Parkour. Herbert Lipsky

Parkour - Herbert Lipsky


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dass eine Falle lauern könnte. Trag bei Einsätzen im Außendienst eine schusssichere Weste, auch wenn es zurzeit sehr warm ist.“

      „Und wie lange?“

      „Kann ich dir nicht sagen, vielleicht beruhigt sich Kabakow. Sollte es wirklich zu einem Angriff auf dich kommen, werden wir ihn massiv unter Druck setzen. Einzelhaft, verschärfte allgemeine Haftbedingungen und eine Erhöhung des Strafausmaßes. Jedenfalls: Geh nur mit erfahrenen Partnern auf Streife. Besprich das auch mit deinem Kommandanten.“

      „Ich fahre in zwei Wochen nach Paris, mein Vater und Marie heiraten.“

      „Wunderbar, sei aber vorsichtig bis dahin. Wenn du zurückkommst, ist die Gefahr vielleicht schon vorbei. Vielleicht kommt Kabakow zur Besinnung.“

      Die Hochzeit

      Die zwei Wochen vergingen ohne Zwischenfälle. Paris empfing Lukas mit herrlichem Wetter, die Bäume blühten, die Boulevards waren voller Menschen, und er genoss es, wieder hier zu sein. Er rannte die Treppen zur Wohnung seines Vaters hinauf und läutete stürmisch. Marie öffnete ihm. Sie umarmte ihn, und ihr kamen die Tränen.

      „Mon chou, mon petit chou. Maintenant tu es devenu un homme.“

      Auch Lukas bekam feuchte Augen. Diese Frau war seine eigentliche Mutter, sie hatte ihn in seiner Kindheit getröstet, seine aufgeschlagenen Knie versorgt, ihm aus Büchern vorgelesen und ihm Wärme und Geborgenheit gegeben. Die vielen Geschichten, die sie ihm erzählt hatte, hatte er bewahrt und würde sie seinen Kindern weitergeben. Bei aller Wertschätzung und Liebe, die er heute seiner leiblichen Mutter gegenüber hegte, war ihm Marie mehr, sie war ihm näher, vertrauter. Zwischen seiner Mutter und ihm herrschte immer eine kleine, aber unüberbrückbare Distanz. Auch wenn sie sich umarmten. Sie war durchaus keine kaltherzige Frau oder Egoistin, das wusste er jetzt, wo er mit ihr unter einem Dach wohnte. Aber sie lebten beide ein getrenntes Leben, obwohl sie mindesten einmal pro Woche zusammen speisten, wenn sie in Wien war. Sie stellte ihm ihre Freunde vor, und er nahm an ihren, wie er es nannte, intellektuellen Abenden teil. Er hatte ihr viel zu verdanken. Sie hatte dafür gesorgt, dass er die richtigen Bücher in die Hand bekommen hatte, ins Theater ging und Konzerte besuchte. Er verdankte ihr seine österreichische Identität.

      Sein Vater kam ihm mit offenen Armen entgegen, sie hatten sich seit mehr als einem Jahr nicht gesehen. Er war kaum älter geworden, sein Haar vielleicht eine Spur grauer, aber sein Gang und seine Bewegungen zeigten, dass er noch immer fit war. Auch in seinen Augen schimmerten Tränen.

      Den folgenden Tag verbrachte er mit seinem Vater. Sie gingen am Montmartre spazieren, saßen in kleinen Bistros in St. Germain des Prés. Sie erzählten sich, was in der Zwischenzeit passiert war und was sie in Zukunft machen wollten. Ihr Verhältnis war immer sehr eng gewesen, eher wie zwei Freunde als Vater und Sohn.

      Am nächsten Tag fuhren sie in den Westen der Stadt, in den Bois de Boulogne, der mit einer Größe von fast neun Quadratkilometern einer der größten Stadtparks der Welt ist. Sie wollten ein wenig Parkour trainieren. Sie begannen mit Dehnungsübungen. Liefen eine lockere Runde, bis sie ausreichend aufgewärmt waren. Balancierten auf Mauern und Stangen, um ihr Gleichgewichtsgefühl zu trainieren. Übten nach höheren Sprüngen verschiedene Landetechniken und die Roulade, die Rolle über die Schulter, eine der wichtigsten Bewegungen beim Parkour. Dann folgten Passe muraille, die Überwindung einer Mauer, Armsprünge und Tic-Tacs. Sie stießen sich zwischen eng stehenden Mauern abwechselnd links und rechts ab, um an Höhe zu gewinnen, und landeten mit einem Präzisionssprung wieder auf dem Boden.

      Lukas war erstaunt, wie beweglich sein Vater noch war. Nur bei Fallübungen hielt er sich zurück, meinte, er wolle seine Kniegelenke schonen. Zum Abschluss liefen sie noch eine Runde und beendeten das Training mit Stretching. Lukas machte seinem Vater über seinen physischen Zustand Komplimente. Dieser gab ihm die Komplimente zurück und ließ sich von ihm detailliert erzählen, wie er bei dem Einsatz in Wien die Hausfassade überwunden hatte.

      Die Hochzeit fand in einem kleinen Schloss in Fontainebleau statt. Viele Freunde des Paares waren gekommen. Auch jüngere Leute in Lukas’ Alter waren dabei. Es machte ihm Spaß, wieder in sein französisches Leben einzutauchen, er unterhielt sich blendend und erneuerte halb vergessene Bekanntschaften. Alle waren erstaunt, als sie hörten, dass er ein Flic geworden war.

      An der Hochzeitstafel saß Lukas neben Marie, an seiner anderen Seite eine arrogant wirkende, sehr schöne Dame, die die Runde mit überlegen wirkenden Blicken bedachte. Sie wurde ihm als eine entfernte Verwandte von Marie vorgestellt und erinnerte ihn ein wenig an Catherine Deneuve. Höflich wandte er sich ihr zu und versuchte, Konversation zu machen, wurde aber mit einigen glatten Redewendungen abgespeist. So sprach er mit den ihm gegenübersitzenden Gästen, einem gut genährten, lustigen Ehepaar, das ebenfalls mit Marie verwandt zu sein schien. Man trank sich eifrig zu. Lukas war der Alkohol bereits ein wenig in den Kopf gestiegen. Plötzlich ritt ihn der Teufel, er ging auf die Bühne, nahm ein Mikrofon in die Hand und begann mit einer Rede. Er beschrieb das Leben seines Vaters, der als junger Student eine Studentenzeitung herausgegeben hatte, sein Rechtsstudium zwar erfolgreich beendet hatte, aber nie ein reicher Rechtsanwalt geworden war, weil er schon bei seinen ersten Klienten mit den Nöten seiner Mitmenschen in Berührung gekommen war. Der dann für ein Journal arbeitete und am Schreiben so Gefallen fand, dass er die Juristerei sein ließ. Der sich mit dem Chef seiner Zeitung zerstritt und als selbstständiger Journalist weitermachte und sein Leben in den Krisenregionen der Welt verbrachte. Diese Lebensbeschreibung wurde für sehr amüsant befunden, und die ganze Gesellschaft lachte mehrere Male.

      „Glücklicherweise kam er dabei auch einmal nach Wien, wo er meine Mutter kennenlernte. Sie war eine junge Frau aus bürgerlichem Hause, die bereits damals mit ihrer akademischen Karriere beschäftigt war und mit meinem Vater ein Verhältnis begann. Da beide von Verhütung offenbar noch nie etwas gehört hatten, geschah das Malheur, ich war plötzlich unterwegs. Quoi faire? Gott sei Dank ist Mutter katholisch, und mein Vater fand an der Vorstellung, ein Ebenbild zu haben, Gefallen, also freute man sich und bekam mich. Sie zeigten schon damals, was für moderne Menschen sie waren, denn sie zogen es vor, nicht zu heirateten. Was aber sollte man mit mir machen? Vater musste dringend immer wieder zu einem neuen Kriegsschauplatz, und Mutter wollte mich nicht in die Vorlesungen mitnehmen, so blieb ich zunächst bei meiner Wiener Großmutter. Vater erschien periodisch und hatte, wie man mir berichtete, große Freude mit mir. Er wollte mich aber unbedingt in Paris haben, und so suchte er eine Kinderfrau für mich, der inzwischen schon sechs Jahre alt geworden war. Er fand Marie, die wie Becassine aus der Bretagne gekommen war und mich wie ein eigenes Kind annahm. Sie war aber nicht so naiv wie Becassine und arrangierte sich bald mit den Lebensverhältnissen in La Capital. So kam es zu dem Arrangement, dass ich im Sommer zu Mutter nach Österreich fuhr, aber die ganze Schulzeit in Paris verbrachte. Marie verdanke ich unendlich viel, ich kann und will es an dieser Stelle nicht aufzählen. Ich freue mich wie keiner hier, dass die beiden mir am nahestehendsten Menschen zusammengefunden haben. Ich wünsche ihnen eine lange und glückliche Lebensgemeinschaft.“

      Lauter Applaus folgte, die beiden frischgebackenen Eheleute waren von seiner Ansprache gerührt und dankten ihm. Nach dem Essen wurde getanzt, und die Stimmung begann ausgelassen zu werden. Lukas trat auf die Terrasse und blickte in den Garten des Schlosses.

      „Sie sind ein Flic?“

      Er drehte sich um. Neben ihm stand eine elegante junge Frau mit aristokratischen Zügen. Sie hatte schwarzes Haar und dunkelblaue Augen.

      „Ich bin Charlotte, eine Nichte der Braut, auch eine Becassine. Ihre Ansprache hat mir gut gefallen. Wie lebt es sich in Wien?“

      „Wien ist so anders als Paris, es ist im Vergleich dazu eine Kleinstadt, die aber das hat, was vielen heutigen Großstädten fehlt – gewachsene Kultur und Identität. Wien hat sich einigermaßen erfolgreich gegen die gesichtslose Modernisierung gewehrt, die in anderen Met­ropolen erfolgt ist. Auf eine liebenswerte Art ist man borniert, damit meine ich, dass die Wiener glauben, dass alles, was sie brauchen, ohnehin innerhalb ihrer Stadtgrenzen zu finden sei. Damit gibt man sich zufrieden. Deswegen gilt der Wiener im übrigen Österreich als etwas überheblich, aber im Ausland ist er ein wenig unsicher, hat fast Komplexe, denn dort ist er gezwungen, sich mit anderen


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