Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner
verstand, und auch seine Tante. Tobeys Mutter stammte aus Boston. Und Charlie besuchte seit einem Jahr die Uni Cambridge in England, in erster Linie, weil ihr Vater sich gewünscht hatte, dass sie, wie er, dort eine erfolgreiche Wirtschaftsjuristenlaufbahn einschlug. Obwohl ich ihr zutraute, dass sie es schaffen würde, befürchtete ich aber, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr Studium schmiss und in die USA übersiedelte, da sie mit der Fernbeziehung einfach nicht klarkam. Ein Gedanke, der mich schon länger beunruhigte.
Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante. »Es ist doch alles gut bei euch?«, fragte ich misstrauisch.
»Ja, schon. Das Übliche halt. Er textet mal wieder rum.«
»Er kommt noch nicht zurück, oder?«
»Natürlich nicht«, antwortete Charlie erwartungsgemäß und biss sich schwer atmend auf die Unterlippe. »Ich hab ihn so oft gebeten. Er weiß genau, wie sehr ich ihn vermisse.«
Ich hatte mir meine eigenen Gedanken dazu gemacht. »Vielleicht engt genau das ihn so ein und lässt ihn manchmal Dinge sagen oder abziehen, die dich auf die Palme bringen.«
Charlie zog die Stirn in Falten und sah mich skeptisch unter ihren sorgfältig gezupften Augenbrauen an.
»Na, denk mal an den angedrohten Männerurlaub auf Ibiza, nur um deine Reaktion zu prüfen«, erinnerte ich sie an seine schockauslösende Ankündigung im vergangenen Mai. Charlies Blick verfinsterte sich noch mehr. »Letztendlich tut er es ja nicht, wie die Erfahrung gezeigt hat. Aber für mich sieht das aus wie eine reine Provokation, eine Art Befreiungsschlag, wenn du ihn wieder mal zu sehr in die Enge getrieben hast«, vervollständigte ich meinen Eindruck. Mir fielen diverse Situationen ein, die meine Theorie untermauerten. »Ihr dürft euch nicht zerfleischen. Ich denke, du musst ihm Raum lassen, sich zu entfalten, sonst wird er dir ewig vorhalten, dass du seine Karriere behindert oder sogar verhindert hast, und dann ist eure Beziehung sowieso im Arsch. Es ist wahrscheinlich keine so gute Idee, zu sehr zu klammern«, versuchte ich, sie behutsam zu überzeugen.
Sie musterte mich verwundert und ihr Mund zuckte leicht belustigt. »Meine Therapeutin! Woher weißt du nur so viel über Jungs und Beziehungen, obwohl du doch noch nie so richtig einen Freund hattest?«
Ich blies die Wangen auf und ließ die Luft stoßartig entweichen. Meine Erfahrungen mit Jungs beschränkten sich tatsächlich meist auf fragwürdige Neckereien, die diese als adäquate Maßnahme für eine Kontaktaufnahme sahen. Nachdem sie irgendwann aufgehört hatten, mit irgendetwas auf mich zu werfen oder mir Kaugummi auf den Stuhl zu kleben, hatten sie, die Pubertät erreichend, versucht, mir auf Partys, zu fortgeschrittener Stunde, unter das Shirt zu fassen. Bis auf eher verstörende Fummeleien mit dem von mir im vergangenen Sommer favorisierten, gut aussehenden Billy Lasseter, dessen ungeschickte Hände mir aber eher wehgetan hatten, konnte ich keine romantischen Erfahrungen vorweisen.
»Keine Ahnung. Ich beobachte einfach nur und nehme vieles aus meinem Umfeld auf«, sagte ich schulterzuckend.
»In der Theorie ist es mir auch vollständig klar«, jaulte Charlie, »es stimmt alles, was du sagst. Aber praktisch gelingt es mir nicht, das umzusetzen. Ich liebe ihn einfach so sehr, weißt du?«
»Ja, das weiß ich.«
Wir kamen an diesem Punkt nicht weiter. Die Gespräche um Tobey liefen immer sehr ähnlich ab, doch letztendlich drehten wir uns im Kreis. Natürlich würde sie weiter klammern. Sie konnte einfach nicht anders. Seit ihr Vater tot war, hatte sie den Druck auf Tobey sogar noch verstärkt, indem sie allen verkündet hatte, sich schon sehr früh eine eigene Familie vorstellen zu können. Doch mit der Brechstange würde sich ihr Traummann Tobey, so gut glaubte ich, ihn zu kennen, nicht an sie binden lassen.
»Was ist eigentlich mit Ben?«, wechselte Charlie abrupt das Thema.
»Was soll mit ihm sein?«, fragte ich verwundert.
Charlie sah mich mit schief gelegtem Kopf forschend an. »Dir ist doch nicht entgangen, dass er eine echte Schnitte geworden ist?«
»Charlie …«, mahnte ich sie knurrend.
»Was?«
»Wir sind nur Freunde«, stellte ich mit entrüstetem Unterton klar.
»Meinst du nicht, er sieht das mittlerweile etwas anders?«
»Quatsch.«
»Oder trifft er sich auch mit irgendwelchen anderen Mädels?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Na bitte.« Sie sah mich triumphierend an.
»Du spinnst. Du verstehst das nicht. Er ist wie ein Bruder für mich.«
»Aber du würdest es mir sagen, wenn da was geht, oder?«
»Da geht nichts. Du hättest es sonst als Erste erfahren.« Kopfschüttelnd nahm ich meine leichte blaue Jacke aus dem Rucksack und kickte ganz beiläufig den Ball zurück in ihr Feld. »Du findest also, dass er eine Schnitte geworden ist. Ich dachte, er sei in deinen Augen noch ein Kind?« Jetzt blitzte ich sie herausfordernd an.
»Stimmt«, bestätigte Charlie hastig und sprang vom Bett hoch. »Wollen wir dann jetzt los?«
»Packen wir nicht aus?«
Sie stopfte den zerfledderten, vollgekritzelten Straßenplan in ihre Umhängetasche. »Kostet nur Zeit. Komm jetzt.« Sie riss die Hoteltür auf, um mir mit einer einladenden Geste den Weg nach draußen anzubieten. »Kann’s losgehen?«
»Unbedingt!« Ich konnte es kaum erwarten, ein temporärer Teil dieser Stadt zu werden.
Vertrauensvoll trottete ich neben Charlie her, die zielstrebig die Straßen durchpflügte. Ich staunte wie ein Hinterwäldler über imposante Eingangshallen, folgte mit meinem Blick den in den Himmel ragenden Fassaden, bis ich fast das Gleichgewicht verlor, und knipste alles, was mir lohnenswert erschien. Charlie zupfte mich mehrere Male am Arm, um mich zum Weitergehen zu animieren. »Bei deiner investigativen Gründlichkeit brauchen wir sechs Wochen für Manhattan«, meinte sie mit entschuldigendem Lächeln, weil sie mich immer wieder antrieb.
Sie bot mir das volle Programm: Chrysler Building, das ich für den schönsten Bau der Stadt befand; Grand Central Station, wo wir uns ein Megasandwich und eine Cola in der Fressmeile im Untergeschoss gönnten; Rockefeller Center, zu dessen Füßen Charlie schon Schlittschuh gelaufen war, wie sie mir vorschwärmte; Time Square mit seinen riesigen LED-Anzeigentafeln. Hier war die Touristendichte am meisten zu spüren. Ich hatte noch nie so viele Leute umherlaufen sehen. Fasziniert beobachtete ich, wie die Menschenmassen einander reibungslos und unfallfrei in alle Richtungen durchdrangen, begleitet vom Hupkonzert der vorwiegend gelb lackierten Blechmasse auf den Straßen. Angesichts dieser Betriebsamkeit hatte ich keinen Zweifel, dass diese Stadt tatsächlich niemals schlief. Meine aufmerksame Reiseleiterin schnappte mindestens zweimal reaktionsschnell nach meinem Arm, um zu verhindern, dass ich, abgelenkt von so viel Input, von dem unaufhörlich rollenden Verkehr erfasst wurde. Ich hatte irgendwann einen steifen Hals und fühlte meine Füße nicht mehr richtig, aber ich war glücklich.
Es war schon später Nachmittag, als wir noch einen Abstecher in den Central Park machten. Graue Wolken zogen plötzlich am Himmel auf und so begann es, verfrüht dunkel zu werden. Der Park leerte sich merklich. An einer Biegung stutzte ich.
»Sieh mal!« Erfreut deutete ich auf das tunnelartige Gewölbe unter einer Steinbrücke. »Das sieht original aus wie in dem Film, den ich vor Kurzem gesehen habe. Vielleicht haben sie den ja hier gedreht. Lass uns mal durchgehen.«
Das erste Mal an diesem Tag übernahm ich die Führung und lief neugierig den asphaltierten Weg hinunter in Richtung Tunneleingang. Je abschüssiger es hinabging, desto steiler ansteigend wurden die mit dichtem Buschwerk bewachsenen, seitlichen Böschungen. Es wurde zunehmend schummeriger.
»Welcher Film war das denn?« Charlies Stimme hallte leicht, als wir den Tunnel betraten.
»Weiß nicht mehr, wie der hieß, aber er handelte von einem Psycho, der Mädchen verschleppte und lebendig begrub«, antwortete ich mit gedämpfter Stimme, denn ich hatte etwas entdeckt.