Parkour. Herbert Lipsky

Parkour - Herbert Lipsky


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ausgesagt habe, dass man ohne Warnung aus der Dunkelheit auf ihn geschossen habe. Ein bekannter Rechtsanwalt habe seine Verteidigung übernommen.

      „Wie geht es der verletzten Frau?“

      „Sie ist über den Berg, aber noch immer im Spital, sie hat ein Schädelhirntrauma erlitten. Die Ärzte haben eine Fissur am Knochen festgestellt, so heftig hat ihr der Kerl mit dem Pistolenlauf auf den Kopf geschlagen. Ich habe sie gestern besucht, sie ist ansprechbar, aber sie kann sich kaum an etwas erinnern. Wahrscheinlich will sie auch nicht, weil sie Angst hat. Sie ist eben eine Prostituierte, die in Abhängigkeit lebt.“

      „Sehen wir uns einmal?“, fragte Lukas. Er wusste noch immer nicht, ob er sie duzen oder siezen sollte.

      „Wenn du Zeit hast, komme ich am Samstagnachmittag zu dir.“

      „Ich freue mich und werde uns etwas Gutes zubereiten.“

      Der Samstag war schön, die Sonne schien, es würde ein warmer Frühsommertag werden. Als er am frühen Vormittag von seinen Einkäufen zurückkam, rief sie ihn erneut an und fragte, ob sie schon zu Mittag kommen könne.

      „Kein Problem, aber dann gibt es nichts Besonders zum Essen.“

      „Dummkopf, ich esse zwar gern, aber ich komme wegen dir.“

      Um Punkt zwölf hupte es unten auf der Straße. Er empfing sie an der Haustür. Sie sah gesund und strahlend jung aus. Heute trug sie ein Kleid, in dem sie sehr feminin wirkte. Sie umarmte ihn fest. Sie setzten sich auf die Terrasse unter einen Sonnenschirm, wo bereits der Tisch gedeckt war. Er stellte ein Glas Weißwein und eine Karaffe Wasser vor sie hin.

      „Ich hatte beruflich eine scheußliche Woche und habe mich die ganze Zeit nur auf diesen Nachmittag gefreut.“

      „Nur den Nachmittag?“

      „Leider, denn um zehn Uhr muss ich zum Flughafen, um meine Tochter abzuholen.“

      „Es wird Zeit, dass ich etwas über dich erfahre. Alles, was ich von dir weiß, ist, dass du Lara heißt und tatsächlich ein halbe Russin bist.“

      „Aha, du hast schon Erkundigungen eingezogen. Meine Mutter ist tatsächlich Russin. Ihre Lebensgeschichte ist die einer romantischen Liebe aus der Zeit des Eisernen Vorhangs. Sie kam 1969 mit der russischen Judoauswahl in den Westen, genau gesagt zur Europameisterschaft nach Ostende. Damals herrschte in Russland noch der schreckliche Breschnew. Sie errang in Ostende eine Bronzemedaille. Mein Vater war auch dort, aber nicht als Sportler, sondern als Funktionär des österreichischen Judoverbandes. Sie lernten sich kennen, es war Liebe auf den ersten Blick, von damals bis zum heutigen Tag. Sie ging zunächst nach Russland zurück. Mein Vater besuchte sie kurz danach in Moskau. Durch die guten Beziehungen, die Kreisky damals zur Sowjetunion hatte, gelang es meinem Vater, sie in Moskau zu heiraten und mit ihr auszureisen. Die Familie meines Vaters ist sozialistisch, und wie du weißt, haben die Roten in Wien das Sagen. Seine Parteifreunde haben den beiden sehr geholfen. Ich wurde bald nach der Hochzeit geboren. Mein Name Lara, unter dem ich offen gesagt ziemlich leide, stammt aus dem unsäglichen Film Dr. Schiwago.“

      „Mir gefällt Lara. Gibst du auch etwas aus deinem eigenen Leben preis?“

      Sie trank einen Schluck Wein und dann einen Schluck Wasser.

      „Mein Leben ist nicht so glatt und harmonisch verlaufen wie das meiner Eltern. Ich wollte es meiner Mutter gleichtun, also begann ich mit Judo. Sie trainierte mich, und ich wurde immerhin Jugendstaatsmeisterin. Dann kam der erste Freund, und Judo interessierte mich nicht mehr. Nach der Matura studierte ich Slawistik. Meine Mutter hat mich zweisprachig erzogen, und so fiel mir das Studium leicht. Ich war auch immer wieder bei meinen Verwandten in Moskau. Im vierten Semester begann ich ein Verhältnis mit einem meiner Professoren. Ich bewunderte ihn maßlos, und er nützte meine Naivität aus und verführte mich im wahrsten Sinn des Wortes. Er war über fünfzig, verheiratet und hatte zwei Kinder, die bereits älter waren als ich. Mit dem Versprechen, sich von seiner Frau zu trennen, konnte er mich eine Zeit lang hinhalten, dann wurde ich unerwartet schwanger. Sein Interesse an mir ließ plötzlich nach, er wollte von mir, dass ich abtreibe. Er gab mir Adressen und bot mir Geld an. Ich habe ein enges Verhältnis zu meinen Eltern und erzählte ihnen damals alles. Sie redeten mir zu, das Kind zu bekommen, sagten, dass sie sich über ein Enkelkind freuen würden. Es war ein Entschluss, den ich längst gefasst hatte, ich bekam Irina, sie ist ein wunderbares Kind. Für sie würde ich alles tun.“

      „Was hat dein Professor dazu gesagt?“

      „Während meiner Schwangerschaft versuchte ich mehrmals, ihn zu erreichen. Er hat sich nie mehr gemeldet, wahrscheinlich dachte er, die Schwierigkeiten hätten sich von selbst gelöst. Als Irina ein Jahr alt war, fuhr ich an einem Sonntag mit ihr zu seiner Villa in der Peter-Jordan-Straße, in der ich schon vorher einige Male gewesen war, um mit ihm zu schlafen, und läutete am Gartentor. Irina trug ich auf dem Arm. Eine Frau, einige Jahre älter als ich, kam und fragte mich, was ich wolle. Ich sagte, ich sei eine Studentin des Herrn Professor und müsse ihn dringend sprechen. Sie zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, ließ mich aber ein. Im Garten kletterte ein kleiner Bub auf einem Baum herum. Hinter dem Haus saß unter einer Pergola eine kleine Gesellschaft beim Kaffee, eine bürgerliche Idylle. Als der Professor mich sah, wurde er leichenblass und stand auf.

      Ich grüßte, vollständig entspannt, und sagte gut erzogen: ,Entschuldigen Sie, dass ich so unangemeldet hereinplatze, aber ich möchte Ihnen ein neues Familienmitglied vorstellen.‘

      Dabei hielt ich Irina in die Höhe. Ich hatte die vollständige Aufmerksamkeit aller. ,Das ist Irina, die Tochter des Herrn Professor, und ich bin Lara, eine ehemalige Studentin von ihm.‘

      Er blieb wie erstarrt stehen, der sonst so redegewandte Professor, brachte keinen Laut heraus, rang nach Luft. Die Schuld war ihm anzusehen, nicht nur sein Gesicht, auch sein Körper hatte eine gebrochene Haltung angenommen. Eine elegante Dame, wahrscheinlich seine Frau, sprang auf und rannte schluchzend ins Haus.

      Ich sagte zur Kleinen: ,Schau, da ist dein Papa‘, und zeigt auf ihn. Sie schenkte ihm tatsächlich ein Lächeln. Dann drehte ich mich um und verließ die illustre Runde. Die junge Frau, die mich hereingelassen hatte, begleitete mich zum Tor. Ich konnte nicht anders, ich musste lachen, und sie lachte mit: ,Das war doch wie in einem Theaterstück von Schnitzler.‘ Sie tätschelte Irinas Wange und sagte: ,Du bist vielleicht eine süße kleine Schwester! Es war nett, dich kennenzulernen.‘ Zu mir sagte sie: ,Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Wenn es Probleme gibt, wenden Sie sich an mich. Hoffentlich schröpfen Sie den alten Gauner ordentlich. Ich würde gerne mit Ihnen in Verbindung bleiben.“

      „Und, ist eine Verbindung zustande gekommen?“, fragte Lukas.

      „Nein, ich habe mich nie gemeldet. Sie versuchte zwar mehrmals, mit mir Kontakt aufzunehmen, doch ich wollte mit der Familie nichts mehr zu tun haben. Unser Anwalt hat sich mit den legistischen Problemen befasst. Der Herr Professor hat die Vaterschaft bestätigt und zahlt angemessen, bis Irina ihr Studium vollendet hat. Auch ihren Pflichtteil vom Erbe wird sie bekommen.“

      Lukas war es, als ob er die ganze Geschichte schon einmal gehört hätte. Unsinn, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte er irgendwo eine ähnliche Geschichte gelesen.

      „Du bist eine beachtenswerte Frau.“ Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. „Jetzt gibt es was zu essen, und nach dem Essen erzählst du mir noch etwas von dir.“

      Er verschwand in der Küche und kam mit einer Schüssel zurück.

      „Es gibt Boeuf Bourgignon mit Knödeln aus dem Tiefkühlschrank, aber alles selbst gemacht. Dazu aber keinen Burgunder, sondern ein Bier.“

      Beide aßen die französisch-österreichische Kombination mit großem Appetit. Danach räumte er das Geschirr ab, sie legten sich in die Liegestühle und schlossen behaglich die Augen. Die Sonne schien, und beide reckten ihr die Gesichter entgegen. Sie dösten etwa eine Stunde, dann stand Lukas auf und brachte den Kaffee.

      „Ich bin gespannt auf die Fortsetzung.“

      „Meine Lebensbeichte also. Ich weiß nicht, warum ich dir das alles erzähle, aber sei’s drum.


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