Situationen, in denen ich mich als die Ältere fühlte.
Ich suchte noch nach dem richtigen Wort für meine Begeisterung, als sie ihre große, schwarze Designerbrille in das blonde Haar hochschob und dann begann, ihren Unterarm, wie ein Fliegenfischer, in alle Richtungen zu feuern. »Da ganz hinten, siehst du? Die Liberty! Und da drüben, das Empire State! Das da ist die Manhattan Bridge, und guck da, das Chrysler Building!« Die Reiseleiterin in ihr war erwacht.
Ihrem Arm folgend warf ich meinen Kopf hin und her, bis mir fast schwindelig wurde. »Wow, Charlie, es ist der Hammer«, bestätigte ich, benommen von den Eindrücken und den Fliehkräften, die auf mein Gehirn einwirkten.
Ich löste meine schon weiß gewordenen Finger aus ihrem Klammergriff von der Sitzlehne, öffnete das Fenster zur Hälfte, strich energisch eine lange, vor meinen Augen flatternde Haarsträhne hinter das Ohr und hob den Fotoapparat in Position. Leider tanzte das Bild unruhig im Sucher und die in rhythmischer Regelmäßigkeit vorbeifliegenden Streben der Brücke verhinderten zudem einen freien Blick.
»Das bringt nichts«, winkte Charlie ab. »Aber wenn du Lust hast, gehen wir morgen mal zu Fuß über die Brücke, dann kannst du jede Menge scharfe Fotos machen.« Sie grinste breit, während sie ihre Augenbrauen tanzen ließ.
Natürlich wollte ich. »Das wäre super.«
Am Ende der Brücke warf ich einen letzten Blick auf die Piers am Wasser, wo gerade ein riesiger weißer Hubschrauber zur Landung ansetzte. Dann verschluckten uns die Straßenschluchten der Metropole und Charlie kicherte die ganze Zeit, während sie mich dabei beobachtete, wie ich ganz nah an der Scheibe klebte und mich auf meinem Sitz verdrehte, um die Höhe der Gebäude zu erfassen.
»Ganz schön hoch, oder?«, meinte sie amüsiert.
»Der Wahnsinn«, stöhnte ich.
Das Hotel lag im Stadtteil Soho. Unser hagerer Fahrer, mit einem Mund ohne Lippen, presste seinen dürren Finger auf den Taxameter und nannte uns eine, wie ich fand, beträchtliche Summe, die Charlie, ohne mit der Wimper zu zucken, großzügig aufrundete. Mit leisem Ächzen stemmte sie ihre Schultern gegen die Rückbank, zog, mit den Hüften über der Sitzfläche schwebend, ihren engen grauen Rock in die Länge und schwang dann die gebräunten Beine aus dem Auto. Es war warm. Ich krempelte die Ärmel meines weißen T-Shirts bis zu den Ellenbogen hoch, schulterte meinen Rucksack und folgte ihr zur gläsernen Eingangstür des Hotels. Bevor ich eintrat, riskierte ich noch einen Blick nach oben. Es war bei Weitem nicht eines der höchsten Gebäude, aber es reichte, um mir fast den Hals auszurenken.
Unser Zimmer, im vierzehnten Stock, hatte einen unspektakulären Ausblick über einige niedrigere Nachbargebäude hinweg, mit zum Teil sehr schönen Dachgärten. Dahinter, in einiger Entfernung, ragten die richtig hohen Gebäude auf und ich bekam eine Vorstellung, wie groß allein die Insel Manhattan war.
»Das Zimmer ist okay, oder?« Charlie, die das Hotel vorgeschlagen hatte, sah mich nun gespannt an, als ich mich mit einem eingebrannten Lächeln im Gesicht umdrehte.
Ich schmiss meine Klamotten auf das riesige Bett mit der grau und beige gestreiften Tagesdecke und ließ meine Augen kurz prüfend durch den Raum wandern, bis ich mich im Spiegel über dem modernen, kantigen Schreibtisch erblickte. Instinktiv strich ich meine Haare glatt.
»Es ist toll«, versicherte ich. Mir wäre selbst eine Jugendherberge recht gewesen, aber wie immer, wenn es meinem Vater möglich war, versuchte er sehr großzügig, meine Wünsche zu erfüllen. Ich vermutete, es hing damit zusammen, dass er nicht bei meiner Mutter und mir lebte. Er war Musiker, ständig auf Reisen. Trotz der immer noch fühlbaren Zuneigung zwischen ihnen, hatte es keine gemeinsame Basis für eine Ehe gegeben.
Ich stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Danke, Dad, stimmte ich einen innerlichen Singsang an, während ich zum anderen Endes des Zimmers tänzelte, um eine Steckdose für mein Telefonladekabel in Beschlag zu nehmen. Als ich ratlos vor der Stromquelle stand, kramte Charlie in ihrer Tasche, um mir kurz darauf grinsend einen Adapter zuzuwerfen. »Hier!«
»Oh toll, danke«, sagte ich erleichtert. Sie war, wie immer, bestens organisiert.
Wie ich es versprochen hatte, schickte ich jeweils eine kurze SMS an meine Eltern. Dann inspizierte ich das hell geflieste Badezimmer und registrierte anerkennend, dass die Glastüren der überdimensionalen Dusche gänzlich kalktropfenfrei waren, ebenso wie der große Spiegel über dem glänzenden Waschtisch, auf dem ich meinen kleinen roten Kosmetikbeutel platzierte. »Ich mach mich kurz frisch, okay?«, rief ich, während ich schon begann, meine Haare zu einem Knoten zu zwirbeln.
»Ja, mach nur.« Charlie überließ mir selbstlos das Bad, denn als routinierte Vielfliegerin hatte sie sich kurz vor der Landung, mit ihren Waschutensilien bewaffnet, während einer Warteschlange verursachenden Viertelstunde in dem engen Toilettenraum des Airbus in Form gebracht. Sie sah viel frischer aus als ich und ihre honigblonden Haare saßen tadellos. Am Fußende des Bettes sitzend, war sie topfit damit beschäftigt, diverse mitgebrachte Magazinseiten mit aktuellen Tipps zu sortieren.
Ich betrachtete mein Spiegelbild. Hier war ich nun also. Ich war wirklich in New York. Ein glückliches Grinsen huschte über meine Mundwinkel und ließ mein müdes Gesicht ein bisschen aufleben. Die leichte Bräune, die ich mir über den Sommer zugelegt hatte, war nicht wirklich zu sehen. Ich wirkte etwas blass, was kein Wunder war, da wir seit vielen Stunden auf den Beinen waren. Dazu kam die Zeitverschiebung. Aber die innere Uhr musste nun schweigen.
Nach einer zeitsparenden Katzenwäsche trocknete ich mich mit dem flauschigen, weißen Hotelhandtuch ab, säuberte meine Unterlider mit einem Wattestäbchen und tuschte die Wimpern etwas nach. Zum Schluss bürstete ich meine langen braunen Haare einmal gegen den Strich und warf sie nach hinten, um sie erneut zu ordnen.
Mit dem letzten Bürstenstrich hörte ich mein Telefon brummen und ging zurück ins Zimmer. Mom, die vermutlich ihr Telefon nicht eine Sekunde aus der Hand gelegt hatte – und ich hatte keine Ahnung, wie spät es zu Hause gerade war –, hatte als Erste geantwortet. Pass gut auf dich auf, Schatz. Doch Dads Antwort war auch schon da. Lass es krachen. Ich musste lachen. Es charakterisierte meine Eltern hundertprozentig. Mom sagte oft, mein Dad sei nie richtig erwachsen geworden. Vielleicht verstand ich mich gerade deshalb so gut mit ihm. Es gefiel mir jedenfalls sehr, dass er mich nicht wie ein Kleinkind behandelte. Vor einigen Wochen hatte er gesagt: »Val, ich weiß, dass du alles schaffen kannst, was du dir vornimmst, und ich weiß, dass tief in dir schon eine gewisse Weisheit wohnt. Um dich brauche ich mir nie Sorgen zu machen.« Das hatte mich umgehauen und ich war ziemlich stolz, dass er mich so sah.
Charlie kritzelte, auf den Lippen kauend, irgendwelche Notizen auf den Rand des Stadtplans. Ihre Mutter wartete nicht auf ein Lebenszeichen. Wahrscheinlich hatte sie sogar vergessen, wo Charlie sich gerade aufhielt. Ihre Welt drehte sich nur noch um sich selbst, Shopping und Reisen.
»Also, bist du jetzt durch mit deinen Morsezeichen an die Familie?«, fragte sie übertrieben heiter, als sie merkte, dass ich sie beobachtete.
Auch wenn sie das Thema jedes Mal abwiegelte, gerade jetzt hatte ich wieder das Gefühl, dass das Desinteresse ihrer Mutter sie mehr verletzte, als sie zugab. Vielleicht steckte aber auch Thema Nummer eins hinter den melancholischen Augen, die einfach nicht zu ihrem Lächeln passten. Daher sagte ich lauernd: »Ja, alles erledigt. Willst du Tobey nicht anrufen?«
Damit sie auch auf ihre Kosten kam, hatte ich angeboten, am nächsten Tag, wenn er zu uns stoßen würde, zeitweise ein Soloprogramm zu absolvieren.
»Nee, er ist heute den ganzen Tag mit seiner Arbeitsgruppe beschäftigt, da will ich nicht stören. Er kann sich ja melden, wenn es passt.«
In ihrer Stimme hörte ich wieder die latente Bockigkeit, wie so oft, wenn es um Tobey ging. Den Stand ihrer zweieinhalbjährigen On-Off-Beziehung analysierten wir regelmäßig, doch es kam mir so vor, als kenne sie ihn manchmal selbst nicht genau. Das Problem war, dass sie ihn ständig