Parkour. Herbert Lipsky
hatte.
Er rief seinen Vater in Paris an und erzählte ihm die ganze Geschichte. Sein Vater war Franzose, Journalist. Er hatte sein ganzes Leben in Ländern verbracht, in denen Unruhen und Kriege Alltag waren, hatte aus erster Hand über Mord und Totschlag berichtet und war mehr als einmal in Gefahr gewesen. Er war in Gefängnissen gesessen, und im Nahen Osten hatte man ihn sogar einmal gefoltert.
Sein Vater riet ihm: „Bleib bei deiner Geschichte, man wird sie dir glauben. Du hast sehr umsichtig gehandelt. Ich finde es in Ordnung, dass du sofort abgedrückt hast. Ich habe neben mir Polizisten sterben gesehen, die Warnschüsse abgegeben haben. Apropos, wie geht es deiner Mutter?“
„Sie hat derzeit eine Gastprofessur in Deutschland. Wir haben vor zwei Tagen telefoniert. Es geht ihr gut.“
Sie plauderten noch ein wenig und verabschiedeten sich dann. Er hatte das Gefühl, sein Vater wollte ihm noch etwas sagen, tat es aber nicht. Lukas fühlte auch jetzt als Erwachsener noch immer das Bedürfnis, seinem Vater Rechenschaft über sein Handeln zu geben. Fast seine ganze Jugend hatte er bei ihm in Paris verbracht, eigentlich bei seiner Haushälterin, die für ihn sorgte, während sein Vater herumreiste. Nie hatte er gegen seinen Vater rebelliert, er war für ihn stets ein Freund gewesen. Seine Mutter, eine Wienerin, hatte er als Kind und Halbwüchsiger nur in den Ferien gesehen, die er mit ihr in Wien und am Attersee verbracht hatte, wo sie ein Haus besaß.
Bei Tageslicht schienen ihm die Ereignisse der letzten Nacht unwirklich. Die Kletterei war für ihn eine sportliche Angelegenheit gewesen, doch das Schreien der Frau hatte bei ihm eine Kette von Reaktionen ausgelöst, über die er keine Herrschaft gehabt hatte, sie waren automatisch abgelaufen. Hätte er den Kriminellen auch erschossen? Er war sich nicht sicher. Er war für ihn ein Ziel gewesen, wie auf dem Schießstand, wo man ihm beigebracht hatte, auf die Beine zu zielen. Nein, erschossen hätte er ihn nicht.
Um Punkt vierzehn Uhr traf er in der Gartenstraße ein. Vor dem Haus standen mehrere Polizeiautos. Er stieg in den dritten Stock hinauf. Außer der Gruppeninspektorin kannte er keine der Personen, die anwesend waren. Ältere Polizisten in Zivil mit ernsten Gesichtern. Er wurde aufgefordert, den Ablauf seiner Aktion zu schildern. Sein Bericht über die Klettertour und den Sprung auf den Balkon rief Erstaunen hervor. Ungläubig blickten alle in die Tiefe.
„Er betreibt die Sportart Parkour, da klettert man auf Gebäude und springt in die Tiefe. Er ist eine Art Fassadenkletterer“, erklärte Frau Gruppeninspektor Bauer.
„Ich habe gegen den Befehl gehandelt, aber als die Frau geschrien hat, war mein Impuls zu helfen so stark, dass ich etwas unternehmen musste. Ich sprang wie in Trance. Alles andere, die Schüsse waren Selbsterhaltung. Es ging alles so schnell.“
Lukas zeigte, wie er gelandet, wie er eingedrungen war, wo die Frau gelegen hatte und wo der Verbrecher gestanden war. Er habe ihn vorschriftsmäßig aufgefordert, die Hände zu heben, aber Kabakow habe sofort zu seiner Waffe gegriffen und geschossen.
„Haben Sie sich danach um den Verbrecher gekümmert?“
„Ich habe gesehen, dass er lebt, und habe ihn nach Waffen abgetastet. Sein Zustand hatte für mich keine Priorität.“
Er musste die Geschichte wiederholen, Fotos wurden gemacht, Winkel ausgemessen, und die Sachverständigen nickten. Er wollte schon gehen, als die Inspektorin zu ihm sagte: „Warten Sie unten auf mich, ich habe mit Ihnen noch eine Kleinigkeit zu besprechen.“
Er musste über zehn Minuten warten, bis sie endlich kam. Erst jetzt sah er, dass sie eine durchaus attraktive Frau war. Sie war etwa gleich groß wie er, hatte kurzes dunkelblondes Haar, ein breites Gesicht, schöne Zähne, volle Lippen und eine sportliche Figur. Gestern hatte sie eine Hose und eine Lederjacke angehabt, heute trug sie ein anliegendes schwarzes Kostüm, dessen Rock nur knapp bis zu den Knien reichte. Die Füße steckten in flachen schwarzen Schuhen, sie bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, wie große Raubkatzen sie haben. Mit hohen Absätzen würde sie ihn überragen. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, vielleicht fünfunddreißig.
„Du bist mit dem Auto da?“
Er bejahte und ging mit ihr zu seinem VW Golf.
„Wir müssen uns ein wenig besser kennenlernen. Es sind noch einige Dinge zu klären.“
Lukas schwieg.
„Wo wohnst du?“
„In Grinzing.“
„Das ist gut, glücklicherweise wohne ich in Neustift. Fahren wir zu dir. Du kannst mich nach unserem Gespräch bei mir absetzen.“
Lukas fuhr schweigend in den Norden der Stadt.
„Lukas Bernard, das ist doch kein österreichischer Name?“
„Mein Vater ist Franzose.“
„Ich habe deine Personalakte studiert. Sie ist noch sehr schmal.“
„Ich bin erst seit etwa einem Jahr bei der Polizei.“
„Warum willst du Polizist werden, du hast doch Jus studiert?“
„Darüber möchte ich nicht sprechen.“
„Gut, und warum bist du in Wien?“
„Meine Mutter ist Wienerin, ich habe auch hier studiert, übrigens lebe ich mit ihr zusammen.“
Sie fuhren durch Grinzing, Lukas blieb auf der Straße, die zum Kahlenberg führte, stehen. Er zeigte auf eine Jugendstilvilla, die hundert Meter entfernt in erhöhter Lage stand.
„Hier wohne ich. Kommen Sie mit hinauf?“
„Das ist eine herrliche Villa. Ich kenne sie vom Vorbeifahren, ich habe mich oft gefragt, welchem Millionär sie gehört.“
Er betätigte die Fernbedienung, das schmiedeeiserne Einfahrtstor sprang auf, und sie fuhren eine breite gekieste Auffahrt hinauf. Er sperrte eine große, mit Jugendstilornamenten verzierte Tür auf und betätigte die Knöpfe einer Alarmanlage. Sie befanden sich in einer riesigen Diele. Rechts führte eine Treppe ins Obergeschoß.
„Da oben wohne ich.“
Sie stiegen die breite Treppe hinauf. Er öffnete eine weitere Tür, ging in ein großes Wohnzimmer voraus und bat sie, auf einem großen geblümten Sofa Platz zu nehmen. Neugierig sah Lara sich um. Lukas war in die Küche gegangen und kam mit zwei Espressi zurück. Er stellte sie auf ein Tischchen und setzte sich zu ihr.
„Zunächst möchte ich einiges zum gestrigen Abend sagen. Den ganzen Hergang, so wie du ihn erzählst, den glaube ich dir nicht.“
Lukas sagte kein Wort.
„Ich glaube, dass du Kabakow sofort und ohne Warnung angeschossen hast. Er ist ein gefährlicher Bursche und wahrscheinlich ein so geübter Schütze, dass er dich nicht verfehlt hätte, oder zumindest wären seine Kugeln näher an der Stelle in der Wand eingeschlagen, wo du angeblich gestanden bist. Ich habe ein gutes Gehör, und mir schien, als ob es zwei Doppelschüsse gegeben hätte. Das war kein normaler Schusswechsel. Okay, du hast ihn nur verletzt, also wird es keinen Stunk geben. Er wird natürlich eine andere Version abgeben, und zwar die richtige. Ich werde im Protokoll deine Version unterstützen. Du hast sehr kaltblütig reagiert, auch im Verwischen deiner Spuren, das ist erstaunlich für dein Alter. Wenn du solche Dinge in Zukunft nicht mehr machst, hast du das Zeug, ein guter Polizist zu werden. Denn wir müssen uns immer im Rahmen des Legalen bewegen. Welche Karriere schwebt dir vor?“
„Ich denke daran, mich für die WEGA zu bewerben.“
„Die könnten dich gut gebrauchen. Weißt du etwas von mir?“
„Mein Kollege hat mir gesagt, dass Sie bei der Sitte arbeiten und knallhart sind. Auch dass Sie gute Beziehungen nach oben haben. Sie haben auch einen Spitznamen – die Russin.“
„Ich weiß, was man so alles spricht. Ich mach dir einen Vorschlag, den du dir überlegen solltest: Komm zu mir. Dieses Schwein von einem Zuhälter, das du angeschossen hast, hat vor ein paar Tagen einen Mitarbeiter von mir erwischt. Der fällt nun für längere Zeit aus. Ich könnte