Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner

Highcliffe Moon - Seelenflüsterer - Susanne Stelzner


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sah mich um. Kaum jemand war hier in Eile. Die meisten Menschen schlenderten entspannt herum oder hatten es sich auf Bänken gemütlich gemacht, um Sandwiches zu verdrücken oder in der Sonne zu dösen. Eine weiße Kutsche mit einem majestätisch trabenden schwarzen Pferd und einem adrett gekleideten Kutscher auf dem Bock trug ein blondes Pärchen über die asphaltierten Wege, weiter hinten kamen Rollerskater entgegen. Eine Frau in meiner Nähe fütterte die grauen, zutraulichen Eichhörnchen, die hier in Scharen herumliefen, und kicherte belustigt, als eines der Tiere sogar an ihrer Hose hinaufzuklettern versuchte. Auf einmal schrie sie spitz auf. Ein besonders kräftiges Exemplar mit einem Nacken wie ein Ringer hatte sie offenbar in den Finger gebissen, als sie ihm eine Nuss angeboten hatte. Während die Frau sich den Finger mit einem Taschentuch verband, stand es immer noch selbstbewusst und angriffslustig vor ihr, sodass die Frau, unflätige Worte ausstoßend, lieber das Weite suchte. Als ich darüber nachdachte, dass es vielleicht die Tollwut hatte und die Frau besser einen Arzt aufsuchen sollte, streifte mich ein kühler Luftzug.

      Das Sonnenlicht wurde plötzlich fast unerträglich grell. Die Bewegungen der Leute schienen sich zu verlangsamen und alles wurde weißlich gelb, wie auf einem überbelichteten Foto. Die Luft flirrte regelrecht und der Luftzug schien einen dunklen Ton mit sich zu bringen. Es war, als hörte ich mein eigenes Blut rauschen. Spielte mein Kreislauf wieder verrückt? Bestimmt hatte ich wieder zu wenig Wasser getrunken. Mit der rechten Hand tastete ich in meiner Tasche nach der Sonnenbrille, während ich mich mit der linken vor der extremen Helligkeit zu schützen versuchte. Dann wurde es wieder angenehmer, als hätte jemand das Licht gedimmt. Nur das Rauschen in meinem Kopf blieb, wenn auch gemindert, als permanenter Hintergrundton bestehen. Ich hob meine Hand mit der ausgeklappten Sonnenbrille Richtung Augen, ließ sie aber im selben Moment wieder sinken.

      Wie paralysiert verharrte ich in dieser Haltung; meine Augen hatten etwas entdeckt, das mich augenblicklich in eine schon vertraute Starre versetzte. Über viele Meter entfernt, am Rande des Weges, wo die Rollerskater mit fließenden Bewegungen entlanggefegt waren, stand der Junge aus der U-Bahn. Ein fast unerträgliches Hochgefühl drohte meinen Körper zu sprengen. So viele Zufälle gibt es doch gar nicht, dachte ich aufgewühlt. War er mir gefolgt? Nein, unmöglich. Ich hatte ihn im Zug davonfahren gesehen. Selbst wenn er an der nächsten Station ausgestiegen war, hätte er mich nicht wiederfinden können. Oder doch? Mein Herz klopfte wild bis zum Hals. Die unterschwellige, schmerzvolle Hoffnungslosigkeit der vergangenen Stunden löste sich auf. Unbändige Freude stieg in mir auf. Dreimal. Und das in einer Riesenstadt. Ich sollte ihn wiedertreffen. Das war ein Zeichen.

      Ich hatte seinen wunderschönen Anblick inzwischen offenbar schon etwas verarbeitet, denn immerhin gelang es mir jetzt, zu atmen. Wieder schaute er zu mir herüber, aber diesmal lächelte er nicht. Er sah irgendwie traurig aus, seine Schultern hingen kraftlos herunter, die Jacke hatte er um die Hüften geschlungen.

      Ja, es musste Schicksal sein, ich war bereit, daran zu glauben. Und diesmal würde ich es besser machen. Was sollte schon passieren? Entweder bekäme ich einen Korb oder eine Telefonnummer. Ich nahm all meinen Mut zusammen und machte den ersten Schritt auf ihn zu.

      Er kam mir zuvor. Ohne den Blick abzuwenden, setzte er sich langsam in Bewegung, um den Weg zu überqueren. Er wirkte fast apathisch, als er mehrere seinen Weg kreuzende Jogger und eine herannahende von einem großen weißen Pferd gezogen Kutsche abwartete.

      Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Ich erschrak fürchterlich, genau wie das Kutschpferd. In wilder Panik stieg es vor dem Jungen hoch und traf ihn mit dem wild schlagenden Vorderhuf am Kopf, sodass er zu Boden geschmettert wurde. Ich hielt die Luft an und ein Schrei erstickte in meiner Kehle. Das Pferd galoppierte mit lautem Getrampel davon, im Schlepptau die Kutsche, mit einem kreischenden asiatischen Pärchen besetzt, das vor Angst in den Fußraum gerutscht war, da ein Abspringen unmöglich war. Es gelang dem Kutscher erst nach einer langen Strecke, das durchgedrehte Pferd wieder unter Kontrolle zu bringen.

      Mein Blick blieb wie gelähmt auf dem Körper am Boden haften. Leute schrien wild durcheinander, Frauen schlugen ihre Hände vor das Gesicht. Reglos lag der eben noch so präsente, gesunde, junge Körper des schönen Fremden auf dem grauen Asphalt. Ich war nicht in der Lage, sofort zu reagieren. Zu groß war der Schock. Auch schien alles in Sekundenschnelle zu passieren, was eine Reaktion nahezu unmöglich machte.

      Fast zeitgleich hatte sich auf Höhe der am Weg stehenden Parkbank ein Tumult entwickelt. Zwei Männer packten eine verwirrt aussehende Frau und hielten sie an beiden Armen fest. Sie entrissen ihr irgendwelche stabähnlichen Teile und schrien auf sie ein. Offenbar hatte sie mit diesen Dingern diesen Wahnsinnsknall erzeugt, der wahrscheinlich den Tauben gelten sollte, denn sie hörte nicht auf, nach ihnen zu treten, sobald eine nur in die Nähe kam. Die ist ja völlig irre, dachte ich, am ganzen Körper zitternd. Über einer weit ausgestellten blauen Jogginghose trug sie ein geblümtes, kittelartiges Kleid. Ihre fast weißen Haare fielen ihr ungekämmt ins Gesicht und die ganze Zeit über hielt sie den Mund weit geöffnet, ohne einen Laut von sich zu geben.

      Als ich mich aus meiner Starre zu lösen versuchte, um zu dem verunglückten Jungen zu laufen, schoben sich in Windeseile aus dem Nichts aufgetauchte Gaffer in mein Blickfeld und bildeten eine Art Festung aus Körpern. Nun geschah alles wie im Zeitraffer. Die Männer zerrten die alte Frau in Richtung eines eintreffenden Streifenwagens. Fast zeitgleich kam der Rettungswagen an. Der Wall der Körper lichtete sich schwerfällig für eine schmale Gasse, als die Rettungssanitäter heraneilten. So konnte ich noch einen kurzen Blick auf den leblos daliegenden Körper werfen, bevor sich jemand über ihn beugte, um Erste Hilfe zu leisten. Ich empfand einen immensen Schmerz. Ich kannte ihn doch eigentlich gar nicht und doch war es so, als hätte man mir gerade das Herz bei lebendigem Leibe aus dem Körper gerissen.

      Die Blicke der Sanitäter waren gehetzt und besorgt und gaben mir nicht den gewünschten Funken Hoffnung, dass er vielleicht noch einmal Glück gehabt hatte. Ich war bis ins Mark erschüttert, stand einfach nur da, wie in Trance. Alles kam mir so unwirklich vor, als würde es sich nur auf einer großen Leinwand vor mir abspielen. Als ich sah, wie der Rettungswagen davonbrauste, durchzuckte es mich plötzlich wie ein Blitz. Ich war schuld! Ich hatte sein Schicksal besiegelt. Hätte ich ihn nicht angestarrt und hätte es somit diesen magischen Blickkontakt, der für mich eindeutig eine gewisse Art von Beziehung hergestellt hatte, nicht gegeben, wäre er wahrscheinlich nicht in meine Richtung gegangen und das panische Pferd hätte ihn demzufolge auch nicht erwischt. Mir war hundeelend zumute. Ich hätte mich am liebsten auf der Stelle nach Hause gebeamt. Wie zur Salzsäule erstarrt stand ich immer noch auf derselben Stelle, unfähig, mich fortzubewegen. Eine hilflose Leere breitete sich in meinem Körper aus und eine nie gekannte Sehnsucht nach etwas, das ich verloren hatte. Auch wenn ich es nie besessen hatte. Das Blut pochte hinter meiner Stirn. Ich legte meine Finger an die Schläfen und hielt mit gesenktem Blick eine Weile meinen Kopf.

      Das Sonnenlicht wurde wieder zu angenehm goldenen Strahlen und der dumpfe Brummton verschwand. Ich strich mit dem Handrücken über meine feuchte Stirn und sah mich verwirrt um.

      »So, ich bin bereit. Lass uns die Hufen schwingen, Val!«, flötete Charlie hinter mir. »Val? Hey! Halloho, auf welchem Planeten sind wir denn jetzt gerade mal wieder?«

      Ihre gute Laune stand in so krassem Gegensatz zu dem eben Erlebten, dass ich zu zittern begann. Ich hob wie abwehrend die Hände und drehte mich sehr langsam zu ihr um. Ich stand noch immer unter Schock. Die Hufen schwingen, wiederholte ich in Gedanken und ein bitteres Lächeln zeichnete sich auf meinem Gesicht ab.

      »Val, du bist ja käseweiß im Gesicht. Was ist denn passiert?«, rief Charlie, sprang auf mich zu und packte meine Hände. »Sag doch was. Was ist los? Bist du überfallen worden?« Sie tastete mit weit aufgerissenen Augen meine Arme ab, als suchte sie nach irgendwelchen Spuren von Gewalt.

      »Es gab gerade einen fürchterlichen Unfall«, stammelte ich tonlos.

      »Bist du verletzt?«, rief Charlie entsetzt.

      »Nein, nicht ich. Er.«

      »Wie bitte?« Ihr Blick verriet totales Unverständnis.

      »Da hinten, wo der Menschenauflauf ist, da hat es gerade einen fürchterlichen Unfall gegeben«, sagte ich leise und deutete schwach in die Richtung der Tragödie,


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